Goran Mrakiç: Lakto-Bar

Die kurze Erzählung „Lakto-Bar“ von Goran Mrakiç in einer Übersetzung von Chris Kaiser. Spielt zwar zu Ostern, passt aber auch zu Weihnachten.


Vorbemerkung der Übersetzerin

Diese Geschichte fand ich auf meinem Besuch in Rumänien vor einem Jahr. Meine Familie und ich blieben ein paar Tage in Temeswar, im Westen des Landes, die Großstadt mit einer ethnisch diversen Bevölkerung, die 2023 Kulturhauptstadt war, die einen aus Deutschland stammenden Bürgermeister hat, ein kulturelles und intellektuelles Zentrum, in dem die rumänische Revolution vor 36 Jahren ihren Ursprung hatte.

Was ich nicht wusste – Schande über mich – die Stadt hat auch eine relevante ethnische Minderheit von Serben. So fiel mir dieses eine Buch ins Auge, weinrot, mit dem auffälligen Titel „Punk Requiem“ von einem Goran Mrakiç, unter der Rubrik: Temeswarer Dichter und Autoren. Ich musste es einfach kaufen, mein Rumänisch war gerade dabei, wieder zu erwachen, und somit düngte ich dieses zarte Pflänzchen mit diesem unerwarteten Fund.

Ich las im Hotel und ich las im Spaßbad auf der Liegewiese, Temeswar umhüllte mich, Temeswar floss durch dieses Buch in mein Innerstes hinein. Und ich lachte und ich weinte, ich fühlte, ich verstand. Aber ich konnte diese einsetzenden Emotionen nicht sofort mit jemandem teilen. Mein engster Vertrauter, mein Ehemann, kann kein Rumänisch. Also übersetzte ich für ihn eine der Geschichten.

Hier ist sie. Sie spielt nicht zu Weihnachten, aber sie spielt zu Ostern und passt meiner Meinung nach somit sehr gut auch hierher.

Goran Mrakiç: Lakto-Bar

aus: Punk Requiem von 2024

Samstag auf Sonntag, 26./27. April 1997

Nachdem wir den ganzen Abend trinkend im Studentenviertel verbracht hatten, blieben wir zuletzt ohne einen Cent in der Hosentasche, so dass wir dann gemächlich nach Hause schlenderten. Natürlich zu Fuß. Ich mit der Lederjacke, unter der man das Logo von Motörhead erkennen konnte, mein Nachbar mit einem T-Shirt mit The Exploited. Wir hatten nur eine einzige Zigarette, an der wir auf dem Weg wie die Landstreicher abwechselnd zogen. Wir gingen quer durch den Iustiției-Park und gingen entlang des Capitol-Kinos, das wir mit einem Anflug von Nostalgie musterten. Es hatte geschlossen, da ging nichts mehr. Damals, in unserer Kindheit, hatte es den Ruf, für Temeswar zu stehen. Wir verbrachten ganze Tage in seinen Vorführsälen. Vor ein paar Jahren hat auch die Lakto-Bar geschlossen, die mal die größte Attraktion auf dem Victoriei-Platz war. Ob wir aufgekratzt oder gedämpfter Stimmung waren, immer war es ein Kipfel zum Essen und einen Joghurt zum Trinken auf die Hand. Wir standen in der Schlange und erzählten uns, was in den Filmen passiert war.

„Die haben die Lakto-Bar geschlossen, verdammte Scheiße“, sagte Floruț, mein Nachbar, während er seine etwas zerschlissene Mütze auf dem Kopf zerknüllte.

Als wir am Vordertor der Kathedrale angekommen waren, war die Volksmenge, die aus dem Gotteshaus kam, dabei, sich zu zerstreuen. Alle hatten Kerzen in der Hand, es war die Nacht vor Ostern. Es schien mir so, als wären unglaublich viele Leute im Zentrum unterwegs. Familien, ganze Gruppen von alten Frauen in ihren Kopftüchern, jüngere Leute mit einem Glas gefüllt mit Wein in einer Hand und einer Kerze in der anderen, Männer in Parkas aus Leder und weißen Strümpfen in schwarzen Schuhen, volles Programm. Wir drückten uns durch diese Menge und langten schließlich bei der Uhr an der Oper an. Dort war die kritische Masse schon am Fermentieren, aus Ungeduld.

„Was passiert hier?“ fragte ich ungläubig.

„In dieser Nacht öffnet der erste McDonalds in Temeswar.“

Genau dort, wo früher die Lakto-Bar war.

Plötzlich öffneten die strahlenden Tore der Fast-Food-Kette, sie öffneten sich weit – und die Fluten strömten. Wir pressten uns an die Wand und waren nur noch hilflose Zuschauer dieses Ansturms. Die Menschen traten sich gegenseitig nieder, nur um hineinzugelangen. Fäuste, Ellenbogen, Heulen, Schreien, Flüche, Nötigungen, Drohungen, Kinder, die wie Rugby-Bälle getragen wurden, hysterische Frauen, Männer mit fast herausfallenden Augäpfeln, Gläubige mit Kerzen, noch brennende und schon ausgegangene, gerade aus dem Gottesdienst gekommen. Die Angestellten hatten Furcht in ihren Augen, als sie diese Horden sahen, die mit Anlauf den Raum einnahmen. Den ersten Kunden waren Rabatte versprochen worden. Als sie an die Theke rankamen, klebten sie einer am anderen und blickten mit aufgerissenen Augen die Verkäufer an.

„Was möchten Sie bestellen?“

Schweigen. Ein paar Momente war es Stille. Sie wussten nicht, was sie bestellen wollten, sie wussten nur, dass sie die ersten sein sollten oder wenigstens unter den Ersten. Plötzlich schrie ein Mann mit Verzweiflung in der Stimme:

„Hamburger, ich will zehn Hamburger. Hamburger! Und fünf Cheeseburger!“.

Das war das Zeichen, das den apokalyptischen Chor der atonalen Brüllerei entfesselte:

„Hamburger, wir wollen Hamburger!

„Ich will fünf!“

„Für mich drei!“

„Für mich vier! Mit Ketchup und Senf!“

„Hamburger!“, „Hamburger!“, „Hamburger!“

Einige Kinder brachen in Tränen aus, ihre Angstgeheul waren überall zu hören, sie wollten nicht in der Menge ersticken. Ein alter Mann schleuderte über den Köpfen der anderen seinen Jutebeutel herum. Zwei Frauen, deren Gesichter an die Scheiben gedrückt wurden, schrien: „Holt den Rettungswagen!“. Diejenigen, die sich auf die Stühle an den Tischen gesetzt hatten, wurden durch den Schwung der Menge mitgerissen. Und am Schluss tauchten sogar einige Gendarmen auf, die die Menge etwas beruhigen wollte.

Unsere alte Lakto-Bar ertrug still die Plünderungen der Verbraucherschaft der neuen Zeit. Und wir schauten von außen auf diese ausgehungerten Horden von Gemeindemitgliedern, die kamen, um das ewige Licht zu empfangen UND die Hamburger. HAMBURGER und Licht. Ketchup und Kerzenwachs. Senf und Weihrauch. Junge und Alte. Arme und Reiche. Strohkartoffeln und Liturgie. Wiederauferstehung und Tod.

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