Essen ohne Illusionen

Über Salat, Proteinpulver und den Big Mac als letzten Akt des Widerstands. Eine Blumenkohl-Kichererbsen-Auflauf-Kolumne von Henning Hirsch.

Essen ohne Illusionen ü60
Bilder alle von ChatGPT

„Deine Kolumne über Fitness war total depri“, sagt die alte Schulfreundin, „am Ende wollte ich mich umbringen.“
„Du hattest nen depri Text bestellt und hast einen depri Text bekommen“, antworte ich.
„Du musst doch nicht alles, was ich sage, buchstabengetreu verstehen.“
„Das höre ich heute zum ersten Mal von dir.“
„Manchmal ist es besser, die Botschaft zwischen den Zeilen zu erkennen. Aber das war noch nie deine Stärke. Du nimmst alles wortwörtlich, wie ein kleines Kind.“
„Okay, hab’s verstanden. Beim nächsten Mal achte ich auf die unausgesprochene Botschaft und mach’s weniger depri.“

„Du solltest den Text ein zweites Mal schreiben: positiver, mit heiterer Grundnote: Weshalb es auch für 60-jährige sinnvoll und wichtig ist, regelmäßig ins Sportstudio zu gehen. Zuzüglich ein paar altersgerechte Fitnesstipps. Sowas in der Art.“
„Ich schreibe doch nicht denselben Text 2x!!“
„Warum nicht?“
„Kein Kolumnist, der auf sich hält, tut das.“
„Kein anständiger Mensch wird Kolumnist. Zumindest keiner, den ich außer dir kenne. Das ist ein Beruf für Taugenichtse.“
„Hast du mir schon 100x gesagt.“

„Dann schreib was über Ernährung“, ruft die alte Schulfreundin aus der Küche.
„Davon habe ich NULL AHNUNG“, rufe vom Sofa aus zurück.
„Seit wann haben Kolumnisten Ahnung davon, worüber sie schreiben? Das wäre mir neu … dieses Mal könnte ich dich dabei unterstützen. Denn von Kochen & gesunder Ernährung habe ich VIEL AHNUNG.“
„Na gut, dann schreibe ich die nächste Kolumne über Ernährung. Warum nicht? Ist ein Thema wie jedes andere … zufrieden?“
„Das weiß ich erst, wenn ich den Entwurf gelesen habe. Mein Tipp: weniger depri, mehr hoffnungsvoll. Also nicht: egal, wie gesund wir uns ernähren, wir sterben sowieso. Stattdessen: Bewusstes Essen kann dein Leben bereichern und verlängern.“
„Ist das jetzt die Botschaft, oder gibt’s zusätzlich ne dahinter verborgene Message?“
„Das ist DIE Botschaft! … und erwähne unbedingt, dass ich 1x/Woche liebevoll für dich koche und dadurch vor dem ansonsten unweigerlich bald eintretenden Junk-Food-Tod bewahre.“

„Ich geh jetzt und setz mich zu Hause an den Text.“
„Tu das. Und nimm was vom Blumenkohl-Kichererbsen-Auflauf mit. Den kannst du morgen Mittag in der Mikrowelle aufwärmen: 6 Minuten bei 400 Watt. NICHT 600 Watt!! Schaffst du das?“
„Ich versuch’s.“

Früher war essen einfach

Und nun sitze ich am Schreibtisch und brüte darüber, was nicht allzu Depressives zum Thema „Ernährung im Alter“ zu Papier zu bringen. Hoffnungsvoll soll es sein. Heiter. Ernährung im Alter. Schon beim Tippen des Titels merke ich, wie mein Körper innerlich die Schultern hochzieht. Aber gut. Ich habe es versprochen. Und Versprechen sind im Alter ohnehin das Einzige, was man noch halbwegs einhält.

Früher war Essen einfach. Ich aß, was mir schmeckte, und hörte auf, sobald nichts mehr da war. Heute rühre ich Sachen wie Chiasamen und Kurkuma drunter, wenn ein schlauer Ökotrophologe in einem auf Senioren zugeschnittenen Ratgeber das gegen vorzeitige Demenz empfiehlt. Oder ich zwinge mir trockenen Blumenkohl-Kichererbsen-Auflauf rein, den mir die alte Schulfreundin verpackt in einer Tupperdose (die ich ihr unbedingt zurückbringen soll) in die Hand drückt und dabei so schaut, als hätte sie gerade einen Hund aus dem Tierheim gerettet.

Ernährung im Alter beginnt mit einer schmerzhaften Erkenntnis: Der Körper ist kein Verhandlungspartner mehr. Früher konnte ich ihn überreden. Mit Ausreden. Mit Sport am nächsten Tag. Mit guten Vorsätzen. Heute reagiert er sofort. Und zwar beleidigt. Auf Fett. Auf Zucker. Auf Alkohol. Auf alles, was früher ein halbwegs erträgliches Leben ausgemacht hat. Der Körper hat irgendwann beschlossen, ab jetzt ehrlich zu sein. Brutal ehrlich. Ohne Kulanz.

Dabei geht es gar nicht darum, ab sofort geregelten Stuhlgang zu haben und kein Sodbrennen mehr zu bekommen. Das funktioniert nur in der Werbung für kleine, sündhaft teure, Trinkjoghurts. Es geht vielmehr darum, nicht aktiv gegen sich selbst zu arbeiten. Ein Ziel, das mit zunehmenden Jahren immer ambitionierter wird. Man ersetzt Dinge. Nicht mutig. Nicht radikal. Sondern aufgrund altersbedingter Vorsicht und schrittweise. Weißbrot durch etwas, das aussieht wie Baustoff. Wurst durch veganen Aufstrich. Sahnesoße durch die Erinnerung daran, wie Sahnesoße geschmeckt hat.

Das Erstaunliche: Man gewöhnt sich schneller daran, als einem lieb ist. Nach drei Wochen schmeckt das Zeug nicht mehr schlecht, nur noch egal. Nach sechs Wochen verteidigt man es. Nach drei Monaten hört man sich Sätze sagen wie: „Eigentlich fehlt mir nichts.“ Spätestens dann sollte man kurz innehalten und prüfen, ob noch alles mit einem stimmt.

Warum Männer bei Junk Food schwachwerden

Missverstanden wird oft die männliche Liebe für Junk Food. Big Mac. Whopper. Chicken Wings. Döner. Pommes. Das ist keine Ernährung, das ist Identität. Der letzte akzeptierte Ort, an dem Männlichkeit noch fettig sein darf, laut, maßlos und ohne Rechtfertigung. Junk Food ist der Restbestand aus einer Zeit, in der niemand nach Inhaltsstoffen fragte und der Körper einfach mitmachte. Wer glaubt, man könne diese Beziehung einfach kündigen, versteht nichts. Ein Mann über 60 geht an einer Dönerbude nicht vorbei – er passiert sie mit Haltung. Kurz langsamer werdend. Blick geradeaus. Innere Verhandlung. Junk Food ist kein Laster, es ist das letzte Stück Unabhängigkeit. Wenn auch das wegfällt, bleibt nur noch Disziplin. Und Disziplin ist kein Ersatz für Würde.

Die Kapitulation kommt später. Still. Ohne Drama. Meist unterwegs. Ich fahre irgendwo im Niemandsland zwischen Köln-Süd und Bonn-Nord an einer Imbissbude vorbei, spontan hungrig aus einem Grund, den ich nicht exakt benennen kann, stoppe mit quietschenden Reifen, überfliege das Tagesangebot und bestelle. Nicht aus Lust, sondern aus Erschöpfung. Der Burger schmeckt nicht mehr wie früher, aber er beruhigt. Für zehn Minuten bin ich wieder jemand, der nicht optimiert werden muss. Danach geht es weiter. Mit Salat. Mit Vernunft. Mit dem Wissen, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist, sondern nur zu verwalten. Als ginge es darum, sich alles zu verbieten, um dafür Gevatter Tod ein paar zusätzliche Jahre abzuluchsen, in denen man dann weiter verzichtet. Verzicht, um Schadensbegrenzung zu betreiben. Ich esse nicht weniger gern. Ich esse vorsichtiger. Wie jemand, der weiß, dass der Boden rutschig ist.

Besonders abends. Wer abends schwer isst, schläft schlecht. Wer schlecht schläft, ist schlecht gelaunt. Wer schlecht gelaunt ist, trifft schlechte Entscheidungen. Zum Beispiel beim Frühstück. Ernährung ist im Alter weniger Genuss als Logistik. Wer das nicht versteht, verliert.

Routine als letztes Bollwerk

Superwichtig ist Regelmäßigkeit. Früher das Synonym für Spießertum. Heute das letzte Bollwerk gegen den vollständigen Zerfall. Der Körper mag Routine. Feste Zeiten. Keine Überraschungen. Keine kulinarischen Experimente nach 18 Uhr. Was früher Abenteuer war, ist heute ein medizinisches Risiko. Wobei „essen“ inzwischen ein dehnbarer Begriff ist. Es gibt Tage, die beginne und beende ich mit Proteinpulver. Verrührt in Magermilch und in einem Handshaker ordentlich geschüttelt. Oder Astronautennahrung in Tablettenform. Nicht, weil ich daran glaube, sondern weil ich dem ganzen Theater misstraue. Ich weiß, was drin ist, es ist schnell erledigt, und niemand versucht, mir dabei Lebensfreude unterzujubeln. Das ist keine Kapitulation. Es ist der Versuch, Essen auf das zu reduzieren, was es im Kern geworden ist: Wartung.

Gemüse spielt dabei seit einigen Jahren eine zentrale Rolle. Leider. Gemüse ist das, was man isst, damit alles andere noch eine Weile funktioniert. Es ist nicht aufregend, nicht sexy, nicht erinnerungswürdig. Aber zuverlässig. Wie ein Kollege, den man nie mochte, der aber seit 30 Jahren pünktlich ist. Blumenkohl zum Beispiel. Ich hätte nie gedacht, dass dieses staubtrockene Zeug einmal so viel Macht über mein Leben haben würde. Aber da ist er nun. Gedämpft. Gekocht. Wieder aufgewärmt. Und plötzlich nicht mehr der Feind, sondern Teil des Systems. Einer, der still seine Arbeit macht und keine Fragen stellt.

Ich esse langsamer. Nicht aus Achtsamkeit, sondern weil alles länger dauert. Der Körper braucht Zeit. Der Kopf auch. Wer langsam isst, merkt eher, wann es reicht. Früher aß ich, bis nichts mehr da war. Heute höre ich auf, bevor etwas eskaliert.

Zu zweit isst man gesünder (z.B. Blumenkohl)

Ernährung im Alter ist auch ein soziales Thema. Alleine isst man schlechter. Achtloser. Lustloser. Wenn jemand für einen kocht, isst man besser. Regelmäßiger. Und sagt Danke. Auch das gehört dazu. Dankbarkeit ist im Alter kein Gefühl mehr, sondern eine Technik.

Perfektion ist dabei keine Option. Niemand hält das durch. Es gibt Ausnahmen. Geburtstage. Feiern. Tage, an denen ich beschließe, dass es jetzt auch egal ist. Wer sich alles verbietet, scheitert. Wer sich gelegentlich selbst sabotiert, bleibt erstaunlich stabil.

Am Ende geht es bei Ernährung im Alter nicht darum, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Der hat Zeit. Es geht darum, die Strecke bis dahin halbwegs benutzbar zu halten. Mit möglichst wenig Schmerzen. Mit möglichst wenig Selbstbetrug.

Vielleicht ist das die eigentliche Botschaft zwischen den Zeilen: Hoffnung ist nichts Großes. Sie steckt im Alltag. Im Einkauf. Im Kochen. Im Aufwärmen von Blumenkohl bei exakt 400 Watt. Nicht 600.
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Ich lese den Text noch einmal final durch. Er macht nicht satt. Aber er passt. Mehr kann man im Alter weder von einem Essen, noch von einer Kolumne darüber, verlangen. Ob er der alten Schulfreundin gefallen wird? Wahrscheinlich nicht (v.a. weil ich sie zu wenig erwähnt habe) Aber die meckert eh gerne mit mir. Und im Anschluss tauschen wir die zurückgebrachte Tupperdose gegen was Neues, Supergesundes zum Aufwärmen aus.

PS. Wie ich das ab übermorgen mit der Weihnachtsvöllerei halten werde?

Keinen blassen Schimmer, aber trotzdem eine in diesem Zusammenhang legitime Frage.

Wahrscheinlich im Januar die Blumenkohl-Kichererbsen-Dosis spürbar erhöhen, bis die Waage wieder (deutlich) <90kg anzeigt.

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