Höflichkeit – Teil 1/3: Kulturelle Eigenheit

Was als höflich gilt, ist oft kulturell bestimmt. Gute Manieren, das richtige Verhalten, die passende Ansprache bis hin zu ritualisierten Benimmregeln bestimmen die Vorstellung davon. Die kulturellen Unterschiede funktionieren wie der Unterschied zwischen den Sprachen.

Höflichkeit Händeschütteln

Die Höflichkeit der Minbari

Mein Mann hat mich in die Serie Babylon 5 eingeführt, die ich nur wärmstens empfehlen kann. Abgesehen davon, dass sie eine komplexe und zusammenhängende Geschichte erzählte, anders als die damals in den 90ern übliche Aneinanderreihung mit einzelnen abgeschlossenen Handlungen einer mehr oder weniger konstanten Personengruppe, trug die Science-Fiction-Serie Babylon 5 philosophische Tiefe vor, mit nicht so trivialen ethischen Problemen und mit dreidimensionalen Figuren.

Eine Schlüsselszene, die mein Mann mir immer wieder mit Begeisterung erzählte, war der First Contact zwischen Menschen und Minbari, einerreligiösen, technisch weit überlegenen humanoiden Rasse. Infolge eines Missverständnisses dabei brach ein vernichtender Krieg aus, bei dem die Menschen fast ausgelöscht wurden. Die Minbari waren eine dominante Kultur, die nicht damit rechnete, dass ihre Gepflogenheiten und Begrüßungskultur der noch recht jungen irdischen Weltraumrasse unbekannt waren. So drehten alle in dem kleinen Konvoi von Minbari-Schiffen der menschlichen Flotte den Bug zu und öffneten ohne Funkkontakt die Bugklappen. Was von den Minbari best practice war, deutete der nervöse Flottenkapitän der Menschen als Vorbereitung zum Angriff und zerstörte die vermeintlichen Angreifer. Dabei kam der religiöse Führer der Minbari zu Tode, was diese als guten Grund sahen, in den heiligen Krieg mit den Menschen einzutreten.

Online-Siezen

Etwas weniger dramatisch, aber oft durch einen ähnlichen nervösen Übereifer beseelt sieht man wie in den heute etwas unsozialen Medien Missverständnisse zur Unversöhnlichkeit führen: Siezen oder Duzen. Wer wie ich in jungen Jahren in den späten 90ern im Internet und Chatgruppen unterwegs war, versteht das Gewese nicht, dass so mancher heute auf Facebook an den Tag legt, wenn man ihn oder sie mit derselben Selbstverständlichkeit wie damals duzt. Klar, im „realen Leben“ bin ich vielleicht ein bisschen vorsichtiger, und ich kann oft angesichts des Gegenübers einschätzen, dass es älter ist und dieses distanzierende Sie erwartet. Aber im Internet? Wir, die early adapter der 90er, sind jetzt alle ein bisschen älter, aber es ist uns nicht unbedingt naheliegend, in Kommentarthreads Wildfremden ein „Sie“ anzudienen. Womöglich gerade eben aus Höflichkeit nicht. Es klingt Unsereinem eher ironisch und etwas belustigend, wenn man es tut. Die sprachliche Distanz des „Sie“ wird dabei zum Gegenüber in Grabenkämpfen. Man sitzt ja schon unter Umständen mehrere 100 km auseinander, hat miteinander überhaupt keine Beziehung außerhalb dieses Threads, warum sollte man für sich einen Individualabstand durch ein „Sie“ einfordern? Und es gibt im virtuellen Raum keine Hierarchien, die man beachten muss.

Bei Hofe

Das Wort „Höflichkeit“ kommt auch von dem Umstand des „Hofes“, wo Hierarchien und komplexe Beziehungsgeflechte die richtigen Rituale und Umgangsformen bestimmen – aber auch notwendig machen. Übrigens ist das englische Pendant „courteous“ von derselben Etymologie, wenn auch sein etwas verbreiteteres Synonym „polite“ vom „polieren“ kommt, glatt sein, geschmeidig. So geschmeidig und glatt, dass man im Gedränge des Hofes aneinander vorbeigleiten kann, ohne anzuecken. Wer höfisch ist, ist elegant. Nur wer elegant ist, ist bei Hof erfolgreich. Und außerhalb des Hofes haben solche geschliffenen Personen ein leichtes Spiel, sie haben eben social skills.

Wenn man Eleganz und Stil, die Psychologie im Umgang mit anderen durch ein gewisses Talent, aber vor allem durch viel Praxis einüben kann, so gibt es dennoch einige sich verfestigende Rituale, die sind schlicht erlernbar. Es gibt eine Abfolge von Bewegungen, es gibt ein stabiles Richtig, wie den „Kratzfuß“ oder die Verbeugung, wer wem die Tür aufhält etc.…

Die Reihenfolge ist logisch. Logisch?

Ich kann mich an eine skurrile Situation erinnern, als ich als Kindergartenkind meine Mutter fragte, wer wen zuerst grüßt. Das ging etwa so:

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Mutter: „Die jüngere Person grüßt erst die ältere Person, der Mann zuerst die Frau.“
Ich: „Und wenn jetzt eine jüngere Frau und ein älterer Mann sich treffen?“
Mutter: „Wenn die Frau verheiratet ist, dann grüßt man trotzdem die Frau zuerst. Und wenn es ein Mädchen ist, dann grüßt es zuerst. Ansonsten, derjenige der zuerst den anderen sieht.“
Ich: „Und wenn sich beide zugleich sehen und beide gleich alt sind, und beide sind Frauen und beide sind Männer?“
Mutter (weiterhin geduldig): „Dann grüßen sie sich halt zugleich.“
Ich weiß noch, wie ich mich da ein wenig schämte, denn das ist ja auch offensichtlich.

Und es steckt eine einleuchtende Logik dahinter. Die Älteren haben eine gesetztere Attitüde als Jüngere, sie haben sich durch ihren Lebensweg einen Status errungen, den letztere noch erreichen müssen. Somit erweist der Jüngere dem Älteren dadurch als erster den Respekt, den er dann quasi zweitrangig hinterher zurückerhält. Dass Frauen als erste gegrüßt werden (in unserer westlichen Kultur), ist ein bisschen weniger einleuchtend, da ihr Status traditionell niedriger war. Wenn man aber bedenkt, dass – ebenso traditionell – der Mann die Frau zum Tanz einlädt, also die Initiative ergreift, und dass Frauen in bestimmten Zuständen (aka Schwangerschaft) besondere Rücksicht brauchen, kommt man vielleicht auf einzelne Gründe, die zusammen diese Reihenfolge der Begrüßung irgendwie logisch erklären.

Eher Konvention

Es steckt aber auch eine Wahl dahinter, die irgendwann einmal getroffen wurde, denn es könnte ja auch eine gute Logik hergeben, dass erst der Ältere den Jüngeren grüßt. Schließlich gab es ebenso bei uns bei patriarchal-christlich geprägten Tischsitten das Warten, bis dass der Patriarch (ein Mann, und meist der Älteste) zuerst isst. Er hat damit das ius primi morsus (=das Recht des ersten Bissens). Ein anderes Beispiel: In Bus und Straßenbahn den älteren Frauen den Sitz zu überlassen, wird in Japan eher als Herabsetzung gesehen, denn als Ehrerbietung. Und so weiter.

Wir sehen, dass Höflichkeit aus einer Anzahl von Strickfallen besteht, die man zu umgehen lernen muss. Was je nach Kultur jeweils eine andere Meisterschaft verlangt. Es ist somit ein nonverbales Sprachmuster, das mit dem Wechsel einer Kultur auch eine Übersetzung verlangt. Und was in der einen „Sprache“ eine Ehrerbietung ist, kann in der anderen eben als eine Bedrohung oder Beleidigung gesehen werden.

Nonverbale Höflichkeit – false friends

Die Höflichkeits- und Begrüßungsgesten sind – wenn man es als Sprache ansehen will – voller „false friends“. Denn die Gesten sind meistens aus einem universell angelegten Modellkasten mit einigen wenigen Möglichkeiten: kurze körperliche Bewegung (meist Verbeugung), Handbewegungen (Winken, irgendwie gefaltete Hände) Berührung mit der Hand (Handschlag, Ghetto-Gruß), Berührung mit dem Gesicht, vor allem dem Mund. Letzteres gilt in den meisten Kulturen als zu intim, und kann am ehesten zu Missverständnissen führen. Intimität ist eine Möglichkeit, Ehrerbietung auszudrücken, aber eben auch Offenheit und das „Erkennen von Vertrautheit“ (siehe Inuit mit dem Kunik, dem „Schnupperkuss“). Wir sehen daran auch, dass Vertrautheit und Respekt nicht immer als Eines gesehen werden. Und diese recht begrenzte Möglichkeit, eine Begrüßung nonverbal auszudrücken, hat eben zu der unterschiedlichen Besetztheit dieser selben oder ähnlicher „Wörter“ (eigentlich Gesten), je nach Kultur geführt.

Aber nicht nur die Begrüßung mit dem Körper, sondern eben auch in die gesprochene Sprache selbst kann diese soziale Ritualisierung Einzug gehalten haben.

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Wir sind wieder beim Siezen

So wie man im Internetzeitalter seine Aussagen oft mit einem Emoji erst richtig verständlich machen kann, wenn der Satz „ironisch“ und nicht ernst gemeint werden soll, so sind ritualisierte Formen des Umgangs das, worin das Gegenüber soziale Fertigkeit und Bereitschaft, diesen zu folgen lesen kann. Wenn ich jemanden, den ich gerade neu kennengelernt habe, erst sieze, dann zeige ich erstens, dass ich die deutsche Kultur verstehe (somit kann es oft eine sprachlich-kulturelle Hürde sein, worüber Ausländer stolpern, wenn sie einen duzen, nicht eine gemeinte Respektlosigkeit), und die Bereitschaft, hier den Regeln nach zu spielen. Auch die Art der Regel wird damit signalisiert. Wenn ich in einer Firma neu anfange, und alle sich dort duzen, dann ist das eine interne Regel, bei der ich besser mitmache, sonst wirkt gerade das Sie ungewöhnlich und eben aggressiv. Bei älteren Menschen wird dieses vielleicht weniger gut ankommen, da sie eben mit der Formel „Sie“=höflich so stark sozialisiert sind, dass sie sich eben mit der Umkehrung dieser Formel sehr schwertun. Deswegen werden meist Boomer dieses „Sie“ im Internet verlangen. Wenigstens diejenigen, die nicht wie ich in den 90ern intensiv online unterwegs waren.

Als Kind hat es mich erst befremdet und dann fasziniert, dass meine Cousine vom Land ihre Großmutter siezte (eigentlich „ihrte“, da im Siebenbürgisch-Sächsisch noch diese altmodische Form vorherrschte), mir wäre das nie bei meiner in den Sinn gekommen. Dafür liebte ich sie in einer wohl intimeren Weise als meine Cousine ihrer Oma gegenüber fühlte. Und ich musste schmunzeln, als ich las, dass Horst Buchholz seine französische Frau zeit seines Lebens immer mit „vous“ (Sie/Ihr) ansprach. Natürlich hatte das wohl mit „Eleganz und Erotik“ zu tun. Franzosen eben. „Sie“ schafft Distanz, und diese kann eine bestimmte Art von Respekt ermöglichen. (Natürlich sind Franzosen dafür mit ihrem Wangenküsschen sicher ein bisschen „intimer“ als so vielen anderen Europäern angenehm ist). „Du“ hingegen schafft Nähe, was eine wiederum eigene Art von Respekt ermöglicht. Wie man im Interview mit dem Sohn der beiden lesen kann, assoziierte Christoph Buchholz mit dem „vous“ eben auch die Distanz, die man beim Streiten gerne haben will.

Koreaner: Hold my beer

Doch, wer glaubt, dass wir Deutsche (und Franzosen) im Streit mit dem richtigen Du und Sie schon geplagt sind, im Gegensatz zu den lockeren Briten und Amerikanern mit ihrem simplen „you“, das nicht einmal die Mehrzahl ermöglicht (und somit vom „Ihr“ und „vous“ schon abgetrennt) – der hat noch nicht von den fünf Höflichkeitsstufen der Koreaner gehört. Ja. Fünf. Und dazu noch eine Anzahl von Wörtern (Verben, Adjektive, Substantive), die man dann verwenden sollte, wenn man über eine Respektsperson spricht. Diese „isst“ (먹다, „mogda“)nicht, sie „speist“ (드시다, „dyschida“), zum Beispiel. Und der Respekt wird nicht nur nach sozialem Status vergeben, sondern vor allem nach Alter. Deswegen ist es für Koreaner eine der ersten Fragen beim Kennenlernen, das Alter zu erfahren. Ein Jahr macht schon einen Unterschied, wie man das Gegenüber anspricht. Man ist jahrgangsweise in einer Kohorte. Das geht so weit, dass das Wort für Freund (친구, „tschingu“) nur innerhalb desselben Jahrgangs vergeben wird. Deswegen heißen „tschingu“ eben alle Klassen- und Parallelklassenkameraden, auch wenn man diese Menschen nicht genau kennt. Diese Gewichtung auf den Jahrgang galt übrigens auch umgekehrt, man ist nicht älter oder jünger nach Monaten, sondern mit dem Stichtag des 1. Januars (seit der Einführung des westlichen Kalenders). Erst seit 2023 hat Korea jetzt das genaue Alter, denn bislang hatte man bisweilen skurrile Schwierigkeiten, etwa Babynahrung, die nach Altersmonaten geht, zu präzisieren.

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Die fünf Stufen der Höflichkeit ergeben sich aus einer Bestimmung aus Alter, sozialer Beziehung untereinander und sozialen Situation, in welcher gesprochen wird. Ich würde mit der Mutter anders sprechen als sie mit mir und wiederum anders mit dem Vorgesetzten. Und die Nachrichtensprecher zum Beispiel haben nochmal eine eigene neutrale Form. Alte Männer untereinander haben auch eine eigene Möglichkeit.

Sprachliche Höflichkeit und Ranking – unendliche Möglichkeiten

Das lässt sich somit nicht einmal genau übersetzen, diese sprachliche Höflichkeit. Als ich das erste Mal eine koreanische Serie mit Untertiteln ansah, wunderte ich mich über eine Szene, in der der neue Kollege am Tisch mit seiner Gruppe Polizisten saß und einer fragte, wieso er denn so zum bestimmten Kollegen sprach. Die Antwort war für mich nicht nachvollziehbar, während alle am Tisch „ahhh“ mit wissendem Blick sagten, als ob es eine besondere Pointe gab: „Ich weiß, dass er ein Jahr jünger ist“.

Diese Art von Höflichkeit hat nicht mehr diesen beschränkten Kasten der Gesten zur Verfügung, sondern das riesig offene Feld der gesprochenen Sprache. Wir haben oft nicht einmal die Matrix, die eins zu eins etwas übersetzen kann, wie es etwa bei der Geste noch geht: Bitte keinen Sitzplatz für ältere Damen in Japan, bitte Sitzplatz für ältere Damen in Deutschland“.

Abteilungsleiter Kim

Und was noch dazu kommt: Dass wir nicht einmal dasselbe Ranking an Sozialstatus haben. Während in einem Unternehmen in Amerika der Abteilungsleiter womöglich nicht einmal leicht rauszufinden sein wird, man muss schon genau hinhören, dass man bei jedem Problem zu „Carmen“ gehen soll – dann kann man in einer unsicheren Weise daraus schließen, dass sie der Chef ist. In Deutschland wird es immer mehr auch „der Peter“ sein, aber doch ein bisschen öfter „Herr Schmidt“ und „Chef“. Aber in Korea, China und Japan wird es niemals „Herr Kim/Frau Sun/Herr Tanaka“ sein. Sondern „Abteilungsleiter Kim/Sun/Tanaka“ und wenn es den halben Tag dauert, diese ganze Bezeichnung zu sagen. Und wir werden in Europa nicht über ältere Mitschüler, persönliche Lehrlingsbrüder, Jahrgangsmitschülerfreunde und Ähnliches mit eigenen Bezeichnungen sprechen. Die sozialen Verflechtungen sind bei uns bei weitem subtiler und eben nicht mit dieser Art Plakativität gekennzeichnet

Dafür werden Chinesen, Japaner und Koreaner diese sprachlichen Konstruktionen mit ihrer Muttersprache und mit einer Selbstverständlichkeit aufsaugen, so dass es selten eine Meta-Unterscheidung gibt, in welcher das Wissen selbst über diese sozialen Unterscheidungen und dem Umgang damit zum Unterscheidungsmerkmal wird, welchem Status jemand angehört. Dass das Wissen über Manieren den sozialen Status selbst bestimmen kann. Darüber werde ich in der zweiten Folge der dreiteiligen Serie über Höflichkeit in der nächsten Woche Überlegungen anstellen.

 

 

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