Der Weltinnenraum: Wo Gefühle wohnen lernen, oder …

… alles Gute zum 150-sten Geburtstag, Rainer Maria Rilke! Großmeister der unerwiderten Zuneigung und Wehmut. Eine Wir-brauchen-dringend-mehr-Liebesgedichte-Kolumne von Henning Hirsch.

Rilke 150. Geburtstag
Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Poetry is what happens when nothing else can.
© Charles Bukowski

Heute würde er seinen 150-sten Geburtstag feiern: René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke. Einer der größten Lyriker, den der deutschsprachige Raum an der Schwelle des 19-ten zum 20-sten Jahrhundert hervorgebracht hat. Geboren am 4. Dezember 1875 in Prag –  Hauptstadt Böhmens und der habsburgischen Doppelmonarchie angehörig – als zweites Kind des Bahnbeamten Josef Rilke und seiner Frau Sophie. Die Kindheit ist überschattet vom frühen Tod der Schwester – worüber die Mutter nie hinwegkommt – und einer zunehmendem Zerrüttung der elterlichen Ehe. Mit der vom strengen Vater verordneten militärischen Ausbildung fremdelt der musische Junge und wechselt deshalb ins kaufmännische Fach, wo er ebenfalls nach kurzer Zeit die Brocken hinschmeißt. Es folgen Abitur (damals ‚Matura‘ genannt), zwei Semester Jura und ein ebenfalls nicht bis zum Abschluss durchgehaltenes Studium von Literatur und Kunstgeschichte. Bis hierhin also, von häufigem Ausbildungs-Hopping abgesehen, nichts Besonderes an dem jungen Mann zu beobachten.

Das ändert sich schlagartig, als Rilke 1897 die 14 Jahre ältere Literatin Lou Andreas-Salomé kennen- und lieben lernt. Mit ihr – einer Schülerin Siegmund Freuds – unternimmt er ausgedehnte Reisen nach Italien und Frankreich. Das Paar übersiedelt nach Berlin, wo R.M. – der Austausch des Vornamens René in Rainer erfolgt auf den Rat der Freundin hin, weil sich das männlicher anhört – in Kontakt mit der Schreiberszene der pulsierenden deutschen Metropole gerät. Erste holprige Poesieversuche deuten Rilkes Talent zwar an, lassen aber noch nicht auf sein lyrisches Genie schließen. 1900 löst sich Lou von Rainer, der dem Trennungsschmerz mit einem spontanen Tapetenwechsel nach Worpswede – damals eine hippe Künstlerkolonie vor den Toren Bremens – zu entfliehen versucht. Ein paar Monate später heiratet er die Bildhauerin Clara Westhoff. Das emotionale Fundament der Ehe erweist sich als nicht allzu tragfähig, weshalb R.M. ein weiteres Mal flieht: dieses Mal nach Paris. In der Stadt der Liebe – und verkrachten Künstler – will er endlich den literarischen Durchbruch schaffen. Mit Prosa und vor allem Lyrik. In Gedanken immer noch der verflossenen Liebe Lou hinterhertrauernd, die er nie mehr wiedersehen wird. In den restlichen 25 Jahren seines kurzen und von mehrfachen Umzügen in neue Umgebungen geprägten Lebens entstehen knapp 1000 Gedichte (ungefähr hälftig deutsch & französisch) sowie zahlreiche Novellen (die bekannteste dürfte ‚Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘ sein) und ein paar Dramen.

Am 29. Dezember 1926 stirbt der Großmeister der Wehmut im Alter von nur 51 Jahren in Montreux – er hatte die letzten Jahre am Genfer See verbracht – und wird dort zur letzten Ruhe gebettet. Auf dem Grabstein steht zu lesen:

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.

Und damit soll es an dieser Stelle genug sein mit der Biografie. Wer es ausführlicher wissen will, der kann hier nachschlagen.

Lesen Sie auch  Die unerwartete Melange des frühen Faschismus - Antonio Scuratis Mussolini-Roman

Nun ist es an der Zeit, den kleinen Gedichtband von Rilke aus dem Bücherregal hervorzuholen, darin zu blättern und uns im Anschluss der Sache zu widmen, um die es sich eigentlich dreht = immerwährende Sehnsucht nach der wahren Liebe, die in der rauen Realität nicht existiert, sondern nur im Weltinnenraum zu finden ist; oder:

Und sowieso wird man Dichter nur durch das Mädchen, das man nicht bekommt.
© Søren Kierkegaard

Die Welt wird kleiner

Wenn man Rilke heute liest, geschieht etwas Merkwürdiges: Die Welt wird kleiner, und das Innere wird größer. Dinge, die eben noch selbstverständlich schienen, beginnen zu flimmern. Gefühle, die man selbst kaum benennen kann, tauchen in seinen Sätzen auf wie alte Bekannte. Und plötzlich erkennt man: Dieser Mann lebte weniger in Ländern als in Zuständen. Weniger in Räumen als in Räumen im Raum.

Der Weltinnenraum ist kein mystischer Nebel, keine esoterische Spielerei. Es ist Rilkes tiefstes Konzept: dass das Äußere in uns hineinwächst, und das Innere eine Landschaft wird, die man betreten kann wie ein Zimmer. Und dass die Liebe – vor allem die unerfüllte, die schmerzhafte, die schmerzlich-schöne – die Architektin dieses Raumes ist.

Rilke war kein Liebender im klassischen Sinn. Er war ein Liebender im existenziellen Sinn. Liebe war für ihn kein Ereignis, sondern eine Bewegung. Sie hatte keine Richtung nach außen, sondern immer nach innen. Jeder Verlust schuf einen neuen Raum. Jeder Schmerz eine neue Tiefe. Jedes Begehren eine neue Tür.

Vielleicht war das der Grund, warum er realen Beziehungen oft auswich: Der wahre Ort seines Liebens war nicht der Körper des anderen, sondern die innere Topografie, die sich um diesen anderen herum bildete.

Man könnte sagen: Die Menschen liebte er, aber die Räume liebte er mehr. Und diese Räume entstanden, wenn er litt.

Wenn wir ehrlich sind, kennen wir das alle. Der Moment, in dem Liebeskummer nicht nur wehtut, sondern etwas umstellt in uns. Etwas verschiebt, aufreißt, erweitert. Ein Innenraum entsteht, den es vorher nicht gab. Man wird empfindlicher, verletzlicher, aber auch wahrnehmender. Man hört den eigenen Herzschlag anders. Man spürt die Welt anders. Alles bekommt diese feine Membran.

Rilke wusste das. Er wusste es so sehr, dass er es durch und durch fühlte, bis daraus Gedichte wurden.

Mit Schreiben die Liebe aushalten

Manchmal frage ich mich, ob sein Schreiben nicht ein einziger Versuch war, die Liebe auszuhalten. Nicht, sie zu besitzen – sondern zu ertragen, zu verstehen, in etwas Verwandlungsfähiges zu überführen. Er suchte nicht die Nähe der Geliebten, sondern die Durchdringung des Gefühls. Nicht die Harmonie, sondern die Schwingung. Nicht das Glück, sondern die Möglichkeit von Innerlichkeit.

Lesen Sie auch  Kolumne, die ich gar nicht schreiben wollte (1)

Deshalb lesen sich seine Gedichte heute, als säße er mit einer Kerze in einem unmöblierten Zimmer – und würde das Flackern studieren.

Was mich an Rilke besonders berührt, ist diese leise, fast kindliche Zärtlichkeit gegenüber allem, was vergeht. Er hält nichts fest. Er flüchtet nicht vor der Vergänglichkeit – er richtet sich in ihr ein. Die Wehmut ist bei ihm kein Defekt, sondern ein Zustand von Klarheit. Ein Wissen darum, dass das, was schmerzt, zugleich das ist, was lebt.

Wenn er vom Weltinnenraum spricht, spricht er von diesem Zwischenzustand: der Ort, an dem Verlust zu Bedeutung wird. An dem die Liebe nicht endet, sondern nur ihre Richtung ändert.

Eines Tages schrieb er, der Liebende solle große Geduld mit sich haben, weil Liebe der schwierigste Auftrag des Menschen sei. Und vielleicht ist genau das die Funktion des Weltinnenraums: Er ist der Ort, an dem wir lernen, mit jener Art von Gefühl zu leben, die wir nicht lösen können — nur verwandeln.

Um dieser Stimmung nachzuspüren, hier ein erstes Gedicht:

DAS IST DIE SEHNSUCHT
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.

Bei mir bringt vor allem die Zeile „und keine Heimat haben in der Zeit“ irgendwas, was ich aber nicht konkret in Worte fassen kann, zum Schwingen: Einsamer Wanderer, nirgendwo zu Hause, Sonderling, beschäftigt sich lieber mit seiner Kunst als mit anderen Menschen. So in diese Richtung; aber vielleicht auch komplett anders.

Allein sein, um wahrhaft spüren zu können

In Rilkes Welt ist Liebeskummer kein Zustand der Schwäche, sondern eine Form von Verfeinerung. Man beginnt zu hören, was vorher stumm war. Zu spüren, was man sonst überdeckt hätte. Man entdeckt in sich Räume, die tief, schmal, hell, verworren sein können – aber immer wahr.

Und diese Wahrhaftigkeit ist es, die Rilke auf Distanz zu vielen Menschen brachte. Er wollte lieben, aber er wollte vor allem spüren. Und das Spüren war intensiver, wenn er allein war. Lou Andreas-Salomé verstand das vermutlich besser als jeder andere: dass Rilke zwar liebte, aber nicht dauerhaft im Außen lieben konnte. Dass seine innere Sensibilität ihn in eine Welt führte, die andere zwar besuchen konnten – aber nie ganz bewohnen.

Vielleicht macht genau das ihn so modern. Heute, wo alle über Liebe reden, aber kaum jemand über die inneren Räume, in denen sie stattfindet. Heute, wo Liebeskummer schnell überdeckt, wegtherapiert, weggescrollt wird. Rilke dagegen hielt inne. Er wartete. Er hörte zu. Er ließ zu.

Lesen Sie auch  Kostenlose Hörbücher & Bildung für Alle!

Und dadurch wuchs in ihm eine Welt, die in keine Wohnung, keinen Körper, keine Beziehung passt.

Der Weltinnenraum ist das wahre Werk Rilkes.
Die Gedichte sind nur die Fenster.

Zum Schluss zweite weitere Gedichte, die diesen Gedanken weiterführen.

Herzerreißend traurig formuliert der Poet kurz nach der Trennung von Lou:

LÖSCH MIR DIE AUGEN AUS
Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.

Und klingt ein paar Jahre später gefasst, aber wehmütig, wenn er sich an die Italienreisen mit der früheren Freundin erinnert:

DIE KURTISANE
Venedigs Sonne wird in meinem Haar
ein Gold bereiten: aller Alchemie
erlauchten Ausgang. Meine Brauen, die
den Brücken gleichen, siehst du sie

hinführen ob der lautlosen Gefahr
der Augen, die ein heimlicher Verkehr
an die Kanäle schließt, so daß das Meer
in ihnen steigt und fällt und wechselt. Wer

mich einmal sah, beneidet meinen Hund,
weil sich auf ihm oft in zerstreuter Pause
die Hand, die nie an keiner Glut verkohlt,

die unverwundbare, geschmückt, erholt -.
Und Knaben, Hoffnungen aus altem Hause,
gehen wie an Gift an meinem Mund zugrund

Was für ein Finale furioso: Gehen wie Gift an meinem Mund zugrund. Wow!

So bleibt Rilke für uns bis heute der Dichter, der die Welt nicht beschreibt, sondern verwandelt. Der die Liebe nicht erklärt, sondern erträgt. Und der den Schmerz nicht fürchtet, weil er weiß, dass gerade er die Türen öffnet – zu jener inneren Landschaft, die er Weltinnenraum nannte:

Den einzigen Ort,
an dem Liebe bleibt,
wenn sie nicht mehr da ist.

Rubrik: Liebesgedichte, wir brauchen dringend mehr Liebesgedichte!

Zur Person

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert