Es wird schlimm enden

Die Prognosen verheißen nichts Gutes: Jeder Zweite kann sich mittlerweile vorstellen, die AfD mal „auszuprobieren“. Wo verstecken sich all diese Menschen, ich kenne keinen einzigen, grübelt Henning Hirsch und stellt plötzlich fest, dass er lange Zeit nicht aufmerksam genug auf die Warnsignale in seiner Umgebung geachtet hat. Eine pessimistische Kolumne.

es wird schlimm enden
Bild von BrinMacen auf Pixabay

Ich geb’s unumwunden zu: mit fortschreitendem Alter weise ich eine zunehmende Tendenz in Richtung Pessimismus auf. Bei „meinem“ Verein, dem Effzeh, orakele ich jeden Spieltag aufs Neue den in Kürze drohenden (dann 8-ten) Abstieg herbei, von Beziehungen halte ich mich fern, weil die eh immer zerbrechen, das früher (halbwegs) erheiternde Facebook sehe ich dem baldigen Hate-Speech-Untergang geweiht. Meine Psychologin sagt, ich soll mir darüber nicht allzu sehr den Kopf zerbrechen: das sei ein ganz normaler Vorgang für ältere Männer, die ihrer schwindenden Virilität nachtrauern und sich vor dem Tod fürchten. Wenn’s schlimmer wird, könne sie mir ein paar gute Selbsthilfegruppen empfehlen oder Stimmungsaufheller verschreiben. Ganz so schlimm ist es aber GSD noch nicht.

Die Tristesse ergreift mich seit einigen Monaten am heftigsten, sobald ich auf die wöchentlichen Umfragen der Meinungsforschungsinstitute blicke und dort den hellblauen Balken beständig in die Höhe klettern sehe: das Überqueren der (kritischen) 30-Prozent-Schwelle scheint mittlerweile wahrscheinlicher als der Rückfall unter die 20%-Marke. Wer wählt diese Partei bloß, dachte ich lange, ich kenne niemanden, der Sympathien für den irrlichternden Haufen hegt. Und dabei muss es doch statistisch gesehen nahezu jeder Dritte sein, der sich vorstellen kann, bei denen sein Kreuz zu setzen. Wo haben sich all diese Menschen versteckt? Als ich vor ein paar Tagen las, nur noch knapp jeder Zweite würde auf keinen Fall die AfD wählen, geriet ich ins Grübeln und rief mir Unterhaltungen, die ich in den vergangenen Wochen geführt und Satzfetzen, die ich in der Bürokantine, im Sportstudio und an der Supermarktkasse aufgeschnappt hatte, ins Gedächtnis zurück. Davon handelt die folgende Kolumne.

Es beginnt mit einem Räuspern

Es gibt Entwicklungen, die beginnen nicht mit einem Paukenschlag, sondern mit einem Räuspern. Mit beiläufigen Bemerkungen, die man zunächst gar nicht ernst nimmt, weil sie so unspektakulär wirken. Ein Satz hier, ein Kommentar da, irgendwo zwischen Smalltalk, Kaffeemaschine und Umkleidekabine. Und genau in dieser Unverbindlichkeit liegt das Problem: Die Worte wirken harmlos — dabei sind sie Vorboten.

Ich erlebe das in meinem unmittelbaren Umfeld: Nachbarn, Bekannte, Kollegen, Menschen im Sportstudio. Ganz normale Leute, gesetzte Mittvierziger und Endfünfziger, engagierte Eltern, beruflich etabliert, viele davon politisch interessiert. Und plötzlich hört man von diesen Menschen Dinge, die sie vor kurzem noch nicht einmal im Halbschlaf gemurmelt hätten:

„Weißt du was? Ich hab echt Angst vor dem Weihnachtsmarkt dieses Jahr.“
„Wir können nicht alle aufnehmen, irgendwann ist Schluss.“
„Die EU hat sich doch komplett verselbstständigt. Ein undemokratisches Monstrum.“
„Der Ukrainekrieg… sollen die das mal unter sich ausmachen. Was haben wir damit zu tun?“
„Warum haben wir überhaupt aufgehört, Gas aus Russland zu kaufen? War doch alles günstiger.“

Neuerdings höre ich zudem: „Vielleicht sollten wir mal was Neues probieren. Die Weidel kann’s ja auch nicht schlechter machen.“

Das alles klingt noch nicht nach Umsturz. Aber es klingt nach Verschiebung. Nach einer leisen, aber unübersehbaren Bewegung in Richtung einer politischen Zone, die lange als unbetretbar galt. Und so kommt es, dass ich inzwischen seltener darüber nachdenke, was die AfD den Menschen verspricht — sondern viel häufiger darüber, was die Menschen in ihr zu sehen beginnen.

Fatale Radikalisierungs-Trias

Man muss an dieser Stelle eines betonen: Es geht nicht darum, Umfragen zu sezieren. Ob irgendein Institut 25, 28 oder 30 Prozent Zustimmung misst, ist nebensächlich. Das eigentliche Problem ist nicht numerisch, sondern atmosphärisch. Die Stimmung in diesem Land kippt nicht an einem Wahlabend, sondern lange vorher auf Supermarkt-Parkplätzen, in WhatsApp-Chats, im Wartezimmer des Zahnarztes.

Und genau dort, in diesen Mikro-Öffentlichkeiten, höre ich seit einiger Zeit Erklärungen, die jedes Mal einer erstaunlich ähnlichen Logik folgen. Eine Art Dreisatz des privatisierten Unbehagens:

(1) „Alles wird schlimmer.“
Gefühlt sind wir von Bedrohungen umzingelt: Migration, Inflation, Energiepreise, Kriminalität, Krieg. Die Reihenfolge variiert, der Kern bleibt: Es ist zu viel.

(2) „Die Politik kriegt nichts geregelt.“
Damit ist nicht gemeint, dass Fehler passieren. Fehler waren immer Teil demokratischer Politik. Gemeint ist: Die Politik ist strukturell unfähig. Das ist eine ganz andere Kategorie.

(3) „Dann probieren wir halt mal was Neues.“
Gemeint ist nicht „neu“, sondern: „anders“. Härter. Radikaler. Grenzen setzen. Aufräumen. Endlich mal Schluss mit dem ganzen Durcheinander.

Diese Trias findet sich überall — in den Gesprächen, die ich höre, in den Kommentaren, in den zunehmend gereizten Reaktionen auf Komplexität. Und wer glaubt, das sei nur eine Randerscheinung, verkennt, wie Normalisierung funktioniert.

Eine verführerische Erzählung

Früher habe ich diese Verschiebungen als temporäre Verstimmungen abgetan. Politik ist nun einmal frustrierend, besonders in einem Land, das sich manchmal selbst das Leben schwerer macht als nötig. Doch inzwischen sehe ich eine andere Dynamik: Es geht nicht mehr um Frust. Es geht um eine Erzählung.

Eine Erzählung, die ausgesprochen anschlussfähig ist — und zwar gerade in der Mitte. Sie lautet: Die demokratischen Parteien sind zu schwach — also muss jemand Stärkeres her.

Damit ist allerdings nicht die Stärke von Argumenten gemeint. Sondern Stärke im Sinne von Durchgreifen, ohne lange zu fragen. Stärke, die sich als Entlastung verkauft: Endlich weniger reden müssen, weniger abwägen, weniger Kompromisse, weniger Europa, weniger Rücksicht, weniger Differenzierung. Eine politische Sehnsucht nach dem einfachen Hebel.

Das ist der Punkt, an dem man hellhörig werden sollte. Denn die Geschichte zeigt: Autoritäre Politik beginnt nicht mit dem Versprechen der Repression, sondern mit dem Versprechen der Entlastung.

Besonders bemerkenswert ist, wer diese Sätze inzwischen ausspricht. Nicht die üblichen politischen Ränder, nicht jene, die schon immer eine Affinität zu harten Parolen hatten. Sondern Menschen, die früher FDP, SPD oder CDU gewählt haben. Menschen, die in Sonntagsreden von Europa schwärmten und werktags von sozialer Balance. Menschen, die das institutionelle Gefüge dieses Landes als wertvoll empfanden, weil es Stabilität versprach.

Und genau diese Menschen beginnen nun zu zweifeln — nicht an einzelnen Maßnahmen, sondern am System. An den „Altparteien“, wie sie neuerdings sagen, obwohl sie den Begriff früher bestenfalls belächelt haben.

Müdigkeit ist aller Autokratie Anfang

Was folgt, ist ein bemerkenswerter Gedankensprung: Vielleicht muss wirklich mal jemand aufräumen. Die anderen schaffen es offenbar nicht mehr.

„Aufräumen“ — ein unscheinbares Wort, das so tut, als ginge es um den alljährlichen Frühjahrsputz zu Hause und nicht um Staatsordnung.

Und dann kommt das eigentlich Gefährliche: der Zusatz, der inzwischen regelmäßig fällt, fast schon als rhetorische Beruhigungspille: Und wenn es nichts taugt, wählen wir sie in vier Jahren halt wieder ab.

Dieser Satz offenbart ein tiefes Missverständnis. Er setzt voraus, dass demokratische Institutionen stabil bleiben, auch wenn man sie in die Hände einer Partei legt, die sie ablehnt. Er setzt voraus, dass autoritäre Politik so funktioniert wie ein schlechtes Produkt: ausprobieren, zurückgeben, Reklamationsrecht. Doch Politik kennt kein Rückgaberecht — zumindest nicht, wenn man zuvor den Laden in Trümmer gelegt hat.

Ich glaube inzwischen, dass viele nicht begreifen, wie schnell sich eine liberale Demokratie verändern kann. Nicht durch einen großen Knall, sondern durch viele kleine. Nicht durch einen Aufmarsch, sondern durch Gewöhnung. Nicht durch Extremisten, sondern durch die, die finden, man müsse doch „mal was probieren“.

Die AfD nähert sich der Mitte, weil die Mitte sich nach klaren Antworten sehnt. Und weil der demokratische Diskurs der letzten Jahre ein nahezu perfektes Umfeld geschaffen hat: voller widersprüchlicher Erwartungen, komplexer Krisen, wackeliger Koalitionen und einer Medienlogik, die aus jeder Unschärfe ein Drama bastelt.

So entsteht das Gefühl, dass niemand mehr entscheidet. Und in dieses gefühlte Vakuum drängen jene, die Entscheidungsfreude mit Härte verwechseln.

Man darf sich deshalb keiner Illusion hingeben: Die Leute, die heute noch sagen, sie hätten nichts mit Rechts am Hut, könnten morgen exakt jene sein, die die Tür weit aufmachen — nicht aus Überzeugung, sondern aus Müdigkeit.

Ich höre diese Müdigkeit überall. Eine politische Erschöpfung, die sich gewaschen hat. Und genau diese Erschöpfung ist der Nährboden, auf dem autoritäre Sehnsüchte wachsen. Die Geschichte hat diesen Vorgang dutzendfach beschrieben, aber offenbar lernt man ihn nur durch Wiederholung.

Es wird schlimm enden

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluss: Die größte Gefahr lauert nicht in den Radikalen, sie liegt hauptsächlich in den Erschöpften.

Und daher steht am Ende der Kolumne leider dieses traurige Fazit:

(a) Die (schleichende) Dosis macht das Gift
(b) Die AfD rückt zunehmend in die Mitte vor
(c) Lange wird das nicht mehr gutgehen.

Es wird schlimm enden.
Langsam, leise, und genau deshalb unaufhaltsam.

PS. bei der nächsten Sitzung werde ich meine Psychologin nach einer Liste von Selbsthilfegruppen für im Alter von Pessimismus geplagte Männer fragen.

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