Schranke erhalten!

Eine kritische Widerlegung von Jörg Friedrichs Kolumne über Art. 5 GG und die angebliche Überflüssigkeit seiner Schranken von Heinrich Schmitz

No GG5

In seiner heutigen Kolumne „Grundgesetz: Schranken sichern keine Freiheit“ stellt einige Thesen und Behauptungen auf, die ich hier im Einzelnen widerlegen möchte.

1. „Das Grundgesetz muss ohne juristische Expertise verständlich sein.“

Jörg Friedrich behauptet, Verfassungstexte müssten rein intuitiv und ohne juristische Auslegung für jeden Bürger verständlich sein. Diese Erwartung ist weder realistisch noch historisch haltbar. Moderne Verfassungen sind bewusst offen formuliert, damit sie auch zukünftige, nicht vorhersehbare Konflikte erfassen können. Gerade deshalb existiert die Verfassungsrechtsprechung.

Ein Verfassungstext ohne juristische Interpretation wäre entweder
– so unbestimmt, dass er als handlungsleitend nicht taugt, oder
– so detailliert, dass er schnell veraltete und den Umfang einer ganzen Bibliothek beanspruchte.

Die Behauptung, die Bürger müssten Verfassungstexte „ohne Kommentare“ unmittelbar verstehen, verkennt daher Wesen und Zweck einer Verfassung: Sie soll Rahmenbedingungen schaffen, aber keine allgemeine Gebrauchsanweisung sein.

2. Vergleich mit 1789 und der Bill of Rights

Jörg Friedrich führt an, die Menschenrechtserklärungen von 1789/1791 seien von Laien formuliert und daher unmittelbarer.

Das ist historisch falsch und normativ problematisch:

Auch 1789 waren zahlreiche Juristen und Intellektuelle an der Formulierung der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte beteiligt, darunter der Verfasser und Initiator der Erklärung, Marquis de Lafayette, sowie andere Mitglieder der Nationalversammlung

Auch die französische Verfassung von 1791 wurde maßgeblich von Juristen erarbeitet.

– Marquis de Lafayette: Initiierte und verfasste die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die am 26. August 1789 verabschiedet wurde.
– Mitglieder der Nationalversammlung: Die Erklärung wurde von der Nationalversammlung verabschiedet und enthielt die Rechte auf Freiheit, Sicherheit und Eigentum. Auch die französische Verfassung von 1791 entstand in dieser Zeit durch die Nationalversammlung.
– Juristische Expertise: Juristen waren maßgeblich an der Ausarbeitung beider Dokumente beteiligt, um die Rechte und Pflichten des Staates und der Bürger festzulegen.

Die Texte wurden auch sofort juristisch ausgelegt, ergänzt und korrigiert — teils sogar heftig missbraucht (siehe Terrorphase).

Die Bill of Rights wurde vom Verfassungsjuristen James Madison konzipiert. Der hatte Rechtswissenschaften studiert, dann aber nicht die klassische Juristenlaufbahn eingeschlagen, sondern sich im Selbststudium fortgebildet. Die Bill of rights ist zwar extrem knapp, aber gerade deshalb heute nur durch umfangreiche Rechtsprechung handhabbar.

Der Vergleich soll die Illusion erzeugen, ohne juristische Expertise komme eine moderne Demokratie aus. Das Gegenteil ist wahr: Die USA sind Beweis dafür, dass gerade knappe Verfassungstexte intensive juristische Kontrolle brauchen, um nicht missbraucht zu werden.

3. „Art. 5 Abs. 2 GG sei überflüssig, weil andere Grundrechte Schranken setzen.“

Die zentrale These des Autors lautet:

Da Würde (Art. 1) und Persönlichkeitsrechte (Art. 2) geschützt sind, brauche die Meinungsfreiheit keine speziellen Schranken. Dieses Argument widerspricht aber allen modernen Verfassungsarchitekturen. Warum?

Allgemeine Abwägungsnormen (Würde, Persönlichkeit, Unversehrtheit) reichen eben  nicht aus, um spezifische Konflikte zu regeln. Der Gesetzgeber muss vielmehr genau wissen, wann er Meinungsfreiheit einschränken darf — und wann nicht.

Ohne Schrankenregel wäre unklar, welche Rolle einfaches Gesetzesrecht überhaupt noch spielt.

Eine Verfassung ohne konkrete Schranken führt nicht zu Freiheit, sondern zu Rechtsunsicherheit — und das begünstigt am Ende genau das, was Jörg Friedrich befürchtet: den Missbrauch durch autoritäre Regierungen.

4. Missbrauchsschutz durch Art. 18 GG?

Der Autor führt Art. 18 GG als Ersatz für Art. 5 Abs. 2 an. Das ist grob verfehlt:

Art. 18 ist eine Sanktionsnorm, keine Abwägungsnorm.

Er setzt einen bewussten Kampf gegen die FDGO voraus. Er ist dabei so scharf, dass er bisher nicht ein einziges Mal angewendet wurde. Er eignet sich daher in keiner Weise, um alltägliche Spannungen zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten zu regeln.

Zu behaupten, Art. 18 mache die Schranken des Art. 5 überflüssig, zeigt ein fundamentales Missverständnis der Verfassungslogik.

5. Fehlverständnis von Staatsgewalt und Gesetzgeber

Jörg Friedrich unterstellt, ohne die Schranken des Art. 5 Abs. 2 könne der Gesetzgeber weniger einschränken, nicht mehr. Das ist falsch.

Die Regel lautet vielmehr: Ohne die Schranke keine Rechtfertigungsmöglichkeit für Eingriffe.

Eine Freiheit ohne Schranken ist absolut — aber nur gegenüber Gesetzesrecht, nicht gegenüber der Exekutive oder Gerichten. Ein Staat, der Gesetze nicht mehr zur Abwägung heranziehen kann, schafft zwei Gefahren:

Gerichte werden hypertroph und müssen alles direkt aus der Verfassung ableiten.

Die Exekutive gewinnt Spielräume, weil der Gesetzgeber weniger strukturieren kann.

Der Kollege Friedrich verwechselt also „weniger Gesetzesrecht“ mit „mehr Freiheit“. Das Gegenteil kann und würde der Fall sein.

6. Zur Unterscheidung von Würde und Ehre

Die Analyse von Jörg Friedirch ist inkonsistent:

Er schreibt, Ehre sei weniger schutzwürdig als Würde. Gleichzeitig sagt er, Presse dürfe Ehre weitgehend verletzen, solange keine Würde berührt sei.

Er ignoriert komplett, dass das Bundesverfassungsgericht Ehre als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einordnet, das eben nicht beliebig verletzt werden darf. Die Argumentation verkennt, dass Würdeverletzungen immer auch über Ehrverletzungen vermittelt sein können. Gerade deshalb braucht es spezifische gesetzliche Regelungen, die Art. 5 Abs. 2 ermöglicht.

7. Gefahr durch autoritäre Regierungen — und warum die Streichung von Abs. 2 sie erleichtern würde

Jörg Friedrich meint, autoritäre Regierungen könnten die Schranken restriktiv definieren und deshalb sei es besser, sie ganz zu streichen. Das ist logisch falsch.

Wer eine Verfassung verändern will, braucht verfassungsändernde Mehrheiten. Wer diese besitzt, kann fast jeden Artikel ändern oder abschaffen — auch Art. 5 insgesamt.

Die Streichung von Schranken entzieht den demokratischen Institutionen präzise Werkzeuge und zwingt Konflikte unmittelbar auf diehöhere  verfassungsrechtliche Ebene. Damit wird der Weg für autoritäre Regierungen leichter, nicht schwerer, weil:

sie weniger an Gesetzesbindung gebunden wären,

Konflikte stärker in den Bereich exekutiven Ermessens rutschen würden,

Gerichte politisch leichter attackierbar wären, da sie dann die einzigen Abwägungsinstanzen wären.

Die Lösung ist aber nicht, Schranken abzuschaffen, sondern sie klar zu definieren und so auch Gerichte zu schützen.

8. Die irrige Idee einer schrankenlosen Meinungsfreiheit

Jörg Friedrichs Kolumne versucht, die Streichung von Art. 5 Abs. 2 als Weg zu größerer Freiheit, größerer Sicherheit und größerer Demokratie darzustellen.

Tatsächlich würde sie aber bewirken:

Weniger Rechtssicherheit,

Schwächere Bürgerrechte,

Mehr Macht für Exekutive und autoritäre Akteure,

Weniger Schutz vor Hasskriminalität, Verleumdung und gezielter Desinformation.

Die Schranken in Art. 5 Abs. 2 sind kein Angriff auf die Freiheit, sondern Bedingung ihrer Funktionsfähigkeit. Eine Demokratie braucht Meinungsfreiheit — aber Meinungsfreiheit braucht auch eine juristische Architektur, die sie schützt, gerade gegen jene, die sie missbrauchen würden.

Nun darf nicht nur Jörg Friedirch, sondern auch jeder Andere dazu eine Abweichende Meinung haben. Das stört auch nicht, weil ich weit und breit keine Initiative zur Änderung des Grundgesetzes in diesem Punkt sehe. Es ist also ein rein intellektuelle Fingerübung – die allerdings Spaß macht.

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