Licht aus Regenbogen
Vor ein paar Tagen ist das neue Album von Rosalía herausgekommen: LUX. Die Kritiker überschlagen sich, man liest allenthalben: Das beste Album des Jahresausgangs 2025, eine Pop-Oper, und alle erwähnen die 14 Sprachen, die die Sängerin darauf spricht. Für Chris Kaiser war es nicht weniger als eine Offenbarung.

Eklektischer Geschmack
Ich bin sehr spät zum Musikhören gekommen. Und darauf schiebe ich ein wenig die Schuld, dass ich nicht zu denen gehöre, die sich ein und für alle Mal auf ein Genre festlegen, meist das, was sie in ihrer besten Jugendzeit gehört haben. Und dass ich einen derartig eklektischen Geschmack habe, dass mir Spotify am Ende des Jahres bescheinigt, nicht weniger als 90 verschiedene Genres gehört zu haben. Und dass ich so neue (und somit junge) Musik höre, dass mir Spotify mal die Playlist zum Führerscheinmachen vorschlug. Haha. Dazu kommt eine multiethnische Herkunft, die mich auf lateinamerikanische Rhythmen sofort in Bewegung versetzt, es fehlt nur noch, dass ich indische Musik und Tanzfilme mag (nein, tu ich nicht, aber was nicht ist, kann ja noch werden).
Wir hatten nüscht
Ich kam spät zur Musik, denn in Rumänien „hatten wir ja nüscht“. Wenigstens ich. Ich war Fenstergucker, besser -hörer, und zwar bei meinen Cousins, die sowohl Plattenspieler als auch einen Kassettenrecorder in der Größe kurz vor dem Ghettoblaster hatten. Sie legten manchmal nur für mich auf, weil sie sahen, wie ich mit glänzenden Augen und gespitzten Ohren im gemeinsamen Hof dasaß, wenn sie die Fenster offen hatten. Ich erzähle heute gerne und stolz, dass ich damals sofort von Kraftwerk begeistert war. Ich verschweige meist, dass ich mir den Kassettenrecorder auch mal auslieh und dann stundenlang Texte von deutschen Schlagern aufschrieb. Ich sang nämlich auch gerne, und Schlager hatten eingängige Melodien. Diese Kassetten bekam ich auch etwas leichter als die Dire Straits, von denen ich immerhin heute noch weiß, dass ich, wenn ich spät von meiner Freundin durch die dunklen Gassen nachhause ging, vor mich hin summte: „Where d’you think you’re goin‘? Don’t you know it’s dark outside. Where d’you think you’re goin’? I wish they’d care about my pride!”, um mir Mut zu machen. Und kurz vor meiner Ausreise nach Deutschland (da war ich schon 16) lieh mir ein anderer Cousin seinen Walkman und eine, zwei Kassetten und davon mochte ich besonders „Electrica Salsa“
2 Kassetten
Als ich meine späteren Teenager-Jahre in Deutschland verbrachte, hatten wir erst recht nichts, sondern eben nur einen kleiner Recorder und zwei Kassetten, die mir eine Schulkameradin geschenkt hatte, die ich dann auch gerne anhörte. Die eine mit Oldies (mit The Kinks – „Lola“, Santanas „Black Magic Woman“ oder „Bobby Brown” von Frank Zappa) und die andere war eine Queen-Kompilation. Allerdings war das auch die coolste Zeit von MTV und ich war shellshocked und begeistert von Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“, und lächelte jedes Mal, wenn M.C. Hammer „Can’t touch this“ rief. Aber ich hatte eben nicht ständig Musik auf den Ohren. Das war so ab und an und wenn es halt im TV oder im Radio oder im Studentenkeller am Samstag lief.
Später ließ ich mich von meiner Freundin zu Maceo Parker verführen – tanz- und hörbarer Funk („Shake everything you’ve got“) und kaufte mir billige CDs mit der Filmmusik von Cabaret, Clockwork Orange und dazu eine Marlene-Dietrich-Sammlung. Ich tanzte(!) in meiner kleinen Studentenbude auf Rossinis „Diebischer Elster“ und „Wilhelm Tell“, sang lauthals „Ich bin die fesche Lola“ und „Money Makes the World Go Round“ mit, weil die Booklets der CDs die Texte dabeihatten. Das machte ich auch so mit der „Zauberflöte“ – ich kann heute noch „Dies‘ Bildnis ist bezaubernd schön“ auswendig. Dann spielte mir noch ein anderer Cousin (ja, ich hatte sieben davon) „Stairway to heaven“ von Led Zeppelin bei einer Autofahrt vor und ich war hin und weg.
Man erkennt ein Muster
Was ich nicht mehr weiß, ist, wie meine langjährige Liebe, der „Big Beat“, zu mir kam, aber immerhin weiß ich noch, dass ich schon in Rumänien „Fight For Your Right“ von den Beastie Boys, wahrscheinlich mit 15 Jahren, mitschrie und mitfühlte.
Aber der geneigte Leser wird dabei schon ein Muster erkennen. Ich pflückte auf, was sich mir am Weg bot und ich war kein wählerischer Typ, zumindest was das Genre anbelangt. Wichtig war und ist – es muss etwas Besonderes bieten: Sei es ein mitreißender Rhythmus für meinen Körper, sei es eine Stimme, die mein Innerstes berührt, sei es eine Komposition, die mich herausfordert, durch Wechsel und Überraschung. Der Text war meist überhaupt nicht wichtig, ich bekomme bei 99% der Songs den Text kaum mit, vor allem weil meine Aufmerksamkeit von der Musik fast vollständig in Beschlag genommen wird. Ausnahmen, wie die Cabaret- oder Marlene-Dietrich-Songs gab und gibt es aber. Und ich brauche Diversität und Abwechslung. Immer wieder was anderes.
Spotify mon amour
Deswegen habe ich mit dem Spotify-Algorithmus am Anfang, als ich noch nur wenige Lieder auf meine Playlist geladen hatte, gehadert, da der sich ja immer am „Ähnlichen“ orientiert. Inzwischen aber macht er sich ganz gut, nachdem ich ihn mit den genannten 90 Genres etwas durchgerüttelt habe. Und ich lasse mich weiterhin von anderen Quellen inspirieren, etwa die Playlist von Deutschlandradio Kultur. Ich hörte somit zum Beispiel schon am Tag des Releases das neue Lied von SOFFIE „Dass ich gerade traurig bin“ . Und ja, inzwischen höre ich auch ein wenig mehr auf die Texte, vor allem bei den deutschen Songs, von denen ich inzwischen ein paar fand. Ob es die regional bekannte Band „Fliegende Haie“ ist oder Apollo Sissi, den mein Mann und ich so gerne zitieren, denn wenn einer sagt: „Das Einzige …“ dann vervollständigt der andere „was ich dir verheimliche, sind andere Frauen und Kokain“ (was für ein Text!! Mua!), oder auch Deutschrap. Es ist nur konsequent. Denn ich höre mir Songs aus der ganzen Welt an.
Wie kommt man drauf
K-Pop (eher Indie) ist dabei, aber auch chinesische Songs – es war auch ein solcher der mich zu Spotify brachte. Ich verliebte mich in einen Soundtrack eines chinesischen Dramas und so kam ich zum taiwanesischen Künstler Easy Shen , der eben auf Spotify war. Japanisch sowieso. Und ich suche gezielt fremde Gefilde auf, denn so ist Abwechslung am besten garantiert. Vor zwei Wochen stieß ich auf einen afrikanischen Dance-Hymn-Track. Auch hier – Zufall. Ich hörte „Jealousy“ von Veronica Fusaro und ich dachte bei einem Passus, dass mir der bekannt vorkam, vielleicht ist es ein Cover? Ich suchte nach Songs mit demselben Titel und so stieß ich auf „Jealousy“, aber von Khalil Harrison und andere und war sofort Feuer und Flamme. Worauf afrikanische Jugendliche heutzutage wohl tanzen, klingt weich, wellig, kraftvoll. Ein Tag später hatte ich gleich vier solche Songs drauf und konnte mich nicht satt hören daran. Aber dann kam eben Rosalía mit LUX.
Rosalía und SAOKO
Rosalía (ausgesprochen: Ro-Ssa-Li-A) ist eine katalanische Sängerin, eine ausgebildete Flamenco-Musikerin und schon seit ein paar Jahren bei den Top Charts der Popmusik. Der erste Song, den ich von ihr gehört habe, war „SAOKO“. Das war 2022. Bei dem Song konnte ich gleich zwei meiner Punkte von der kurzen Liste der Vorlieben abhaken, nämlich ihre Stimme und auch den Rhythmus. Erstere mädchenhaft, wie kleine Seifenblasen, die hervorblubbern, das Ganze mit Autotune noch betont. Und der Rhythmus zuckend, mit einzelnen jazzigen Einsprengseln und immer weiter aufbauend – man kann nicht anders, man (also ich) fängt automatisch an, die Hüften dazu zu schütteln. Und mittendrin hört der Song einfach auf, den schon auf Tanz zuckenden Körper mitten in der Bewegung stehen lassend. Mein Nachwuchs zeigte sich unbeeindruckt von meiner sie überfallenden Begeisterung dafür, aber es kam immerhin die anerkennende Bemerkung zurück: Es ist ein Song vom FIFA-Videospiel. Ha.
Mädchenmusik
Doch damit war der Song wenigstens für mich persönlich nur ein One-Hit-Wonder, bis ich in diesem Sommer die Single „Tuya“ („Die deine“)von ihr zu hören bekam (danke Spotify-Algorithmus). Weicher, und die Stimme perlender als bei Saoko, die „erwachsenere“ Stimme in den hohen Tönen springend, der Reggae- Rhythmus mit dem japanischen Zupfinstrument Koto erzeugt und darüber der wellenartige sparsame Hüftenschwinger durch dumpfe Trommeln (Flamenco), das Ganze wirkt spielerisch-lasziv, was auch zum Text passt, denn sie will „dein“ sein für eine Nacht. Als ich auf einer Feier diesen Song vorschlug, meinte ein Bekannter – und es war nicht abfällig gemeint, eher kategorisierend und ein bisschen neckend – „Mädchenmusik“, und prompt hat seine Gefährtin interessiert nach dem Song gefragt. Vielleicht liegt ein wenig Wahrheit darin – denn das Tanzbare kann in Deutschland durchaus geschlechtertrennend in der Bewertung von Musik sein. Und Rosalía ist eben Flamenco-Sängerin! Und sie singt Spanisch! Also Latino! Das ist Tanzen, Tanzen, Tanzen!
Flamenco – harter Sound
Aber der ursprüngliche Flamenco – wenigstens das, was man als nicht Eingeweihter (als Deutscher) kennt – ist eine herbe Kost. Harte, gegerbte Personen in alten schwarz-weiß-Videos, und wenn diese in Farbe sind, blieben sie schwarz-weiß, allemal noch rot, aber von dem Rot, das hart wie schwarz ist. Frauen, die im rasanten Rhythmus kräftig stampfen, Männer die Gitarre schlagen, nicht zupfen, der Gesang peitschend, alles zeugt von trockener Landschaft, schwerem Leben und erschütterndem Ausharren, sich durchschlagen durch den Tanz. Ein Tanz, dessen Leichtigkeit nur in einer darüberliegenden stark durchscheinenden Ebene beim Zuhörenden ankommt, während darunter eben geschlagen und im atemberaubenden Rhythmus gestampft wird. Das kann keiner mal schnell nachmachen, das ist Athletik und Können. Auch der Gesang verwendet raue Töne, eigentlich aufheulender Schmerz, der sich mit den Akkorden der Gitarre erst in Harmonien schwingt, ihn mitzittern lässt.
Zittern in der Stimme
Erst als ich LUX hörte, das diese Flamenco-Pastiche verwendet, hörte ich das Zittern der Stimme als Stil-Element. Die aufschreienden lauten Teile lassen in den leisen Parts die Stimme vibrieren, kratzend, fast krächzend zittern… In einem früheren Song von Rosalía setzt sie diese Technik bewusst ein, das erkennt der laienhafte Zuhörer (ich), daran, dass sie dieses Vibrato im Autotune nachklingen lässt. Eine Lektion für das globale Publikum, das sie missverstehen kann (unter dem ZEIT-Artikel zum neuen Album finden sich Kommentare, die vom „dünnen, zittrigen Stimmchen“ ätzen – wie falsch der Vorwurf!): Schau, ich weiß, es zittert, es gehört dazu, it’s not a bug, it’s a feature!
Wenn TUYA und SAOKO Reggae und latein(amerikan)ische Rhythmen (also karibische) Vibes geben, und meine so – ich glaube, für Deutsche ungewöhnliche – Vorliebe für Lambada/Salsa/Rumba/Chachacha ansprechen – so habe ich jetzt, nach LUX nochmal in ihren vorherigen Werken gefunden, was mich an LUX selbst so überrascht hat: Die ätherischen melancholischen Gesänge, die einen in den Himmel ziehen, vom irdischen Fleischlichen, dem sexgeladenen Hüfteschwingen hinweg zu einem Schweben im Licht (LUX!). Sie hat zum Beispiel in dem Live-Mitschnitt SAKURA schon angedeutet, dass ihr das auch liegt, dass sie per aspera ad astra, aus dem erdgebundenen, staubigen Rhythmus des Flamenco eine Emergenz des Ekstatischen hervorzaubern kann.
Abwechselungsreich
Ich habe noch nie Verständnis gehabt für die Musikhörenden, die von ihren Lieblingen das Immergleiche, das Vertraute verlangen. Was für eine Verschwendung von Talent. Die Extrapolation, die Divergenz, das Dialektische, das Immer-Neue, das Vertraute im Wandel, das Bleiben in der Bewegung, erst das macht doch Musik zur Musik. Auch wenn ich Bach meist an der immergleichen Orgel erkennen kann, so hat er als Komponist erst dadurch seinen Platz in der Ruhmeshalle der Musik erhalten, weil er die Fuge, dieses Wunderwerk des ständigen Abänderns, der Richtungswechsel, die VARIATION schlechthin, zu seiner Spezialität machte . Natürlich werde ich Freddy Mercury immer an seiner Stimme erkennen, aber auf meiner Kassette, die ich von meiner Freundin 1991 erhalten hatte, war eben ein ganzes Buffet an Verschiedenheit zu hören: von dem grandiosen „Barcelona“, natürlich über dem Opernfragment „Bohemian Rhapsody“ hin zu dem erschütternden „Innuendo“ oder dem leichtfüßigen „I wanna ride my bycicle“ und so weiter. Warum kennt jeder auf der Welt „Bohemian Rhapsody“? Weil es nicht nur eine Fusion zweier Genres (Rock und Oper) ist, sondern abwechslungsreich, kontrapunktisch („Scaramouche“ hier, „Scaramouche“ dort, hin, her…, laut, leise) unsere verschiedensten musikalischen Sehnsüchte befriedigt.
Vielleicht geht es nicht jedem wie mir, die ich von Rossini UND Beastie Boys, von Nino de Angelo UND Kurt Cobain, von Yankee Daddy UND Charlotte Gainsbourg begeistert bin (und von so vielen mehr). Aber ich bin überzeugt davon, dass man sich musikalisch fehlernährt, wenn man sich auf ein Genre alleine konzentriert, dass man die echte vollständige Befriedigung bis hin zur körperlichen Erschütterung erst erfahren kann, wenn man sich gegensätzlichen und abwechslungsreichen Erfahrungen aussetzt. Und für mich ist Rosalías LUX vor allem aus diesem Grund eine Offenbarung. Eine Offenbarung aus Stimme und von Licht.
Und hier die Playlist zur Kolumne
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