Guilty Pleasure
Neudeutsch für ein Vergnügen, das nicht uneingeschränkt für Genuss sorgt. Wir bekommen deswegen Schuldgefühle. Aber es ist nicht jedes Mal von derselben Art, das sich dabei einstellt. Loten wir es etwas aus. Eine Kolumne von Chris Kaiser

Im Allgemeinen spricht man von guilty pleasure, also „schuldiges Vergnügen“, wenn man etwas um des Genusses willen mag, aber man glaubt, man sollte es eigentlich nicht mögen. Sei es ein kitschiger Song, ein Dessert, das viel zu fett ist, ein Kleidungsstück, das man liebt, aber das so gar nicht zum eigenen Stil zu passen scheint. Aber ich frage mich dabei – wieso sollte man sich „schuldig“ fühlen? Und warum nicht einfach nur „embarrassing pleasure“, also „(etwas) peinliches Vergnügen“?
„Ich …ähm .. haha…. Ich singe unter der Dusche ABBA-Songs“. Mancher errötet ein wenig, und macht diese Handbewegung, als würde man das Angebotene wieder einkassieren wollen. Hier ist das Singen unter der Dusche – obwohl es wirklich ein sehr häufiges Phänomen ist – in der Kombi mit ABBA – obwohl ABBA nichts zum Schämen ist – schambehaftet. Alleine die Erwähnung weckt im anderen das Bild vom nackten Gegenüber, nass und vielleicht sogar den Duschkopf wie ein Mikro haltend. Und Nacktheit ist Verletzlichkeit, eine offene Flanke, ohne Möglichkeit sich zu verstecken. Wenn man das Singen von ABBA hinzufügt, ist man innen und außen, wenn auch nur erzählt, eben – nackt. Es ist ein bisschen peinlich. Aber wieso „schuldig“?
Die Schuld kommt an einer anderen Stelle, wo wir sie nicht unbedingt erwarten. Wir fühlen uns schuldig vor uns selbst, dass wir das erzählt und dabei ein Stück Würde preisgegeben haben. Wir gestehen, dass wir als Bürger an uns selbst schon das erste Grundrecht unseres Grundgesetzes verletzt zu haben: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Ja, sicher, der Begriff ist nicht in Deutschland alleine gültig und das Wissen um dieses wichtige Grundrecht in seinem Wortlaut führt nicht zwangsläufig zu den Schuldgefühlen bei der „guilty pleasure“. Aber sagen wir es mal anders: Dass es dieses Grundrecht gibt und dass wir uns schuldig fühlen, wenn wir unsere Würde ein Stück preisgeben – das hat einen gemeinsamen Grund, es ist verwandt: Wir sehen uns als vollwertigen Bürger in der Gesellschaft, wenn wir keinen Grund zur Scham vor unseren Mitbürgern haben, also die intakte Würde vorzeigen können. Und wie können wir das Respektieren der eigenen Würde durch andere verlangen, wenn wir selbst zu nachlässig damit umgehen?
Harmlose Vergnügen
Als ich vorhin googlete, wie dieses „guilty pleasure“ definiert ist, führten die Funde meistens zu Blog-Einträgen (von Frauen) und auch zur Frauen-Zeitschrift Brigitte. Es ging um so viele unschuldige (sic!) Bereiche, wo wir den Begriff verwenden: der abgeranzte, nicht mehr moderne Lieblingspulli; das viel zu kitschige Lied, auf dem man ungelenk rumzappeln möchte; sich beim Bingewatching eine Großpackung Eis einverleiben. Das tut keinem weh und braucht auch meist keine Zuschauer. Wir sind selbst schuld (sic!), wenn wir von diesem unbeobachteten Moment anderen erzählen. Ertappt fühlt man sich vielleicht auch, wenn man sich seit Wochen in einer strengen Diät befinden und damit um einiges zurückgeworfen wird, mit diesem Eis und dem Rumfläzen auf dem Sofa. Oder wenn man sich die eigene Spotify-Liste voller cooler Indie-Songs mit Ed Sheeran versaut.
Schuld?
Das große Wort „Schuld“ stört mich aber weiterhin in diesem Kontext. Und dennoch ertappe ich mich später bei einem Gespräch in einer Gruppe, dass ich kokett sage: „guilty pleasure“ und dann genauso ein unspektakuläres Ding erzähle, vielleicht auch angestachelt, mich besonders chique zu fühlen, kosmopolit. WEIL ich den Begriff kenne und richtig verwende. Ich putze mein präsentiertes Image also damit auf, indem ich mich zu etwas „Herunterputzendem“ bekenne. Es hat etwas von der inzwischen verpönten, aber klassischen Bewerbungssituation, in der man von den „eigenen Schwächen“ sprechen sollte, auf die man sich vorbereitete mit Dingen wie „perfektionistisch“, „ich will immer alles gleich erledigen“, „immer alles zu Ende bringen“. Würde jemand im Bewerbungsgespräch bewusst erzählen, dass man während der Arbeit lieber herumsurft oder heimlich trinkt? Nein, man erzählt von „Schwächen“, die mindestens genauso Stärken sein können. Warum sollte ein Chef die Genauigkeit beim Arbeiten als Fehler betrachten.
Und bei anderen staunt man dann, wenn sie sagen: Meine guilty pleasures sind, wenn ich vor dem Spiegel K-Pop-Moves übe, und ich liebe „Felicitá“ von Al Bano und Romina Power.
What? Wo ist das Peinliche? Wer bewundert nicht, dass jemand vor dem Spiegel semiprofessionell Moves einübt. Und Felicitá ist gut gealtert. Ein seichter Popsong ist etwas peinlich, aber ein seichter super-erfolgreicher Popsong aus den 80ern? Al Bano und Romina Power wecken Kindheitserinnerungen bei der Generation Golf und wenn man sich in den Kreisen bewegt, dann werden etliche in der Runde dazu wissend nicken. Etwas peinlicher wäre es, wenn man zugäbe, man geht auf Ü50-Schlagerparties. Man liebt das Tanzen auf Foxtrott und die begeisterte Atmosphäre, aber die Musik bewegt sich am Rand der eigenen Erträglichkeit, und man würde allenfalls Nino de Angelos „Jenseits von Eden“ in der eigenen Playlist dulden und beim Ereignis hoffen, dass auch mal deutsche Welle läuft.
Man flunkert sich besser als man ist
Ich habe den großen Verdacht, man bewegt sich bei dieser Art Geständnissen zu „guilty pleasures“ nicht völlig weg vom eigenen Geschmack, sondern geht nur etwas darüber hinaus. Zum Beispiel so: Die geständige Person hat durchaus gerne mal Indie im Ohr, aber so richtig aus sich raus geht sie mit gängigem Pop aus den 90ern, das ist, was ihr in Wahrheit gefällt. Und dann ist es nicht ganz so weit, Bonney M. und „Ein bisschen Frieden“ neben ABBA (und sowieso der European Song Contest-Historie) zu mögen. Diesen Spagat zwischen dem öffentlich positiven Image des Indie-Hörers hin zu Felicitá erklärt man dann nicht damit, dass man eigentlich Pop mag, und ein paar Indie-Songs und eben auch ein paar seichtere Popsongs, sondern flunkert tapfer, dass der Schwerpunkt des eigenen Geschmacks im oberen Feld der Geschmackshierarchie liegt, bei Indie und dort tun sich dann – huch – solche Wurmlöcher auf, die einen vom Indie, ohne Berührung mit Pop, quasi darüber hinwegfliegend, direkt zu den weiter unten angesiedelten Italo-Schlagern teleportieren. Ach was.
Aus ähnlichen Gründen wäre auch sehr merkwürdig, jemanden zu treffen, der erzählt: Meine guilty pleasure ist, zu Monika Gruber zu gehen. Deswegen unwahrscheinlich, denn Hardcore-Monika-Gruber-Fans sehen das nicht als „guilty pleasure“, sondern haben ihre eigene Subkultur, in der der Besuch der Gruber-Tour als Badge of Honor and of Trotz gilt, sozusagen Punk mit Schnauzer, Goldkettchen und Ballermann-Charme. Zu der Gruberin steht man entweder mit „trotzig pleasure“ für oder gegen sie mit „kotzig unpleasure“. Dazwischen ist nichts. Ein bisschen anders wieder bei Lisa Eckhart. Denn deren berechnende ironische Brechung hält die Balance zwischen Gruberismus und Tucholsky. Und diesmal kein Goldkettchen, dafür Einstecktuch. Der besuchende Intellektuelle erklärt seine Vorliebe und Bewunderung für sie dann auch nicht mit „guilty pleasure“, sondern rationalisiert diese seine Verirrung meistens mit dem ambivalenten Schneid der kühlen Schönheit aus Österreich. Oder man „mag sie einfach“. Der Witz bei Eckhart ist aber auch, dass diese guilt und diese pleasure bei ihr wesentlicher Teil des Bühnenrepertoires ist – gerade beim deutschen Gutmensch mit woker überwundener Dritt-Reichs-Vergangenheit sticht ihre Bühnenvorstellung genau in diese Wunde. Man muss sich diesen Kitzel der guilty pleasure nicht mehr nach der Vorstellung bei Bekannten holen, er ist schon auf dem Theatersessel befriedigt worden.
Es gibt auch tiefere Gründe zum Schuldgefühl
Wenn ich bis jetzt dargestellt habe, dass der Begriff eher mit Koketterie und so ein bisschen peinliches Gucken verwendet wird, als wirklich „guilt“ zu sein, also im Selbst Schuldgefühle zu hervorzurufen, dann gibt es durchaus ästhetische Genüsse, die weit mehr „Schuld“ erzeugen. Diese fühlt man dann auch nicht erst beim Geständnis vor anderen, sondern schon im Augenblick des Konsumierens.
Wie ist das, wenn man Songs von Michael Jackson, P. Diddy, R. Kelly, Rammstein, Kanye West, Crystal Castles hört? Oder Bücher von Marion Zimmer Bradley, Lewis Carroll, Will Vesper liest? Oder Filme mit Klaus Kinsky, von Woody Allen oder Harvey Weinstein anschaut? Kann man die „Cosby-Show“ genauso froh-nostalgisch ansehen wie etwa „Friends“? Wie steht man zu James-Bond-Filmen?
Hier setzt tatsächlich ein Schuldgefühl beim Konsumieren ein. Bei einigen der Genannten gibt es Opfer mit traumatischen Erfahrungen. Und bei einigen sind die Opfer Teil des Erfolgs der Künstler gewesen. Die alte Frage nach der Trennung der Kunst vom Künstler, stellt sich hier in dringender und sehr vorwurfsvoller Form. Ich glaube nicht, dass es eine prinzipielle und immer richtige Trennung von Werk und seinem Schöpfer gibt. Natürlich sind die Werke nicht quasi ein aus dem Künstler herausgeschnittener Teil. Der Künstler SCHAFFT das Werk, es ist von Anbeginn eine selbständige Entität, von der er (sie) sich auch trennt, dadurch entsteht eine Kommunikation mit der Außenwelt, hin zum Konsumenten. Doch – vielleicht insbesondere bei Büchern – besteht der besondere Reiz für den Leser, sich mit Figuren aus dem Werk zu identifizieren, sich reinzuversetzen. Und die Figuren sind oft am zugänglichsten für die Identifikation, in die der Autor seine eigenen Charakterzüge und inneren Welten gelegt hat. Und wenn er (sie) sich als eine Person erweist, mit der man als Leser und Mensch nicht gerne bonden will, dann wird es unschön.
Schwierige Charakterzüge
Marion Zimmer Bradleys erfolgreichste Erzählung ist die weibliche Version der Artus-Sage aus der Perspektive der Morgaine, die in der ursprünglichen christlich-verbrämten Tradition der eigentlichen Rittersage die Böse ist. Die Christianisierung bricht bei Zimmer Bradleys „Nebel von Avalon“ als eine Kalamität über die originäre, harmonische und intakte schamanistische, matriarchal geprägte Kultur ein. Ein Augenöffner für die begeisterten Leser(innen). Als ich im Grundstudium der Germanistik den obligatorischen Einführungskurs in Mediävistik besuchte, beeindruckte mich das Geständnis der Tutorin, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich überhaupt in die eigentlichen Artus-Sagen einzulesen, weil sie sich ertappte, dass für sie „Nebel von Avalon“ DER Archetypus der Erzählung geworden war. Ein emanzipatorischer Gedanke durch ein emanzipatorisches Werk.
Doch dann kam 15 Jahre nach dem Tod der Autorin der Vorwurf, dass sie mit ihrem Mann zusammen mehrere Kinder, darunter ihre eigene Tochter, schwer missbraucht hat, auch sexuell. Hier – wie trennt man Werk vom Autor, wenn das Beschriebene politisch wirkt, und zwar im Sinne des feministischen Credos: Das Private ist politisch, das Politische ist privat. Wie kann ich dem Sentiment TRAUEN, das das Beschriebene in mir weckt, wie kann ich überhaupt dem Geschriebenen erlauben, mich in meinem Innersten zu berühren, wenn es von jemandem kommt, der sich an Kindern gewalttätig vergriffen hat. Wenn in ihrem Buch ein Inzest als das gute schamanistische Ritual beschrieben wird, das die Christenheit bösartig mit Scham belegt – wird dann das Gewicht einer solchen Aussage nicht erdrückend, ja erstickend? 2014, als das Ganze rauskam, erschütterte es die ganze Fangemeinde für Jahre.
Man weiß es nicht immer genau
Bei Lewis Caroll liegt der Fall komplizierter. Seine „Alice im Wunderland“ und deren Fortsetzungen tragen das Kennzeichen der offen kommunizierten Vorliebe des Autors für kleine Mädchen, denen er viele bewundernswerte Eigenschaften in seinen Büchern verlieh und zu den einzigen menschlichen Figuren seines Panoptikums machte; aber auch die vielen ikonischen Einfälle, die man heute „Memes“ nennen würde: der verrückte Hutmacher, die Grinsekatze, der „Iss-mich-Kuchen“ usw. All dieses begeisterte ganze Generationen von Kindern und Erwachsenen. Dieses klingt solange unschuldig, bis man spätestens im 21. Jahrhundert lebt mit all seinen Warnungen und Erzählungen von Missbrauch an Kindern – da fangen die Alarmglocken an, schrill zu läuten. Andererseits sind Lewis Carrolls mathematischen Rätsel eine Quelle wissenschaftlichem Staunen – und was kann weiter weg von einer schmierigen Frühsexualisierung sein als Mathematik! Tatsächlich bleibt ein ewig ambivalentes Mysterium zurück, das wohl nie gelöst werden wird. Es gibt plausible Indizien, dass Lewis Carrolls Begeisterung für kleine Mädchen nicht so rein war, aber es ist eben auch vieles, das missverstanden werden kann. Wir weigern uns zu Recht, mit unserem jetzigen Blick auf eine historisch zurückliegende Epoche zu werfen, in der es zwar genau wie heute auch Pädophile gab, aber vieles vielleicht von uns unfair behandelt wird, weil andere gesellschaftlichen Normen, andere Codes, andere Ausdrücke von Herzlichkeit etc. den Umgang miteinander regelten. Lewis Carrolls Vorliebe für kleine Mädchen wich damals schon von der Norm ab, aber seine Bücher waren ein sich sofort einstellender Erfolg. Stimmt dieser kritische Blick von heute mit dem von früher überein? Nein, tut er nicht, aber das Gegenteil eben auch nicht. Wir können es einfach nicht genau wissen. Ambiguität wirkt in beide Richtungen, und im Zweifel sollte man für den Angeklagten sprechen Opfer, die sich darüber äußern, sind nicht aufzufinden.
Bücher und ihre Botschaft
Will Vesper ist nicht jedem ein Begriff, aber er spielte in meinem Leben eine wichtige Rolle. Ich hatte in meiner Kindheit in Rumänien immer Hunger nach neuem deutschen Lesestoff; und so las ich alles, was mir in die Finger geriet. Im Haushalt fand sich dieses etwas zerfledderte Buch in Fraktur: „Gute Geister“ von Will Vesper. Kurze Erzählungen, die alle eine Moral enthielten, oder aber eine kleine Weisheit. Ich liebte einige Geschichten sehr, andere gingen mir etwas nach und haben mir später womöglich das eine oder andere Mal ethisch Rat gegeben. Wie erstaunt und auch entsetzt war ich, als ich als Erwachsene las – Danke, Internet!–, dass Will Vesper Haus- und Hof-Schreiberling der Nazis war. „Gute Geister“ hat er zuerst 1921 veröffentlicht, also in sicherem Abstand zu 1933? Nein, im Gegenteil, der Autor war schon damals, bevor er es „musste“, Sympathisant und Jünger der faschistischen Ideologie. Das ist dann schon eine sehr prekäre Situation, denn hier waren somit Geschichten eines strammen Nazis Teil meines ethischen Fundaments geworden. Ich hatte davon keine Ahnung, als ich es las, also war ich zu der Zeit auch nicht von Schuld belastet. Aber wie, wenn da ein Keim in mir schlummert, den ich so unbedarft eingegraben habe? Und sind viele ethische Überlegungen, die ich bisher führte, jetzt zu revidieren? Um ehrlich zu sein, hat es mich weniger getroffen, als ich hier dramatisch ausführte, aber es hätte sein können. Richtigerweise hätte es sein müssen. Und so liegt die Schuld („guilt“), die ich fühle, darin, dass ich meine Ethik nicht einer gründlichen Revision unterzogen habe, ja nicht einmal das Problem ausreichend gewürdigt habe. Die Faulheit und die Gleichgültigkeit überdecken das Schuldbewusstsein, das sonst da wäre.
Nun besetzen Bücher und Geschriebenes dieselbe Ebene wie die Botschaft, die sie transportieren. Die Bücher und das Geschriebene IST die Botschaft. Und wenn es die Botschaft ist, dann habe ich keine Möglichkeit, das Werk davon zu lösen. Es ist entweder explizit und bewusst eingesetzt vom Autor als Teil des Programms beim Nazi Vesper, implizit bei der Inzest-mythisierenden Feministin Zimmer Bradley, oder ambivalent beim mädchenbewundernden Logiker und Mathematiker Lewis Carroll.
Musik und Musiker
Bei Musik und Musikern wird es etwas komplizierter. Michael Jackson hat Musik gemacht und war auch – wahrscheinlich – pädophil, was sein Projekt Neverland Ranch in ein sehr düsteres Licht taucht. Ansonsten ergab seine neurotische Persönlichkeit, seine nach und nach als problematisch und traumatisch erkannte Kindheit im Zusammenhang mit seinem unfassbaren Erfolg in den 80ern und 90ern immer schon eine abgehobene und nicht ganz irdisch zu fassende Figur ab. Es gibt bei einer solchen Person nicht die Möglichkeit, sich als Konsument seiner Werke mit ihr zu identifizieren. Er war in einer völligen Parallelwelt, aus der er ab und zu ins Irdische herabstieg, um seine legendäre Choreografie und seinen bahnbrechenden künstlerischen Wahnwitz der Welt zu schenken. Für die afroamerikanische Gesellschaft war er lange ein Idol, aber seine zunehmende „Whiteness“ entfremdete ihn auch davon. Das Kunstwerk, die Kunstfigur, die in seinen ikonischen Videos auftrat, war schwerlich dieselbe wie die Person dahinter. Die Vorwürfe, er habe sich systematisch und geplant an Kinder vergriffen, haben mit der skandalträchtigen Gestalt mit Maske und Haustier-Affen zu tun, aber nicht mit dem Thriller-Künstler, nicht mit dem ersten jemals gezeigten Morphing-Video der Welt und so weiter. Das, was er künstlerisch ins Rollen brachte, lässt sich kaum überschätzen und hat bis heute Auswirkung im besten Sinne. Seine, eigentlich unverzeihlichen zu verzeihen, das soll den Opfern überlassen werden. Er hatte aber sein künstlerisches Vermächtnis schon abgeschlossen, als er 2005 vor Gericht stand. Und kaum vier Jahre später starb er, der schon lange fern von Natürlichem war, auch eines unnatürlichen Todes: einer Überdosis von Medikamenten.
Rammstein
R. Kelly, P. Diddy und Rammstein fallen ein bisschen in ein und dieselbe Kategorie, wenn sich die Fälle etwas im Detail, und vor allem bei dem deutschen Rammstein-Vorsänger Lindemann in der Monstrosität, Quantität und juristischen Ausgang unterscheidet. Es geht um den Vorwurf, den eigenen massiven Erfolg, die Überlebensgröße auf der Bühne und in der Szene zu benutzen, um weibliche Fans und Frauen aus der privaten Umgebung sexuell auszubeuten, im Falle der beiden Rapper aus Amerika gegen Frauen sogar gewalttätig zu werden. Man kann den juristischen Ausgang der Prozesse um diese strafrechtlich relevanten Vorwürfe als Maßstab nehmen, wie man zu den drei Künstlern steht. Rammstein setzte nach der niedergeschlagenen Klage gegen Frontsänger Lindemann erfolgreich seine Tour in 17 Ländern fort. Nicht nur das, der Sänger klagte auch gegen eine Berichterstattung, die ihn nur ansatzweise ins Licht der 2023 virulenten Vorwürfe stellte. Und die juristisch sich als nicht wasserdicht gezeigten Vorwürfe, die zu dem skandalgetriebenen Medienhype führten, haben eher die positive Aufmerksamkeit verstärkt . P. Diddy und R. Kelly wurde beide verurteilt, die Vorwürfe sind auch um vieles schwerwiegender als bei dem deutschen Künstler. Es geht um handfeste Sachen, wie Kidnapping Minderjähriger im Fall R. Kelly, der für so lange ins Gefängnis kam, dass die Karriere objektiv beendet ist. R. Kelly und P. Diddy waren sehr erfolgreiche und auch bahnbrechende Künstler. Mit dem Wissen um ihre schwere Delinquenz allerdings erhalten ihre Texte um Liebe und Sexualität einen Nachgeschmack. Aber wie bei Lindemann – bei dem seine Hörer zumindest darauf verweisen können, dass er von allen Vorwürfen freigesprochen wurde – führte die aufgeheizte Skandal-Berichterstattung um den Prozess eher dazu, dass noch mehr Menschen die Musik hörten. In Zeiten, in denen ein Mensch nicht trotz offensichtlicher Vulgarität, Misogynie, intellektueller Minderbemitteltheit, sondern genau deswegen zum Regierungschef gewählt wird, ist es nicht verwunderlich. Der jetzige Mensch sucht sich seine Helden im Kampf GEGEN – und nicht FÜR Anstand und Moral.
Es wird düster in Pleasureland
Wie sind wir jetzt nur von der guilty PLEASURE zu dieser düsteren Erkenntnis gekommen? Oder ist bei vielen das Vergnügen umso größer, je dunkler und düsterer die Kunst sich in uns einhämmert? Wenn man nur lang genug warten muss, dass auch jeder einzelne der geliebten Autoren, Filmemacher, Musiker sich als gefallene Lichtgestalt zum Lucifer wandeln, wird man nicht irgendwann einmal mit Kunst nichts mehr zu tun haben wollen? Oder im Gegenteil erst dann Kunst als solcher trauen, wenn sie auf der dunklen Seite der Macht auftaucht? Doch wollen wir wirklich so zynisch werden, dass wir nicht mehr daran glauben, dass Menschen für das Gute, Schöne und Wahre stehen können? Am Ende haben beide Denkrichtungen Recht und Unrecht zugleich. Die einen, die sagen, dass die hohe Erwartung an Moral in der Kunst unweigerlich zur Cancel Culture führt, und die anderen sowieso, dass Kunst uns zu nahe geht, um skrupellos und mit zweifelhafter Moral sich in uns einzunisten. Kunst an sich KANN a-moralisch sein, also frei von einer moralischen Bewertung. Aber wenn sie die Moral des Künstlers in sich trägt, dann obliegt es jedem einzelnen von uns als Konsument, jedes Mal neu und für sich selbst, zu entscheiden, für oder gegen dieses Werk zu sein. Ihm Macht zu verleihen oder nicht. Es ist meine Sache, wie ich es sehe. Denn vor der Kunst (und allem andern) kommt immer noch und immer wieder der einzelne, der individuelle Mensch. Denn seine Würde ist unantastbar.
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