Wir gaffen
Hier soll es nicht um die juristische Auslegung des Gesetzes gehen, sondern eher, was der deutsche „Gaffen verboten“-Paragraph für uns bedeutet und wie wir damit umgehen. Aber wir können mit dem Juristischen anfangen und danach in die eigene Seele blicken. Kolumne von Chris Kaiser.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Das Anti-Gaffen-Gesetz gibt es noch gar nicht so lange. Ab 2015 gibt es Strafen für denjenigen, der hilflose Unfallopfer fotografiert oder filmt. In seiner jetzigen Form ist das Gesetz seit 2021 in Kraft. Vor allem ist hinzugekommen, dass nicht nur die Würde lebender und hilfloser Personen gewahrt werden soll, sondern auch die von Toten.
Aber handelt es sich wirklich um das „Gaffen“, also dieses Verharren auf einem Platz, mit weit aufgerissenen Augen und dabei sich kein Detail des Unglücks entgehen lassen? Letztlich nicht. Es ist nicht verboten, Menschen beim Sterben zuzusehen oder einen Rettungseinsatz mit den Augen zu verfolgen. Aber so ziemlich alles, was dieses „reine Gaffen“ mit sich bringt, das schon.
Da ist das Strafgesetzbuch mit den beiden Paragraphen 201a und 323c und die Straßenverkehrsordnung. Wer beim Rumstehen den Rettungseinsatz und somit das Leben des Opfers gefährdet, oder dann sein Handy zückt, um Bilder macht oder sogar auf die diversen Social-Media-Kanäle hochlädt, der verletzt massiv die Persönlichkeitsrechte des Opfers. Und wenn man dann noch so nahe hingeht, dass man dem Rettungspersonal oder anderen Hilfeleistenden im Weg steht, kann das im schlimmsten Fall den Tod des Opfers nach sich ziehen. Und wenn noch gar kein Retter da ist, man aber das Handy nicht für das Wählen des Notrufs sondern zum Fotografieren für die Community und Erhaschen von ein paar Likes auf Instagram hinhält, dann fällt das zusätzlich unter unterlassene Hilfeleistung.
Wer kennt das nicht
Doch wer kennt die Situation nicht, wenn man auf der Autobahn fährt und auf der Gegenspur das Blaulicht blinkt und ein zerbeultes Wrack von Feuerwehrleuten und Rettungssanitätern umringt ist, dann ist für manchen die Versuchung groß, auf der linken Spur abzubremsen, um besser hinsehen zu können. So kommt es dann zum Stau in beide Richtungen, obwohl der Unfall nur auf einer Seite stattgefunden hat.
Im Urlaub vor zwei Jahren habe ich im osteuropäischen Ausland als Beifahrer eine Situation gesehen, bei der ich nicht sicher bin, ob die Personen, die am Straßenrand seltsam herumsaßen, heute noch leben. Der Unfall war übrigens schon eine Viertelstunde vorher auf Google Maps eingetragen und Rettungspersonal war schon da. Ich konnte nicht anders, ich musste hinsehen. Auch wenn ich nichts mehr tun konnte, als schon getan wurde.
Und als wir vor drei Jahren in den Pfingstferien in den Süden fuhren, wurden wir vom Navigationssystem auf eine Ausweichroute geschickt. Dann erkannten wir auch wieso, denn wir fuhren nur wenige hundert Meter entfernt an einer umgekippten roten Bahn vorbei. Der Fahrer konzentrierte sich auf seine Aufgabe, aber wir Mitfahrer fühlten den After-Schock der Nachricht von vor drei Tage, als 5 Menschen bei Garmisch-Partenkirchen starben. Nachdem allen im Auto klar war, was das ist, starrten wir nur noch wortlos auf das Wrack.
So viel Schreckliches passiert
Und jedes Mal, wenn eines dieser schrecklichen Ereignisse der letzten 25 Jahre passierte, ob Anschläge oder Amokläufe, dann konnte ich zum Teil tagelang nichts anderes machen als nach Nachrichten suchen, düster darüber brüten und dann wie gelähmt herumliegen. Der Brüsseler Airport mit der mitlaufenden Überwachungskamera, als die wartenden Menschen plötzlich im Staub verschwanden, in dem man das Grauen gerade so ahnen konnte. Natürlich war genau deswegen dieser Clip zugänglich, er versteckte das Schlimmste.
Die Doku auf Netflix über das Massaker in Paris, im Bataclan, mit den Überlebenden, die erzählten, wie sie den Attentätern in die Augen blickten, wie sie in den Gängen des Gebäudes herumirrten, wie sie Geiseln waren …
Ich habe monatelang nachts vorm Einschlafen Szenarien im Kopf abspielen lassen, bei denen ich „das Richtige“ tue, um zu überleben. Oder wo ich möglichst viele überleben lasse. Wie ich dem Terroristen die Waffe entreiße und ihn selbst töte und mit der Waffe weiterlaufe, um die anderen Täter zu finden. Das absurde und unrealistische, aber auch unlösbare Dilemma im Kopf: Wirst du, wenn du die Waffe trägst, nicht fälschlicherweise für einen der Terroristen gehalten?
Aber nicht nur solche Gedanken. Beim Amoklauf im Münchener Olympia-Center blieb haften, dass auf einem Videoclip die Leute an der Kamera vorbei um ihr Leben liefen und nachdem dieser Clip so oft abgespielt wurde, kannte man schon die paar Menschen darauf. Und irgendwo auf irgendeiner obskuren Seite gab es das Foto mit den von hinter den Absperrungen auf dem Boden liegenden Körper. Und einer hatte – vielleicht? – dieselben Kleider an wie einer der laufenden jungen Menschen im Clip. Dieses „Jetzt noch da – und dann schon tot!“ ließ mich ordentlich schlucken. Und ich ließ diesen empathischen Schmerz – junge Menschen! Ich habe auch Kinder! absichtlich – aber auch zwanghaft – mehrere Male über mich hinwegschlagen, bis er etwas dumpfer wurde.
Ich weiß nicht, ob es anderen auch so geht wie mir, wenn sie sich als Katastrophen-Voyeure im Netz betätigen. Sicher, es gibt diesen Wettbewerbs-Gedanken: Wer kann mehr finden als die anderen, wer noch schlimmere Bilder ansehen. Das ist nicht meins, aber vielleicht ist es auch nur eine Variante von dem, was meine Zwangshandlung des Suchens, Immer-Wieder-Erleidens, In-Gedanken-Mitgehens ist. Auch wenn man sich Manches nicht vorstellen kann, was der eine oder die andere für Verstörendes in sich trägt.
Fiktion des Grauens
Ich lese übrigens sehr ungern Romane, in denen in den Kopf von serienmordenden Psychopathen hineingeschaut oder sogar in seine Haut geschlüpft wird. Ich will das nicht wissen. Und dennoch ist das wohl ein Genre, das recht gut zieht, also übt es auf viele Menschen eine Anziehungskraft aus. Sicher – es soll schon mal echte perverse Mörder gegeben haben, die das, was sie sich vorher nur vorstellten, gerne in Echt selber tun wollen. Aber die Zahl dieser Klientel ergibt noch keinen Bestseller. Also ist bei der Masse der Leser etwas Normaleres am Werk. Es kann auch sein, dass es so schön wohlig schauert, dass man es liebt, dass man dieses Gefühl der Angst in einer sicheren imaginierten Umgebung spürt. Aber ja, eben nur in dieser sicheren Umgebung. Nicht in Echt.
Ich las gerade über eine Journalistin, die sich mit den grausamen Folgen der Drogenpolitik des Junta-Regimes Duterte auf den Philippinen beschäftigte und wie sie mit professioneller Präzision und tiefer Leidenschaft für das Gute, diesen Alptraum ihres Heimatlandes von Nahem betrachtete und darüber schrieb. Als sie für ein paar Monate in den USA weilte, so verriet sie lächelnd, entspannte sie sich mit dem Anschauen von True-Crime-Stories. Ihre Erklärung: Die Verbrechen im Fernsehen wurden alle aufgeklärt, IHRE Morde hingegen waren bleibende Alpträume, die das fanatisierte und korrupte Regime zum Alltag der Bewohner werden ließ.
Vielleicht ist es so ähnlich wie das Anschauen von Gruselfilmen. Bei diesen gibt es welche, die können bis ins Mark erschrecken, und es soll nicht wenige Hartgesottene geben, die sich auf ihrer Couch genau diesem Gefühl hingeben. Immer und immer wieder. Einige werden wohl genau etwas fühlen wollen und andere wollen sich mit diesem Gefühl vertraut machen, es normalisieren. Gerade Liebhaber des Genres werden wohl kaum deswegen Fans, weil der Grusel an ihnen vorbeigeht. Somit – egal, ob sie das Kitzeln des Adrenalins brauchen oder gerade das Überwinden des Kitzels – es ist dennoch irgendwo ein Hineinfühlen, ein Antesten des realen Grauens. Eintauchen – Auftauchen. Kontrolle.
Ob unbewusst oder bewusst – wir testen für den echten Ernstfall
Und Gaffen – wenn wir jetzt von all den strafbewehrten Begleiterscheinungen absehen, also das Hinsehen an sich – das ist auch ein Gewöhnenwollen an, ein Überwindenwollen des Überwältigtseins. Es ist eine Übung in Resilienz. Das Ziel ist, von einer realen Situation nicht in die Lähmung überrumpelt zu werden. Weil man es schon mal gesehen hat, weil man die Folge kennt. Weil man sich kurz überlegt hat, es so oder so besser zu machen. Und es ist wichtig, dieses Ziel im Blick zu behalten. Sonst wird man irgendwann den Ernstfall haben und die ganze angeübte Resilienz ist mit einem Schlag umsonst gewesen. Denn sie führte nicht zum besseren Umgang mit der Situation.
Wenn man das Ziel aus den Augen verliert, dann ist der Schritt schnell passiert, dass man die Würde des anderen verletzt, oder steht im Weg herum. Oder man hat einen Auffahrunfall verursacht. Also sollte man diesen Drang zum Gaffen von diesen begleitenden schädlichen Angewohnheiten trennen. Nur der Teil, der eine evolutionär wichtige Einstellung zu sein scheint, den sprichwörtlichen Autounfall am besten in Zeitlupe sehen zu wollen, der ist nunmal da und sollte an sich eben nicht als moralische Verletzung gesehen werden. Wir schauen eben.
Man möchte sich hineinversetzen, in diese schreckliche Situation, ohne das Risiko der echten Situation. Und erst wenn man es versäumt, den weiteren Schritt zu tun und sich eben auch hineinversetzt und hineinhorcht, ob man an der Stelle genauso angegafft, fotografiert und im Netz verbreitet werden will – dann wurde das ethische Tabu gebrochen worden und das findet sich richtigerweise auch im Gesetz wieder.
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