Beamen ist ein bisschen wie sterben
Bücher und Filme brauchen nicht weniger, sondern mehr Triggerwarnungen. Wie Star Trek und Stanislaw Lem mir eine Lebenskrise bereiteten. Eine Kolumne von Chris Kaiser

Bild von Sabine van Erp auf Pixabay
Das Altern kann eine richtige Last sein. Und tritt manchmal so plötzlich auf. Der Körper macht auf einmal nicht mehr alles mit, so viele Haare sind quasi mit einem Schlag grau, die Brille muss alle zwei Jahre angepasst werden und die Haut ist so, wie man es immer bei der Großmutter gesehen hat – die man ja als alte Frau betrachtet hat. Man rechnet nach und staunt – man ist im Alter der verstorbenen alten Dame näher als dem jungen Menschen, der von ihr zur Volljährigkeit den Führerschein geschenkt bekommen hat.
Warum erschreckt einen das so? Ist es der wahrscheinlicher werdende Tod? Oder genau dieser verfallene Zustand, der einen körperlich behindert? Oder ist es schlicht das schwer auszuhaltende Wissen, dass man sich aus dem Pool der fuckable persons immer mehr herausgealtert hat?
Alte Filme mit jungen Schauspielern
Es hat mich immer wieder erschüttert, wenn ich alte Filme mit – damals – jungen Schauspielern sehe, die heute voller Falten und mit gebrechlichen Körpern auf den Sofas der Talkshows sitzen. Noch gruseliger wird es, wenn ich alte Stummfilme sehe und weiß, dass die Schauspieler alle schon längst und spätestens an Altersschwäche gestorben sind. Es muss wirklich grausam sein, sich selbst als intakten bewegten Charakter auf der Leinwand sehen zu können, während man selbst völlig anders geworden ist und nicht zum Besseren. Es erschütterte mich aus Empathie so sehr, dass ich glücklich war, keine Filme über meine Kindheit und Jugend zu haben. „Das bin ich! Aber ich bin‘s nicht mehr!“ würde es in mir schreien.
Plötzliche Erkenntnis
Eine andere Sache, die mich vor ein paar Jahren erschüttert hat, so richtig mit gruseligem kalten Schauer über den Rücken laufend, trat auf, als ich eine Stanislaw-Lem-Geschichte las. Ich weiß nicht mehr genau, welche es war, ich weiß aber noch, dass ich – von der Erzählung inspiriert – plötzlich an Star Trek denken musste, genauer: ans Beamen. Es fiel mir einfach so, mit einem Mal, wie Schuppen von den Augen, dass „Beamen“, wie es dort in der Fiktion dargestellt wurde – basierend auf wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit der technologischen Zukunft – dass es Folgendes hieß: Man geht als lebender Mensch in eine Desintegrationsmaschine, wird in einzelne Moleküle und diese in reine Energie umgewandelt, und dann schickt man die Information all dieser Moleküle in eine ferne Region, wo man aus reiner Energie einen völlig neuen Körper erstellt, dem man alle Eigenschaften des alten Körpers gibt. Der neue Körper „denkt“ er sei der alte, denn er hat die Erinnerungen im Gehirn gespeichert, hat alle körperlichen Zipperlein und Narben und Eigenheiten mitbekommen. Ebenso wird jeder, der mit dieser Kopie zu tun hat, keinen Unterschied erkennen, für die ganze Welt UND dem Klon wird alles beim Alten sein. Nur – der alte Körper ist völlig weg. Das ganze Sein des Ursprungsmenschen ist weg, er ist schlicht tot! Da wird kein mysteriöses Bewusstsein oder eine Seele übertragen. Da wird lediglich mechanisch ein Körper auf rein physischer Basis rekonstruiert. Und dieser hat eben in der physikalischen und chemischen Zusammenstellung die „Speicherplatte“ des Ursprungsmenschen geklont.
Wenn man so will, könnte man es so formulieren: Der neue Körper nach dem Beamen hat alles mit dem alten zu tun, aber der alte hat mit dem neuen nichts mehr zu tun, weil er einfach pulverisiert wurde. Es gibt ihn schlicht nicht mehr.
Wege aus der Sackgasse
Wenn mich etwas so Aporetisches (also etwas Auswegloses, wie in einer Sackgasse) beschäftigt, dann arbeitet mein Gehirn sofort daran, diese Aporie aufzulösen. Es muss etwas geben, das – zumindest für mich, selbst in einer völlig aus der Luft gegriffenen Vorstellung – einen Sinn, eine Lösung, eine Rettung ergibt.
Das Problem mit dem gealterten Schauspieler tänzelte zu dem Zeitpunkt schon etwas länger in meinen Gedanken herum. Eine etwas provisorische Lösung dazu hatte ich mir schon ausgedacht: Man sollte sich alte Filme von sich nicht ansehen – dann vergleicht man auch nicht. Aber diese Beam-Geschichte, die befiel mich an einem ruhigen Winterabend vorm Kamin, als ich eben entspannt den wunderbaren Erzähler Lem lesen wollte. Sie setzte so plötzlich ein, dass ich erstarrt das Buch fallen ließ und meine Gedanken liefen Amok, panikartig nach Flucht- und Entrinnungsmöglichkeiten suchend. In meinem Alter war es nicht das erste Rodeo, ich kannte diese Art von Situation, ich wusste, es geht vorbei. Irgendwann. Doch, immer noch in diesem frenetischen Suchen in meinem Kopf, fiel mir diese andere, irgendwie mit dem aktuellen Angstzustand verwandte Fragestellung ein: „das Problem mit dem gealterten Schauspieler“.
Wie bin ich damals damit zurechtgekommen, lässt sich das übertragen auf die neue verstörende Situation? Und als meine Gedanken, die einerseits im quasi kopflosen und untröstlichen Zustand herumliefen, während andererseits ein gewisser Teil davon sich zwang, erwachsen zu reagieren und aus einer etwas entfernten Warte, den Umgang mit mir selbst wieder zu ermöglichen, indem es sich aus vergangenen Erlebnissen Wissen holte, machte es plötzlich „BAMM!“ und ich wurde mit einem Male wieder ruhig.
Was war passiert? Hatte ich aufgegeben? Hatte ich den Sturm überstanden? Das wäre sicher sowieso irgendwann eingetreten. Es ist schließlich ein theoretisches Problem. Es war nur eine Erschütterung meiner Sicherheit, wenn ich etwas Beruhigendes brauche, eine Möglichkeit war, Star Trek zu schauen. Wo alle Konflikte sich innerhalb der 45 Minuten der Episode auflösten. Und selbst Fehlfunktionen des Beamers keine bleibenden und universellen Schäden auslösten. Wäre doch alles im Leben so einfach! Und mit der verdammten Erzählung von Lem war eben diese Erkenntnis über die selbstmörderische Freiwilligkeit der Protagonisten beim Beamen etwas geworden, das nicht mehr, nirgends in keiner der Folgen auflösbar ist. I can’t unsee it! Ärgerlich. Das wird in Zukunft an meinem Seelenfrieden knabbern.
Minus und Minus ergibt Plus
Nein, der Sturm war nicht einfach überstanden. Er war bekämpft worden! Mit einem anderen Sturm. Minus und Minus ergab Plus!
Gibt es vielleicht etwas, dass wir selbst ohne Beamer-Technologie auch so ein vollständiges Austauschen erfahren? Was, wenn unser jetziges Ich alles mit dem früheren Ich zu tun hat, für alle anderen wir unser altes Ich sind, aber das alte Ich nichts mehr mit dem Jetzt-Ich zu tun hat? Das frühere Ich weiß ja nichts von dem, was das Jetzt-Ich weiß. Jeden Morgen wache ich nach dem Schlafen auf und starte den Tag und erfahre Dinge, erinnere mich an den letzten Tag, an das letzte Jahr, an das letzte Jahrzehnt. Aber das Ich von gestern, vom letzten Jahr und das von vor zehn Jahren – das weiß nicht, wo ich heute stehe. Es teilt mir ein paar Erinnerungen mit, ich jedoch mit ihm meine Gedanken darüber nicht. Und auch diese Erinnerungen sind, wenn ich genau darüber nachdenke – vielleicht nicht so richtig und wahr, wie sie sein könnten. Es gibt ganz sicher Fehler in der Übertragung auf das Jetzt-Ich.
Wie oft kommt es vor, dass man einen Film sieht, den man früher so liebte, oder ein Buch wieder liest, von dem man vor 20 Jahren beeindruckt und inspiriert wurde, man sich an ein Detail erinnert, das einem wie fest eingebrannt erschien – und dann liest man oder sieht man das wieder und findet diese Resonanz in einem nicht mehr wieder. Die Stelle im Buch, an die man sich angeblich so genau erinnerte, weil sie so wichtig wurde im Leben, man hat sich daran geklammert, sich damit aus dem Sumpf geholt, die Motivation genutzt, diese Stelle war doch da …. Oder? Sie kann nicht weg sein, es ist doch dasselbe Buch. Aber sie erscheint mir nicht mehr. Sie hat keine Leuchtkraft mehr, versteckt sich im Obskuren der vielen anderen Buchstaben. Womöglich hat man die Worte anders abgespeichert, als sie verbatim da stehen. Sie wurden für das damalige Ich passend zurechtgestutzt und erhielten eine neue Form in der Erinnerung. Wie soll ich eine solche veränderte Buchstabenreihe in mehreren hunderttausend anderen Buchstaben erkennen?
Diese einfache Paarung – Ich und das Buch wie damals – sie reicht offensichtlich nicht aus, um diese bestimmten Buchstaben wieder zum Leuchten zu bringen. Und wenn das Reenactment dieser einfachen Versuchsanordnung nicht zum selben Ergebnis führt – wie unsicher sind dann Erinnerungen, die sich mit der eigenen Bedeutung in meinem Gedächtnis befinden? Ich kann deren Ursprungs-Situation anders als beim Buchlesen aus technischen Gründen nicht mehr kopieren, kann mich also nur auf die Erinnerung selbst stützen – aber sie ist offensichtlich nicht eine reine Dokumentation des Geschehenen, sondern hat sein eigenes Leuchten und seine eigene Form erhalten. Sie gehören zum Jetzt-Ich, da haben sie ihr Sein, nicht jedoch im Damals-Ich. Und die Variable ist das dazu passende Ich. Es ist eben ein anderes.
Wann wird man ausgetauscht?
Man kann die etwas absurde Frage stellen : Gibt es, wie beim Beamen, einen bestimmten Punkt im Tagesablauf, an dem man „ausgetauscht wird“? Ist es wirklich der Schlaf, nach dem man dann als „neuer Mensch“ aufsteht? Klingt verführerisch einfach, sich diese Antwort zu suchen. Tatsächlich könnte man einen gewissen „Reset“ der Gedanken darin sehen. Man knüpft nicht nahtlos an das Denken des Abends davor an, wenn man früh aufsteht. Die Welt sieht anders aus, alleine, dass dazwischen ein paar Träume lagen, die sich unbewusst oder auch bewusst in den Gedanken herumtrieben. Und körperlich: Man tauscht angeblich alle ca. 7 Jahre alle Moleküle einmal aus – je nach Organ und Gewebe mit unterschiedlich langen Zyklen. Das sind alles keine 1:1 Vergleiche mit dem Beamen, wo alles auf einmal und ganz offensichtlich geklont wird. Aber irgendwie in einem ungleichmäßigen Rhythmus, beständig – vielleicht so.
Nachdem ich diesen Gedanken gefasst hatte, nachdem, das, was mich beim Beamen so erschreckte, in das Allgemeine, Alltägliche übertragen wurde – das was mir ständig passiert – verlor es sein Grauen. Es dauerte ein bisschen, mich daran zu gewöhnen, meine Person nicht mehr in einer kontinuierlichen Form zu sehen. Dieser Blick aber löste nach und nach die deprimierende Vorstellung auf, dass das physische Jetzt-Ich immer nur ein verfallenes Vor-Ich ist, immer schlechter als vorher, immer mehr zur Ruine der vergangenen Glorie wurde. Es wurde dafür eine eigene Person, das Jetzt-Ich erhielt seine ureigene und autonome Identität. Das frühere Ich wurde vielmehr eine unendliche Reihe von Vor-Ichs, die ich gut kannte, deren Gedanken ich besser als jeder andere verstehen konnte, aber eben nicht genauso dachten, ja nicht mal mehr dasselbe sind. Sondern etwas, das ich manchmal bemitleide, manchmal mich mit ihm freue, ihm quasi von ferne zunicke.
Versöhnung
Wenn ich Fotos oder Filme von mir sehe, habe ich keine Verlust-Gefühle, denn wenn ich weiß, dass jene Person nicht dieselbe ist, wie ich, wenn auch in besserer körperlicher Verfassung, sondern sich eher in einer gewissen „Verwandtschaft“ zu mir befinden, dann kann ich mich, wie ich jetzt bin, besser wertschätzen. Jedes Zipperlein und jedes graue Haar, jede Hautfalte – sie sind meine, die ich jetzt habe, die mich ausmachen. So wie ich jetzt bin. Und ich bin so und nicht anders. Und die Person auf dem Bild ist so wie SIE ist und nicht anders, und auf keinen Fall wie ich. Ich sehe dieses frühere Ich auch nicht als unfertig an, als ein Proto-Ich, das zu dem – tollen – Jetzt-Ich führt, das ich jetzt bin (bin ich das überhaupt?). Sondern ein Ich mit eigenständigem Denken und Leben, eines, das ich vielleicht ein bisschen verstehe.
Nichts versöhnt mich mehr mit meinem immer weiter alternden Zustand als das, ihn in seiner Jetzigkeit zu begreifen, ohne immer wieder die Verbindung zu früher herzustellen. Und das zukünftige Ich – für das muss ich ab und zu ein bisschen vorsorgen, damit es nicht zu schwer zu tragen hat, aber vielleicht verzeiht es mir Nachlässigkeit genauso gut, wie ich meinen früheren Ichs verzeihe. Denn diese hatten ihre eigenen Kämpfe und sollten nicht ständig sich für mein Jetzt-Ich vorausgaben. Ich halte sie auch nicht für verantwortlich. So kann ich hoffen, dass mein sehr altes Später-Ich genauso versöhnlich auf mein Jetzt-Ich zurückblicken kann.
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