Tolstois Familien-Formel revidiert

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ (Ana Karenina)
Eine Kolumne von Chris Kaiser

Leo Tolstoi Anna Karenina Familien

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Tolstoi schrieb seinen Roman über eine unglückliche Familie im Russland des 19. Jahrhundert und beschreibt die Oberschicht der damaligen Zeit.

Tolstoi und seine Weisheit über die unglückliche Familie

Mit dem schon notorisch gewordenen russischen Schwermut erfüllt der Autor auf den folgenden 1000 Seiten diese These. Man kann davon ausgehen, dass dieser erste Satz der allgemeinen Beobachtung Tolstois in seiner Zeit, in seinem Raum entspricht. Wahrscheinlich aber hielt er sie für eine überzeitliche universelle Weisheit. Ja, für eine Weisheit, nicht für eine „Wahrheit“. Es geht schließlich um metaphysische oder psychologische Begriffe. Unglück und Glücklichsein mögen subjektive Empfindungen oder Beurteilungen der eigenen oder fremden Situation sein, aber was eine „glückliche Familie“ ist, schränkt den Subjektivismus schon etwas ein. Man kann eine fremde Familie, von außen betrachtend schon mal fälschlicherweise für „glücklich“ halten, während die Mitglieder der Familie grausam zueinander sind und sich gegenseitig das Leben schwer machen. Man kann auch die falschen Maßstäbe anlegen, etwa wenn man Macht, Reichtum und Erfolg in der Geschäftswelt für die Anzeichen des Glücks ansieht. Oder wenn man ein behindertes Kind per se als Unglücksfall bezeichnet.

Projektion

Man neigt dazu, die eigenen persönlichen Begierden oder Ängste zu projizieren, um das Unglücklichsein einer fremden Familie fassbarer zu machen. Man hat Angst vor der Armut – also müssen Familien mit wenig Einkommen unglücklich sein. Man kann sich nicht vorstellen, ohne den jährlichen Urlaub im Ferien-Ressort Glück zu empfinden. Man hat Angst, krank zu werden, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen, das Studium nicht zu schaffen… Also müssen diejenigen, denen das passiert, darunter schwer leiden.

Wenn man sich somit durchaus bei der Beurteilung anderer Familien irren kann, kann man dennoch Allgemeinen dazu feststellen: Natürlich sind solche Faktoren eine Belastung. Sie erlauben weniger Spielraum im Leben. Ihr Auftreten schränkt die Möglichkeiten ein, in dem was man tun kann, was man sich leisten kann. Wenn ich weniger Alternativen zur Verfügung habe, was ich tun kann, dann tu ich das, was ich muss, nicht das, was ich will.

Russland im 19. Jahrhundert

Und da sind wir wieder im Russland des 19. Jahrhunderts. Die bei Tolstoi beschriebene Gesellschaft ist der sehr reiche Hochadel, der also über Menschenleben und materielle Sicherheit verfügt, anders als der Großteil des Volkes, das noch in Leibeigenschaft und bitterer Armut lebt. Aber wenn selbst in der höchstprivilegierten Oberschicht die Zahl der unglücklichen Familien nicht nur überwiegt sondern auch noch statistisch eine unendliche Variation aufzuweisen scheint, zumindest für den aufmerksamen Chronisten und Erzähler Tolstoi – dann geht uns auf, dass offenbar eine nur sehr kleine Anzahl von Möglichkeiten des Lebens zum Urteil „glücklich“ führte.

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Das Unglück hat nicht per se und immer eine größere Bandbreite als das Glück, die es bespielen kann. Sondern es ist nur eine minimale Anzahl an perfektionierter und angepasster Lebensweise möglich, die das Glück erlaubt. Im adligen Russland des 19. Jahrhunderts – woran scheitert das Glücklichsein? Vielleicht an dem minimalen Pool von genehmen und passenden Heiratskandidaten. An dem minimalen Pool von genehmen und passenden Ansichten und Moral. An dem minimalen Pool von genehmen und passenden gesellschaftlichen Ereignissen.

Nicht allzu religiös aber genug religiös, gesellschaftlich nicht eingeschüchtert, aber nicht zu offenherzig, alle gleich kultiviert und das Temperament bitte genau bei 36,3 Grad Celsius und die Stimme von 60 Dezibel. Die Kleidung nach der herrschenden Mode, egal ob die eigene Figur dazu passt. Kleine Füße, aber trittfest beim Tanzen. Usw.

Eintrittswahrscheinlichkeit und Blockchain-System

Alles was nicht dazu passt, wird zum Hindernis, oft zum unüberwindlichen.
Und bei einer Lebensdauer von ca. 60 Jahren sollten die rigiden Anforderungen auch so lange halten. Einmal in der Zeitspanne aus dem engen Pfad ausgebrochen, die individuellen Glücks-Checkpoints verpasst – und wir sind aus der Glücks-Blockchain ausgetreten. Meist ohne Möglichkeit zur Rückkehr.

Als Familie aber potenziert sich die Eintrittswahrscheinlichkeit des Unpassend-Seins noch. Es reicht schon, dass eines der Familienmitglieder in der Unglückszone ist, um insgesamt in den Zustand „unglückliche Familie“ einzutreten.

Tolstoi will nicht langweilig sein. Er schreibt also nicht über gleich viele glückliche wie über unglückliche Familien. Das wäre ja zur Hälfte immer gleichbleibend, immer dasselbe. Wer würde das lesen wollen. Ist das seine Entschuldigung, dass wir in seinem Roman mehr über das Unglück der Familien lesen, als über das Glück? Man hört ja auch im Klatsch und Tratsch, liest in der Literatur und in der Presse vor allem über das Unglück anderer Leute. Denn es schillert so spannend und divers, dass es lesenswert ist? Niemand will die schnell auserzählte und immer gleiche Geschichte der Glücklichen hören oder lesen.

Ja, sicher, man labt sich wohl lieber am Unglück anderer, weil man sich selbst nicht mehr so alleine im Elend fühlt. Aber heißt das nicht ebenso, dass die meisten Leser eben sich selbst als unglücklich sehen? Wie man es dreht und wendet – es sieht so aus, dass wohl irgendwie leichter ist, unglücklich zu werden, als glücklich zu bleiben. Sei es, weil ein Unglück, das nur groß genug ist, wenn es auch nur an einem Punkt des Lebens auftaucht – das ganze Leben von ca. 60 Jahren definitorisch bestimmen kann. Sei es auch, weil die Möglichkeiten des Unglücklichseins oder Unglückhaben so vielfältig sind, während Glück und Glücklichsein zu kapriziös und konform ist, um gleich oft einzutreten.

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Variation der Gegenwart

Aber wir leben nicht mehr in Tolstois adligen Welt des vorletzten Jahrhunderts. Das, was zum Glück einer Familie führen kann, ist weniger eng bestimmt. Selbst das, was wir heute als Familie bezeichnen, ist so viel diverser geworden. Wir können sogar die Form der Familie aus einer Anzahl von Alternativen wählen. „Ehe für alle“ heute also auch für diejenigen, die in dem russischen Hochadel damals als Homosexuelle, Asexuelle, Trans-Personen, polyamor, und so weiter, keine Ehe(Familien)-Form wählen durften, die sie glücklich machen konnten. Ebenso führt die Individuation, das demokratische und freiheitliche Recht des Individuums sich über alle Klassen hinweg, quer zu den sozialen Schichten die „Familie“ zu wählen oder auch keine – das ist alles möglich.

Somit hat sich schon die Anzahl der Möglichkeiten, glücklich zu sein, unglaublich erhöht. Unglücklich kann man immer noch werden, aber das Glück hat sich in frühere Unglückszonen reingefressen. Wir sind beim Punkt, in dem sich Familien an sich nicht mehr alle ähneln müssen. Jeder kann “nach seiner Fasson“ glücklich werden. Das hat ein von seiner Familie schwer traumatisierter preußischer Fürst mal verlangt, Jahrzehnte vor Tolstoi. Dessen Vater den Mythos der preußischen Disziplin begründete, welche die in Ana-Karenina beschriebenen Moralvorstellungen noch in den Schatten stellte. Und Friedrich II. meinte nur die Religionsfreiheit – Libertinage (die sexuelle Freizügigkeit z.B. eines de Sade) und anarchische Punkte waren ihm nicht geheuer, bis sehr fremd.

In Sachen Religion sind wir im Moment Friedrich II näher als Tolstoi, zumindest im Westen (ergibt geografisch Sinn. Was Russland anbelangt, gibt es dort womöglich den Willen und die Tendenz, das von Tolstoi Beschriebene als eine Art unauslöschliche russische DNA zu sehen). Blasphemie bedeutet hierzulande – im Moment, und hoffentlich auch weiterhin – keinen gesellschaftlichen und vor allem keinen physischen Tod. Auch der soziale Tod ist zwar in neuer Form vorhanden (Shitstorm usw.), aber hat dennoch weniger Angriffspunkte. Wer stößt sich denn heute noch an Sex vor der Ehe, Nacktbilder skandalisieren kaum noch, und Ehebruch braucht schon die Bühne eines Coldplay-Konzertes, um sich zu desavouieren.

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Wenn man den medizinischen und technologischen Fortschritt mit bedenkt, der Krankheiten und Unfälle auf einen Bruchteil zu früher reduzierte, also das Unglück, das ein Individuum befallen kann, auch in diesem Punkt minimiert hat – dann sieht man langsam eine Tendenz: Die Unglücks-Checkpoints oder Stresspunkte des individuellen Glücks sind erheblich reduziert worden.

Empfindung von Unglück

Das heißt nicht automatisch, dass das Empfinden von Unglück im gleichen Maße abgenommen haben muss. So mancher fühlt sich vom Pech verfolgt, wenn ihm das Marmeladenbrot ständig auf die falsche Seite runterfällt. während er doch glücklich darüber sein müsste, dass er jederzeit Brot, Butter und Marmelade kaufen kann. Und ebenso sollte man nicht glauben, dass ein Kind im Kindbett zu verlieren, einer Frau im 19. Jahrhundert schon wegen der statistischen Kindersterblichkeit leichter fallen konnte als heute.

Dennoch: Jeder einzelne Druckpunkt des Lebens weniger, der uns persönlich unglücklich macht, den die Gesellschaft und der Fortschritt nicht mehr auf uns ausübt, führt zu einer Verringerung der Arten, wie wir persönlich unglücklich werden können. Wenn dazu kommt, dass die Familie selbst nicht mehr eine rigide und schicksalhafte Gemeinschaft ohne unsere Wahl- und Entrinnungsmöglichkeit ist, sondern im Gegenteil – unsere sehr persönliche Mitgestaltung erlaubt – dann wird eine weitere Unglücksmaschine abgestellt. Dafür erlaubt die Varianz der Familienformen eben eine Varianz im Glücklichwerden.

Das alles so verändert – Tolstoi selbst und seine Leser würden es nicht mehr langweilig finden, über diese vielen verschiedenen glücklichen Familien mit ihren vielen verschieden sich glücklich machenden Individuen zu schreiben und zu lesen. Ana Karenina 2.0 könnte beginnen mit „Sowohl glückliche als auch unglückliche Familien sind auf ihre eigene Weise glücklich oder unglücklich.“

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