Der Fall Bräunig – 53 Jahre unschuldig im Gefängnis?
Nach 53 Jahren wurde Klaus Bräunig aus der Haft entlassen. Ein Justizskandal? Die Samstagskolumne von Heinrich Schmitz.
Bild von Sergei Tokmakov, Esq. https://Terms.Law auf Pixabay
Als Klaus Bräunig am 19. Juli 1972 wegen Doppelmordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, war ich gerade einmal 14 und Schüler des städtischen Emil-Fischer-Gymnasiums in Euskirchen. 1987, als ich meine Zulassung als Rechtsanwalt erhielt, saß Bräunig bereits seit 17 Jahren. Über all die Jahre hat Bräunig die Tat, für die er verurteilt wurde, bestritten. Ein Grund übrigens warum er nicht früher entlassen wurde.
Bewährung
Nun wurde ihm, der mittlerweile 79 Jahre alt ist, der Rest der lebenslangen Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
Selbst wenn Bräunig die Tat begangen hätte, was aus heutiger Sicht sehr zweifelhaft ist, hätte er dafür außergewöhnlich lange gesessen.
Und obwohl er jetzt in Freiheit ist und vielleicht noch ein paar Lebensjahre vor sich hat, kämpft Klaus Bräunig nun weiter für seine Rehabilitierung.
Für mich als Strafverteidiger gibt es kaum eine schlimmere Situation, als wenn ein Mandant, den ich für unschuldig halte, verurteilt wird. Ich habe kein Problem damit, wenn Schuldige eine gerechte Strafe erhalten und auch kein Problem damit, wenn Schuldige aus Mangel an Beweisen freigesprochen werden. Das ist Bestandteil des Strafprozesses. Nur dann, wenn das Gericht von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist und – wie es so pathetisch heißt – alle vernünftigen Zweifel schweigen, nur dann darf jemand verurteilt werden. Die Verurteilung eines Unschuldigen verursacht allerdings auch beim hartgesottensten Verteidiger schlaflose Nächte. Habe ich wirklich alles richtig gemacht, habe ich etwas übersehen, hätte ich noch einen Beweisantrag stellen können, usw.
Mühlsteine
Blöderweise unterliegen aber auch RichterInnen gelegentlich Irrtümern oder werden – hoffentlich unabsichtlich – Opfer von Vorurteilen oder dem Druck der Öffentlichkeit. Da gerät ein eher einfach strukturierter Mensch mal leicht unter die Mühlsteine der Justiz.
Bereits bei den Ermittlungen im Doppelmordfall der Kinderärztin Margot Geimer und ihrer 17-jährigen Tochter Dorothee standen die Ermittlungsbehörden unter einem ganz erheblichen Druck der Öffentlichkeit. Es gab am Tatort keinerlei Hinweise auf den oder die Täter. Keine Fingerabdrücke, keine Tatwaffe, nichts. Nachdem der Ehemann gecheckt wurde, verfiel die Polizei auf die Idee eines Serientäters. Da in der Gegend der Morde auch regelmäßig Spanner unterwegs waren und die Frauen in Angst und Schrecken versetzten, wurden verstärkte Streifen eingesetzt. Und dann erwischte man Klaus Bräunig, wie er auf Socken vor einem Haus stand, die Sandalen in der Hand und drei Studentinnen durch das Fenster beim Umziehen zusah. Bräunig gibt auch zu, ein Spanner oder wie man in Mainz sagt, ein Lubberer gewesen zu sein, mehr aber eben nicht.
Kein Pflichtverteidiger
Obwohl Bräunig von der Polizei des mehrfachen Mordes verdächtigt wird, wurde er erst mal in die Vernehmungsmangel genommen und mehrfach verhört. Er bekam für die Verhöre nicht einmal einen Pflichtverteidiger zur Seite gestellt. Bräunig, ein Hilfsarbeiter ohne jeden Berufsabschluss und mit einem IQ von 75, also lernbehindert, hatte den Verhörmethoden der Polizei nichts entgegenzusetzen.
Irgendwann gestand er. Hätte er einfach von seinem Recht zu schweigen Gebrauch gemacht, wäre er vermutlich nicht einmal angeklagt, geschweige denn verurteilt worden. Es wäre wirklich schön, wenn wenigstens künftig alle polizeilichen Vernehmungen per Video dokumentiert werden müssten, damit man verbotene Vernehmungsmethoden auch später noch nachweisen kann. So muss man sich halt darauf verlassen, was der Vernehmungsbeamte so alles in sein Protokoll getippt und was der kaum des Lesens und Schreibens mächtige Beschuldigte durch seine Unterschrift abgesegnet hat.,
Geständnisse
Und obwohl der seine drei Geständnisse später widerrief und das Gericht keine anderen Beweise hatte, wurde er wegen der Morde verurteilt.
Und dann kommt eine juristische Perversität, die ich in einigen Verfahren bereits selbst erlebt habe: Weil der Verurteilte dabei bleibt, unschuldig zu sein, erhält er vom Gutachter und dem Strafvollstreckungsgericht eine schlechte Sozialprognose. Die Begründung lautet stets, der Verurteilte habe sich nicht mit der Tat und dem damit verbundenen Unrecht auseinandergesetzt, sodass eine Therapie nicht erfolgreich verlaufen könne. Und deshalb bestehe immer noch eine Wiederholungsgefahr. Kafka lässt grüßen. Ein Unschuldiger wird dafür bestraft, dass er sich partout nicht zu der nicht von ihm begangenen Tat bekennen will. Ich möchte nicht in der Haut solcher Unschuldiger stecken. Vermutlich würde ich verrückt.
Immerhin wurde nun auf eine von seiner Verteidigerin, der Kollegin Rechtsanwältin Dr. Caroline Arnemann, erfolgreich erhobene Verfassungsbeschwerde die weitere Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Bräunig ist damit zwar aus der Haft entlassen, aber noch lange nicht rehabilitiert. Dazu bedürfte es eines Freispruchs. Und der wäre nur in einem Wiederaufnahmeverfahren möglich.
Wiederaufnahme
Wiederaufnahmeverfahren sind schwierig. Rechtskräftige Urteile sollen ja möglichst für eine endgültige Lösung stehen. Und deshalb sind die Hürden für erfolgreiche Wiederaufnahmen äußerst hoch.
Die Voraussetzungen sind in § 359 StPO geregelt:
§ 359
Wiederaufnahme zugunsten des VerurteiltenDie Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist zulässig,
1. wenn eine in der Hauptverhandlung zu seinen Ungunsten als echt vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war;
2. wenn der Zeuge oder Sachverständige sich bei einem zuungunsten des Verurteilten abgelegten Zeugnis oder abgegebenen Gutachten einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht oder einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat;
3. wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat, sofern die Verletzung nicht vom Verurteilten selbst veranlaßt ist;
4. wenn ein zivilgerichtliches Urteil, auf welches das Strafurteil gegründet ist, durch ein anderes rechtskräftig gewordenes Urteil aufgehoben ist;
5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind,
6. wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.
Hier käme aus meiner Sicht eigentlich nur Ziffer 5 in Betracht. Die Verteidigerin muss also etwas Neues finden. Nun sind neue Tatsachen oder Beweismittel 53 Jahre nach der Tat nicht so leicht zu finden. Bis auf einen Schöffen sind auch schon alle damaligen Richter tot, ein Teil der Hauptakten und die Spurenakten sind spurlos verschwunden, und dass der wahre Täter – wenn es denn Herr Bräunig nicht doch war – sich freiwillig meldet, ist auch eher unwahrscheinlich.
Gleichwohl ist es gut und richtig, dass die Kollegin, die von Bräunigs Unschuld überzeugt ist, in den Kampf zieht. Und sie hat richtig viel Ahnung von der Materie, hat sie doch ihre Dissertation über „Defizite der Wiederaufnahme in Strafsachen: Bestandsaufnahme und Reformvorschläge auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung“ geschrieben.
Allein gegen Alle
Ein/e VerteidigerIn , der/die es sich antut, ein Wiederaufnahmeverfahren zu übernehmen, trifft auf wenig Gegenliebe bei der Justiz. Die Unschuldsvermutung ist nämlich durch das rechtskräftige Urteil vom Tisch und kann da erst einmal nicht mehr helfen. Das zuständige Gericht und in aller Regel auch die Staatsanwaltschaft formieren sich zur Verteidigung der Rechtskraft, nicht unbedingt zur Verteidigung des Rechts. Ein ungleicher Kampf. Nicht nur David gegen Goliath, sondern gleich gegen eine ganze Armee von Goliaths. Allein gegen alle. Klar, dass die Justiz eigene Irrtümer und Fehler nicht so gerne aktiv aufklärt. Wer lässt sich schon gerne ans Bein pissen?
In aller Regel können sich die Gefangenen überhaupt keine qualifizierten VerteidigerInnen leisten. Und alles pro bono machen, kann auf Dauer auch niemand, da der Aufwand gewaltig ist. Es ist daher der Kollegin hoch anzurechnen, dass sie sich diese Arbeit macht.
Und nun könnte dem Unterfangen auch tatsächlich ein Erfolg beschieden sein. Denn es gibt einen neuen Zeugen. Die Allgemeine Zeitung aus Mainz berichtete am 20.9.2023:
Der Mainzer, der erst durch die Berichterstattung über den Fall wieder an die Ereignisse von 1970 erinnert worden sei, machte auf einen damals jungen Mann aufmerksam, der ein sehr guter Bekannter von Dorothee Geimer gewesen sei. Das war damals durchaus bekannt, aber der neue Zeuge ergänzte nun, dass der Mann auch einen Bezug zu einem weiteren, einem ungeklärten Doppelmord habe: Der Bluttat an Sohn und Mutter K. im März 1984 in Hechtsheim. Denn der einstige Bekannte von Tochter Geimer sei ein Schulkamerad des durch Genickschuss ermordeten 35-jährigen Hechtsheimers gewesen. Dass der Mainzer, der laut dem Zeugen Bezug zu beiden Fällen hat, zu brutaler Gewalt fähig sei, habe er später bewiesen: Erst erschoss er seine Frau, dann sich selbst.
Das könnte das fehlende Puzzlestück sein, das für ein erfolgreiches Wiederaufnahmeverfahren vonnöten ist.
Angesichts des fortgeschrittenen Alters von Klaus Bräunig bleibt nur zu hoffen, dass das Verfahren mit der gebotenen Eile angegangen wird und die Justiz nicht versucht, eine biologische Lösung des Verfahrens abzuwarten. Man darf gespannt sein.