Lina E., das Urteil und der Tag X.

Das OLG Dresden verurteilte Lina E. am Mittwoch wegen linksextremer Straftaten und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu fünf Jahren und drei Monaten Haft. Ein Urteil mit weitreichenden Auswirkungen. Die Samstagskolumne von Heinrich Schmitz.


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Eines vorab: ob das Urteil richtig, die Strafhöhe gerechtfertigt oder zu hart oder zu milde ist, kann ich nicht seriös beurteilen.

Wer das tun möchte, müsste sämtlichen 100 Tage der Hauptverhandlung gefolgt sein; er müsste die umfangreichen Ermittlungsakten kennen und insbesondere dann auch die rekordverdächtig lange mündliche Urteilsbegründung gehört haben. Habe ich alles nicht. Alle meine Kenntnisse über den Fall stammen aus der Gerichtsberichterstattung. Und die ist grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen. Wirklich gute Gerichtsreporter mit entsprechender Expertise sind eher die Ausnahme als die Regel. Wenn ich vereinzelt lese, das OLG habe die Revision zugelassen, dann zweifle ich am Sachverstand der Autoren.

Revision

Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung, pflegte einer meiner Professoren stets zu sagen.

§ 333
Zulässigkeit

Gegen die Urteile der Strafkammern und der Schwurgerichte sowie gegen die im ersten Rechtszug ergangenen Urteile der Oberlandesgerichte ist Revision zulässig.

„Ist Revision zulässig“ bedeutet, dass da niemand etwas zulassen muss. Wäre ja auch noch bekloppter, wenn das OLG selbst entscheiden dürfte, ob die Angeklagte sein Urteil angreifen darf. Aber geschenkt. Solche Stockfehler finden sich tagtäglich in der Berichterstattung über Prozesse.

99,9%

Was die Informationen über das Verfahren selbst angeht, wird es 99,9% der Menschen in Deutschland nicht anders gehen als mir. Und dennoch sieht es so aus, als hätten zu diesem Urteil ungefähr so viele Menschen eine Meinung wie zur Meisterschaft des FC Bayern. Nun gut. Wir haben Meinungsfreiheit und da kann jede/r soviel dummes Zeug von sich geben, wie er oder sie möchte.

Und so haben wir nun einen bunten Kessel an öffentlichen Reaktionen, die so widersprüchlich sind, dass man schon alleine deshalb auf die Idee kommen könnte, dass das Urteil so falsch nicht sein kann.

Während im rechten und konservativen Umfeld gemutmaßt wird, das Urteil sei viel zu milde, schon alleine deshalb, weil das Gericht mit 5 Jahren und 3 Monaten deutlich unter dem Antrag der Bundesanwaltschaft geblieben ist, sieht es im linken Umfeld ganz anders aus. Da fordert man einen Freispruch,hält das Urteil für faschistisches Unrecht und bläst unter dem Lable „Tag X“ zum antifaschistischen Sturm auf Leipzig.

Ruhig Blut

Beides ist mit etwas ruhig Blut betrachtet Mumpitz.

Der Strafrahmen des § 129 StGB geht im Normalfall bis zu fünf Jahren. In besonders schweren Fällen , deren Vorliegen von bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen abhängt, die Sie hier gerne selbst nachlesen dürfen, geht die Strafe bis 10 Jahre. Die von der Bundesanwaltschaft geforderten 8 Jahre für Lina E. lagen also schon im oberen Bereich des Strafrahmens, das ausgeworfene Urteil liegt immer noch drei Monate über der Hälfte der Höchststrafe, ist also keineswegs besonders niedrig.

Dabei war u.a. bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, dass die Angeklagte eben nicht in allen 6 Anklagepunkten, sondern nur in 4 verurteilt wurde. Außerdem berücksichtigte das Gericht die lange Dauer der Untersuchungshaft. Zudem stellte das Gericht fest, dass die Rolle von Lina E. innerhalb der Gruppe keineswegs so herausragend war, wie die Bundesanwaltschaft annahm und die Boulevardmedien kolportierten.

U-Haft

Bei Thema Untersuchungshaft gab es dann auch wieder große Aufregung – wie eigentlich immer, wenn ein vermeintlich Schuldiger aus dieser entlassen wird. Das ist nun aber keine Schwäche gegenüber Linken und auch kein Kuschen vor „dem linken Mob“, sondern eine recht einfache rechtliche Konsequenz, an der auch das OLG kaum vorbei kam.

Der Haftbefehl war damals auf Fluchtgefahr gestützt worden, die Fluchtgefahr wiederum auf die hohe Straferwartung. Nun ist die Hoffnung der Ankläger auf eine achtjährige Strafe erst mal erledigt. Und von der verhängten Strafe hat die Angeklagte bereits einen großen Teil in der U-Haft verbracht, was auf die spätere Strafhaft anzurechnen ist. Lina E. saß seit dem 5. November 2020 in Untersuchungshaft, das waren dann bis zur Freilassung 937 Tage oder anders 30 Monate und 26 Tage. Von der ausgesprochenen Strafe von 63 Monaten hat sie also bereits knapp die Hälfte in U-Haft verbracht. Der popelige Rest rechtfertigt nun nicht mehr unbedingt die Annahme einer Fluchtgefahr, sodass der Haftbefehl gegen Meldeauflagen und die Wegnahme von Personalausweis und Reisepass außer Vollzug gesetzt werden konnte. Alles normal, alles okay.

Was manche Menschen nicht begreifen ist, dass die U-Haft eben keine Strafe ist, sondern lediglich unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere zur Sicherstellung der Hauptverhandlung dient. Da auch für die erstinstanzlich verurteilten Angeklagten die Unschuldsvermutung gilt, ist Lina E. bis zur endgültigen Rechtskraft des Urteils vom Gericht als unschuldig zu behandeln. Und einen Unschuldigen mehr als notwendig in U-Haft zu behalten geht gar nicht.

Tag X

Nun haben linke bzw. linksextreme Gruppen für heute zum Tag X aufgerufen. Als Reaktion auf das Urteil wollen sie in Leipzig und andernorts Krawall machen und für jedes Jahr der Verurteilung, insgesamt waren es 13 Jahre, einen Schaden von einer Million verursachen. Die Polizei stellt sich auf erhebliche Ausschreitungen ein und zieht ebenfalls bundesweit Kräfte, Wasserwerfer und schweres Gerät zusammen. Die angemeldete Protestveranstaltung wurde von der Stadt Leipzig verboten, was die „Erlebnisorientierten“ unter den Demonstranten geradezu besonders reizen wird, mal ordentlich auf die Kacke zu hauen.

Das klingt nach G20-2.0 und ist gerade im eigentlich sympathischen Kampf für den Antifaschismus reichlich kontraproduktiv. Die unbeteiligten Bürger werden kaum verstehen, was für einen tieferen Sinn es ergeben soll, Autos anzuzünden, Böller auf Polizisten zu werfen und Millionenschäden zu verursachen. Antifaschismus mit den Mitteln von Faschisten ist völlig bescheuert. Und diese Form von Selbstjustiz hat mit Justiz so wenig zu tun wie Selbstgerechtigkeit mit Gerechtigkeit, nämlich gar nichts.

Ikone

Lina E. wird, wenn sie noch alle Tassen im Schrank hat, von diesen Veranstaltungen fern bleiben. Sie ist bereits jetzt eine Ikone im linken Lager und könnte diese Rolle durchaus zu Positivem nutzen. Dass sie dem antfaschistischen Kampf ganz abschwört, ist weder zu erwarten, noch wirklich wünschenswert. Wir brauchen Antifaschisten, damit uns die Faschisten nicht über den Kopf wachsen. Aber bitte mit rechtsstaatlich unbedenklichen Mitteln und nicht mit dem Hammer.

Ihr ist zu wünschen, auf jeden Fall wünsche ich ihr das, dass sie die Kurve kriegt und künftig von Gewaltaktionen gegen andere Menschen Abstand nimmt. Ja, der Kampf gegen den Faschismus ist wichtig, aber ebenso wichtig ist es, durch die Wahl der Mittel in diesem Kampf nicht ebenso zu werden, wie es die Neonazis sind und Menschen bewusst zu verletzen. Die einen tun das, weil ihre „Feinde“ schwarz sind, die anderen, weil sie Neonazis sind. Nun kann man sich im Gegensatz zu Schwarzen zwar aussuchen, ob man Neonazi sein will, aber auch ein Neonazi ist ein Mensch, dem man nur dann mit Gewalt entgegentreten darf, wenn er selbst angegriffen hat und nicht nur, weil er Neonazi ist.

Unsere Verfassung ist wegen der Lehren der Vergangenheit eine durch und durch antifaschistische. Also gilt es die zu schützen. Das tut man aber gerade nicht, wenn man durch zwar überlegte, aber völlig kontraproduktive Aktionen immer mehr Bürger in die Arme der Reaktionäre treibt. Die AfD steht in den ostdeutschen Bundesländern vor großen Wahlsiegen und zwar nicht, weil sie so tolle Politik macht, sondern weil ihre Wähler einfach Ruhe wollen. Wenn nun linke Krawalle wieder einmal Innenstädte zerlegen und die Menschen in Angst und Schrecken treiben, werden die Faschisten sich ins Fäustchen lachen und die AfD weiteren Zuspruch bekommen.

Das Urteil gegen Lina E., die nun wahrlich kein Engel gewesen zu sein scheint, kann keine Rechtfertigung dafür geben, auch wenn man die Wut gegen den in Blickrichtung rechts häufig stark sehbehinderten Staat durchaus nachvollziehen kann.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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