Wer hat Angst vorm Älterwerden?

An einer Umfrage zum Älterwerden nahm Henning Hirsch teil und sagt am Ende: Wenn alle Stricke reißen, kann man sich mit 70 immer noch selbst die Kugel geben. Die aktuelle Jammerboomer-Kolumne.

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Seit einiger Zeit fragt mich DIE ZEIT in Facebook täglich Haben Sie Angst vorm Älterwerden? und überschreibt das mit „die große Umfrage“. Als ich den Link gestern endlich anklickte, rieb ich mir verwundert die Augen, denn ich entdeckte genau 3 Fragen:

(1) Haben Sie Angst vorm Älterwerden?
(2) Was macht Ihnen am Älterwerden am meisten Angst?
(3) Was würden Sie im Alter gerne tun?

Viele Fragen sind das ja nicht bzw. große Umfrage ist eigentlich was anderes, dachte ich und machte mich dann daran, das Ganze nach bestem Wissen zu beantworten. An dieser Stelle will ich, damit der Leser der Kolumne meine Antworten besser einsortieren kann, erwähnen, dass ich vor einigen Wochen meinen 61sten Geburtstag feierte. Wer des Rechnens mächtig ist, kommt bei mir also unschwer auf den März als Geburtsmonat und 1962 als Geburtsjahr. Hohe Zeit der Boomer und Jahr, in dem u.a. die Kubakrise und die Unabhängigkeit Algeriens stattfanden, der Minirock gelangte aufs Cover der Vogue, die Beatles starteten mit „Love me do“ ihre Weltkarriere, Andy Warhol stellte Tomatensuppendosen in Los Angeles aus, während ein paar Blocks entfernt Marilyn Monroe ihren letzten Seufzer tat. Verdammt lang her, sagen Sie? Ja, das ist verdammt lang her.

Aber nun der Reihe nach zu den o.g. 3 Fragen:

Haben Sie Angst vorm Älterwerden?

DIE ZEIT gibt die Antwortmöglichkeiten direkt vor: ja, manchmal, nein, ich weiß nicht. Das ist praktisch denke ich, und dann denke ich, was zur Hölle bedeutet „ich weiß nicht“. Also entweder habe ich Angst oder nicht. Wie kann man/frau denn nicht wissen, ob man (manchmal) Angst hat? Ist das schon ein Hinweis auf frühzeitig einsetzende Verkalkung, die heute anders bezeichnet wird? Wie genau, weiß ich nicht, aber Verkalkung sagt man heute auf jeden Fall nicht mehr. Ist vermutlich politisch unkorrekt u/o zu wenig sensibel, wenn man das sagt. Ich wiederum stelle bei mir, seitdem ich die 50 überschritten habe, eine galoppierende Tendenz zu zunehmender Vergesslichkeit fest, was ich aber in Blickrichtung auf die dämlichen Kommentare, die unter meinen Kolumnen stehen, mittlerweile als Geschenk ansehe. Ich les die und habe 5 Minuten später schon wieder vergessen, was da an Gemeinheit drinstand, was mir erspart, mich tagelang darüber ärgern zu müssen. Verkalkung – oder wie auch immer man das heute nennt – muss also nicht immer schlecht sein.

Labern Sie nicht so viel rum, wie lautet Ihre Antwort auf die Frage, unterbrechen Sie mich an dieser Stelle? Danke für den Hinweis, hätte ich beinahe vergessen. Meine Antwort lautet: Ich kann’s eh nicht ändern, also habe ich davor auch keine Angst. Das ständige Älterwerden fuckt mich zwar hin und wieder ordentlich ab – z.B. wenn ich morgens in den Badezimmerspiegel schaue und mich über das Bild erschrecke, das ich da sehe bzw. denke, das kannst unmöglich du sein –; aber das ist nicht dasselbe, wie Angst haben.

Was macht Ihnen am Älterwerden am meisten Angst?

Auch hier sind die Antwortmöglichkeiten praktischerweise vorgegeben: Einsamkeit, Ungewissheit, Gesundheitszustand, Finanzielle Situation, Etwas anderes, Gar nichts.

Streng genommen dürfte, wenn ich bei (1) „keine Angst“ anklicke, Frage (2) gar nicht mehr erscheinen. Aber geschenkt, es ist eine Umfrage in Facebook, da braucht man es mit Meinungsforschungslogik nicht allzu genau zu nehmen. Wenn wir jetzt mal so tun, als hätte ich oben „(ein bisschen) Angst“ angekreuzt, dann würden für mich prozentual zutreffen:

(a) Einsamkeit: 0 (bin froh, wenn ich meine Ruhe habe)
(b) Ungewissheit: 0 (wenn 1 nun mal ungewiss ist, dann ist es die Zukunft)
(c) Gesundheitszustand: 20 (bloß kein langes Siechtum. Möge mich, wenn es irgendwann soweit ist, ein schneller Tod ereilen)
(d) finanzielle Situation: 20 (meine Hin-und-wieder-Sorge = die Inflation wird die schmale Altersrente auffressen und ich muss, um mich finanziell über Wasser zu halten, bis ans Lebensende Kolumnen, die pro Zeile abgerechnet werden, schreiben).

Bei „etwas anderes“ könnte ich hinzufügen: ich werde alsbald nicht mehr in der Lage sein, mit all den technischen Neuerungen Schritt zu halten und benötige dann Hilfe beim Bedienen meines, das komplette Leben überwachenden, Handys oder muss den ADAC anrufen, weil ich nicht weiß, wie ich mein selbstfahrendes Auto starte. Und – meine absolute Horrorvision, seitdem ich in den 80ern „Terminator“ gesehen habe – ich sorge mich ab und an davor, dass die Maschinen intelligenter als wir Menschen werden und die Kontrolle übernehmen. Speziell bei meinem Smartphone bin ich mir oft unsicher, wer von uns beiden nun der Schlauere ist, und so Sachen wie Alexa & Co. kommen mir eh nicht ins Haus. Falls irgendwann mal sämtliche technische Expertise bei mir den Bach runtergeht und sie mir deshalb alle Geräte wegnehmen, damit ich keinen Unsinn mehr anstelle, wär’s auch nicht weiter dramatisch. Dann wäre endlich Ruhe mit Facebook und WhatsApp.

Vor anderen Entwicklungen, vor denen sich manche Boomer sorgen, sorge ich mich nicht. Bspw. die nervige Genderei oder die aus dem Ruder laufende Sensitivität einiger Bevölkerungskreise, die schon Amok laufen, wenn man in einem Text Zigeunersoße schreibt. Ich halte das für temporäre Zeitgeisterscheinungen. Wird sich beides nicht durchsetzen, weil die breite Masse es ablehnt, und deshalb irgendwann totlaufen. Und falls es sich wider Erwarten doch nicht totläuft, werde zumindest ich tot sein, bevor es sich flächendeckend ausbreitet. Hauptsache, auf meinem Grabstein wird nichts gegendert. Alles andere ist mir wurscht.

Was würden Sie im Alter gerne tun?

Die vorgegebenen Antwortmöglichkeiten lauten:
 Reisen oder Ausflüge machen
 Studieren oder eine Ausbildung machen
 Kochen, Gartenarbeit oder Handwerk
 Kreativ tätig sein
 Lesen
 Etwas anderes
 Ich weiß nicht.

Wer unternimmt nicht gerne Reisen und Ausflüge? Bis auf chronische Stubenhocker tut das eigentlich jeder. Wenngleich ich bei mir mit zunehmendem Alter die Tendenz feststelle, dass mich Fernreisen zu exotischen Zielen nicht mehr groß reizen, sondern 10 Tage Lago Maggiore im Sommer, 1 Woche Skifahren im Winter und zwischendurch ein 48-Stunden-Trip nach Amsterdam den Ich-muss-mal-raus-aus-meiner-gewohnten-Umgebung-Zweck genauso gut erfüllen. Studieren oder eine Ausbildung machen, möchte ich ü65 auf gar KEINEN Fall. Kochen, Gartenarbeit und Handwerk sind jetzt alle 3 eher nicht so mein Ding. Bin froh, dass ich ne Mikrowelle und nen Balkon statt Garten habe. „Kreativ tätig sein“ ist ein weites Feld. Ob regelmäßig Kolumnen-tippen da rein fällt, weiß ich nicht. Manchmal träume ich davon, im Alter einen Roman zu Papier zu bringen. Also einen Roman, der auch veröffentlicht wird und nicht nur meiner Selbstbeschäftigung dient. Aber so ein Projekt setzt einerseits ne Geschichte, die es wert ist, auf ein paar hundert Seiten erzählt zu werden und andererseits ne Menge Sitzfleisch voraus. Schau’n wir mal, ob mir dazu im alsbald beginnenden Rentenalter was Gescheites einfällt. Falls nein, dann bleibt mir ja immer noch die oben vorgeschlagene Option „Lesen“. Gibt circa 5000 spannende Bücher, die ich noch nie gelesen habe und weitere 500 Bücher, die ich ein zweites Mal lesen möchte. Ob ich die alle bis zu meiner Grablege schaffen werde, bezweifele ich jedoch.

Bei „etwas anderes“ könnte ich noch hinzufügen: Die Frau fürs Leben(sende) finden. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ich die finde, taxiere ich auf unter 10 Prozent -> Singles sterben einsam.

Resümee

Die Befragung ist zwar vom Grundsatz her richtig – unsere Bevölkerung vergreist ja immer mehr –, verbleibt aber viel zu sehr im Oberflächlichen. Natürlich haben einige von uns Boomern Angst vorm Älterwerden; jedoch dürfte es sich hierbei nicht um eine generelle „große“ Angst, sondern vielmehr um einen Flickenteppich kleinerer Ängste handeln. Aus meiner Beobachtung heraus stehen folgende 3 Sorgen im Vordergrund:
(A) ich bin Single -> wie lange werde ich gesundheitlich in der Lage sein, mich um mich selbst zu kümmern?
(B) sobald ich mich nicht mehr um mich kümmern kann -> wer tut es alternativ bzw. muss ich dann in ein 4-Bettzimmer in ein Altersheim?
(C) kann ich irgendwann selbstbestimmt auf den Stoppschalter drücken, oder befinde ich mich am Ende hilflos in den Händen von Ärzten, die ich nicht kenne und die mich nicht kennen?

Mit 61 lag man im 19ten Jhrd. oft schon 1 (oder 2) Meter tief unter der Erde. Als mein Großvater 1978 seinen 80sten Geburtstag im großen Rahmen feierte, sprach er von einem biblischen Alter, das nicht vielen vergönnt sei. Heute, wo wir alle Minimum 90 werden wollen, jedoch mit 70 kaum noch in der Lage sind, ohne Atemgerät 2 Treppen hochzulaufen und mehr künstliche Gelenke als normale Knochen im Körper haben, stellt sich zudem Frage (D): Wie sollen Gesundheits- und Pflegekosten für die partout nicht sterben wollenden Senioren auf Dauer bezahlt werden? Ich habe da kein gutes Gefühl, wenn ich mir die Form der deutschen Bevölkerungspyramide anschaue. Das wird, vor dem Hintergrund der chronisch wenig Geburten in unserem Land, nicht ewig funktionieren. Glücklich sind diejenigen, die Familien haben, die sich im Alter um sie kümmern werden.

Ich persönlich schwanke deshalb für meine ü70-Phase zwischen 3 Lösungsmöglichkeiten:
(1) ich pendele zwischen den Gästezimmern meiner 3 Kinder und kümmere mich im Gegenzug darum, dass die Enkel lesen & schreiben lernen (und sich v.a. sportlich betätigen)
(2) Einzug in eine Alters-WG mit früheren Schulkumpels (m/w/d)
(3) ich besorge mir 1 Flasche guten Whisky, lege Musik auf (z.B. was von den alten Genesis; also vor Phil Collins), trinke die Pulle in Ruhe aus und jage mir im Anschluss 1 Kugel durch den Kopf (diese Variante wäre volkswirtschaftlich gesehen die vernünftigste).

Was ich aber ü70 auf gar KEINEN Fall mehr tun werde = Kolumnen tippen.

PS. dass es der ZEIT primär darum geht, mich in ein Abo reinzuziehen, habe ich schon verstanden. Ganz so senil, wie einige es nach dem Lesen dieses Textes wahrscheinlich vermuten, bin ich ja mit 61 nun noch nicht.
PPS. während ich diese Kolumne schrieb, verschwand die Umfrage plötzlich wie von Geisterhand ferngesteuert von meinem Monitor und jetzt finde ich sie leider nicht mehr wieder = die ersten Anzeichen sind also schon da, dass 61-jährige mit der Technik ab und an heillos überfordert sind.
PPPS. 3 Stunden später ist die Umfrage wieder da, und ich kann weiter oben im Text endlich den Link setzen. Wo auch immer die zwischenzeitlich abgeblieben war. Gut, dass man solche Dinge im Alter gelassener sieht und den Laptop nicht in spontaner Wut voreilig aus dem Fenster schmeißt.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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