Feigheit vor dem Feind?

Zwei Polizistinnen werden zu je einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt, weil sie einem Kollegen nicht geholfen haben. Ein schwieriges Urteil. Die Samstagskolumne von Heinrich Schmitz


Foto: geralt/pixabay

Das Amtsgericht Schwelm folgte dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verurteilte zwei Polizistinnen, die aus einer Schießerei flohen, statt ihrem getroffenen Kollegen beizustehen, wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung im Amt durch Unterlassen. Verfahren gegen Polizeibeamte sind eher selten, was ich meistens bedaure. In diesem Fall muss ich aber Partei für die Verurteilten ergreifen, weil ich die Entscheidung nicht verstehen kann. Okay, Sie mögen sagen, ich sei dumm. Aber schauen wir uns die Rechtslage mal gemeinsam etwas genauer an.

Unterlassungsdelikte sind ganz besondere Delikte, denn da wird man nicht wie üblich dafür bestraft, dass man etwas getan hat, sondern gerade dafür, dass man etwas nicht getan hat. Komisch, nicht wahr? Man tut gar nichts und wird trotzdem wegen einer Tat verurteilt.

§ 13 StGB – Begehen durch Unterlassen

(1) Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht.

(2) Die Strafe kann nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Wie Sie dem Gesetzestext entnehmen können, ist nicht jede Untätigkeit durch jeden strafbar, sondern eine Strafbarkeit besteht nur dann, wenn jemand rechtlich dafür einzustehen hat, dass ein bestimmter Erfolg nicht eintritt. Diese Verpflichtung nennt man dann Garantenpflicht und sie trifft auch nur einen sogenannten Garanten.

Garanten

Kämen Sie also als völlig Unbeteiligte dazu, wenn die blauen Bohnen herumfliegen, dann wäre es nicht nur klug, sich schleunigst aus dem Staub zu machen, sondern auch rechtlich völlig in Ordnung. Sie dürfen sich zwar jederzeit bei einem Angriff auf eine andere Person heldenhaft in die Schussbahn werfen, aber dann geht es Ihnen halt unter Umständen wie Winnetou und Sie werden erschossen.

Ein Garant ist jemand, dem aus unterschiedlichen Gründen rechtlich eine Handlungspflicht auferlegt wurde. Nach der aktuellen Rechtsprechung kann das folgende Gründe haben:

– aus Gesetz

– aus Vertrag bzw. tatsächlicher Gewährübernahme

– aus vorangegangenem gefährdendem Tun (sogenannte Ingerenz)

– aus engen Lebensbeziehungen

Nach der neueren juristischen Lehre begründet sich eine Garantenpflicht entweder aus Obhutspflichten (Beschützergaranten) oder aus Sicherungspflichten (Überwachungsgaranten). Macht aber keinen großen Unterschied in der Praxis.

Die Pflicht von Eltern Gefahren von ihren Kinder abzuwehren ergibt sich z.B. unmittelbar aus dem Gesetz. So heißt es in § 1626 Abs. 1 BGB:

§ 1626 Elterliche Sorge, Grundsätze

(1) Die Eltern haben die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Die elterliche Sorge umfasst die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge).

Lassen also Eltern ihr Kind verhungern, dann machen sie sich mindestens wegen Totschlags, vielleicht auch wegen Mordes schuldig.

Bei Eheleuten ergibt sich die Garantenpflicht aus § 1353 Abs.1 Satz 2 BGB:

§ 1353 Eheliche Lebensgemeinschaft

(1) Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen. Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet; sie tragen füreinander Verantwortung.

Bei einem Arzt ergibt sich die Garantenstellung aus einem Behandlungsvertrag. Der Arzt, der seinem Patienten eine notwendige Behandlung verweigert, kann ebenfalls wegen eines Unterlassungsdelikts belangt werden.

Auch einen Babysitter oder eine Pflegekraft trifft diese Pflicht.

Eine Garantenstellung kann sich auch aus einer Gefahrengemeinschaft, wie z.B.. einer Forschungsexpeditionsgruppe in der Wildnis oder einer Bergsteigergruppe, ergeben. Da darf man nicht einfach weitergehen, wenn ein anderer Teilnehmer nicht mehr weiter kann.

Polizeibeamt*innen

Polizeibeamt*innen, soweit sie im Dienst sind, sind Garanten für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter bereits aufgrund ihrer beruflichen Stellung.

Im konkreten Fall bestand also grundsätzlich eine Handlungspflicht der beiden Polizistinnen. Ob sie sich aber durch ihr Nichteingreifen tatsächlich strafbar gemacht haben, hängt nicht nur von dieser grundsätzlichen Pflicht ab, sondern auch davon, ob ihnen ein Eingreifen zumutbar gewesen war.

Und wie bei einem normalen Begehungsdelikt, muss auch das Unterlassungsdelikt vom Vorsatz des Täters umfasst sein. Das bedeutet, der Täter muss bewusst mit dem Willen untätig bleiben, den tatbestandlichen Erfolg eintreten zu lassen, wobei er, vor die Wahl zwischen möglichem Tun und Untätigbleiben gestellt, sich für das Unterlassen entscheidet. Die Polizistinnen mussten also die gefährliche Körperverletzung wollen oder zumindest billigend in Kauf nehmen. Ob die in der Situation der Todesangst überhaupt in der Lage waren, sich darüber ernsthafte Gedanken zu machen, darf man bezweifeln.

Während es bei Begehungsdelikten grundsätzlich relativ einfach ist, die Zumutbarkei zu bejahen, weil der Täter seine Tat ja einfach hätte sein lassen können, gestaltet sich die Beurteilung des strafrechtlich relevanten Unterlassens deutlich schwieriger. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Gefahren, denen sich der Garant durch seine Handlung aussetzen würde,  für ihn selbst groß sind, sodass das Gewicht und der Grad der dann jeweils drohenden Gefahr für die widerstreitenden Interessen miteinander abzuwägen sind (so BGH NStZ 1984, 164). Eine Handlungspflicht ist danach regelmäßig bei einer konkreten Lebensgefährdung durch das Tätigwerden ausgeschlossen.

Aber nun ist es halt etwas anderes, ob man als Polizeibeamtin in einer konkreten Lebensgefahr die Entscheidung trifft, sein Leben zu retten oder ob man als Richterin oder Staatsanwalt im schönen warmen, sichern Sitzungssaal darüber urteilt, wie die Polizistinnen sich denn korrekt hätten verhalten können. Hinterher kann man halt immer klug daherurteilen.

Besser die als ich

Der Staatsanwalt Kleimann meinte in seinem Plädoyer, die Angeklagten hätten ihren Kollegen seinem Schicksal nach dem Motto „Besser die als ich“ überlassen. Ja, kann man so sehen. Frage ist natürlich, ob Herr Kleimann als Polizist in dieser Situation gesagt hätte: „Besser ich als der“. Mir fehlt jedenfalls dieser Heldenmut – einen solchen habe ich nur als Rucksack –  und der dürfte mit dem bescheidenen Salär einer Polizeibeamten auch nicht verpflichtend eingepreist sein.

Ich wusste nicht wer, warum und wie viele. In mir schaltete alles auf Überleben

sagte eine der Angeklagten und wer will es ihr ernsthaft verübeln, überleben zu wollen? Wer kann von Schuld sprechen, wenn jemand in Todesangst um sein Leben rennt?

Und was helfen die rührenden Worte der Richterin, sie verstehe die Todesangst, gleichwohl müsse man im selbstgewählten gefährlichen Beruf einer Polizistin anders reagieren, wenn sie dann ein Urteil spricht, dass eine Entlassung aus dem Polizeidienst zur zwingenden Folge hat? Was sollte das heißen: Vorsicht bei der Berufswahl?

Wenn man da schon vom hohen Richterross herunter meint, verurteilen zu müssen, warum dann die Todesangst nicht im Rahmen der Strafzumessung und der Folgen der Strafe für die Angeklagten berücksichtigen und dann halt knapp unter der magischen Jahresgrenze bleiben, wenn man schon meint verurteilen zu müssen? Eine Woche weniger hätte ja schon gereicht den beiden Polizistinnen wenigstens die Chance darauf zu erhalten, auch weiter Polizistinnen bleiben zu dürfen.

Exempel

Aber hier sollte offenbar ein Exempel statuiert werden. Und das ist insbesondere deshalb unverständlich, weil selbst der von der Untätigkeit betroffene Kollege der beiden Beamtinnen diesen „absolut gar keinen Vorwurf“ gemacht hat, sondern sogar sagte, er sei davon überzeugt, dass die Situation unabhängig vom Tun oder Nicht-Tun seiner Kolleginnen so verlaufen sei, wie sie verlaufen ist.

Es gibt Fälle, in denen vernünftig sein, feige sein heißt

schrieb Marie von Ebner- Eschenbach und hatte natürlich recht. Auf Deibel komm raus den Helden spielen, ist eher was für Dummies.

Danach hätte ja das Unterlassen der Angeklagten überhaupt keine negativen Folgen für den Kollegen gehabt. Womit man dann eine derart Existenz vernichtende Strafe begründen will, ist mir schleierhaft. Woher nimmt das Gericht denn die Gewissheit, dass es irgendetwas Positives bewirkt hätte, wenn die Beamtinnen sich – wie es meint – hinter ihrem Bully verschanzt und einen Warnschuss abgeben hätten? Die glaubten nicht grundlos, in einen Hinterhalt geraten zu sein. Sie wussten nicht, wie viele Täter da  in der Dunkelheit insgesamt 21 Schüsse abgegeben hatten und sie wussten nicht, woher diese  kamen. Sollten die da auf sich aufmerksam machen und rufen, hier sind noch zwei, auf die ihr schießen könnt? Ja klar, die hatten schusssichere Westen an, aber die helfen auch nichts, wenn einen eine Kugel am Kopf trifft.

Das waren keine SEK-Beamtinnen, die auf solch lebensgefährliche Situationen trainiert werden, sondern zwei ganz normale Polizistinnen, die erstmalig in so eine Lage gerieten. Auch das musste man berücksichtigen.

Ich halte das Urteil für eine fatale Fehlentscheidung. Aber das Gute am Rechtsstaat ist nun mal, dass es gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Gerichte immer Rechtsmittel gibt. Und in diesem Fall bin ich recht zuversichtlich, dass das Berufungsgericht zu einer anderen, gerechteren Entscheidung kommen wird. Und wenn das dann ein Freispruch wäre, würde es mich zumindest nicht wundern, nein, es würde mich freuen.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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