Rückblickende Reisetagebücher – V: Mit dem Rad in die Schweiz und über den Klausenpass
Von einer Fahrradtour in die Schweiz und über den steilen Aufstieg auf den Klausenpass, bei dem er sich wie ein Tour-de-Suisse-Profi fühlte, berichtet Sören Heim
Meine zweite größere Radreise begann etwa zwei Jahre nach der Prager Reise, die so unglücklich geendet hatte. Das genaue Datum muss ich diesmal schuldig bleiben. Ich hatte die zweite Tour etwas besser geplant als die erste, als Ziel war der Klausenpass im Herzen der Schweiz auserkoren, ein Pass, den ich bei der letzten Tour de Swiss ausgeguckt hatte. Die Besonderheit: Es handelt sich um einen Innerschweizer Pass auf knapp 2000 Metern Höhe, so dass man für die Rückreise doch ein wenig Zeit, Geld und Mühe spart. Die meisten halbwegs nahegelegenen Alpenpässe führen ja über Ländergrenzen und verlangen für eine Rückreise mit dem Zug Umwege und ein deutliches Mehr an Strecke. Und einfach auf irgendeinen Gipfel fahren und wieder herunter, wollte ich auch nicht. Außerdem ist der Klausen mit 1500 Höhenmetern und fast durchgängig 7 Prozent Steigung auch mit Gepäck ganz gut zu bewältigen (soweit zumindest meine damalige Schätzung). Einmal mehr brachte mich mein Studiticket an einen exponierten Startpunkt: Von Worms aus sollte es erst mal rheinabwärts in Richtung Basel gehen (Bilder wieder von Pixabay. Ich besaß damals keine Kamera).
Über den ersten Tag gibt es nicht viel zu erzählen. Man hat den Rhein meist linke Hand und verliert das Ufer selten aus den Augen. Manchmal wurschtelt sich der Radweg durch Hafenindustrie, wo man schon mal die Richtung verlieren kann. Ich startete relativ spät und musste, um meinen geplanten Campingplatz zu erreichen, am Ende im Windschatten eines Mountainbikers relativ viel Tempo machen. Das rächte sich dann am nächsten Tag. Tagesziel war Münchhausen, kurz hinter der französischen Grenze, ein netter Campingplatz, noch dazu sehr günstig.
Die schönste Ecke des Rheins?
Der zweite Tag war der schönste und der schlimmste dieser Tour. Für die Verpflegung hatte ich mich neben ein paar Riegeln auf morgens belegte Käsebrote verlassen, und dabei zeigte sich, dass die Sache mit dem Käse hinter Prag wohl kein Zufall gewesen war. Unter großer körperlicher Belastung vertrage ich anscheinend keine Milchprodukte. Ich hatte den ganzen Vormittag solches Bauchweh, dass ich dachte, die Tour schon wieder abbrechen zu müssen. Ich aß dann erstmal nur trockenes Brot, was zur Energiegewinnung sicher nicht das beste ist, doch das Bauchweh ging weg. Für den Rest der Tour würde ich mich auf Nutella verlassen. Wird unterwegs nicht schlecht, gibt Energie, und ein paar Tage ohne nennenswerte Eiweißzufuhr: Das sollte schon klappen. Klappte auch. Und sind wir ehrlich: Schokolade ist einfach lecker, und Tonnen davon zu essen und dabei noch abzunehmen – wer würde da schon Nein sagen wollen?
Landschaftlich derweil: Zwischen Münchhausen und Straßburg bildet der Rhein viele wundervolle stille Altwasser. Der Reichtum an Vögeln hier ist unglaublich, es zwitschert und schreit die ganze Zeit. Einmal biege ich nichtsahnend in einer Altwasser-Seenlandschaft um eine Straßenecke, und ein ganzer Schwarm Störche, bestimmt 30 oder mehr Tiere, wird von mir aufgeschreckt, rennt vor mir her und erhebt sich gerade noch rechtzeitig in die Höhe. Später dominieren dann Kanäle und kleine Nebenläufe mit bunten Hausbooten das Bild. Auf Straßburg zu ist man lange Zeit entlang von Kanälen unterwegs, die von Kastanien gesäumt werden. Die gehören, auch aufgrund einer Krankheit, zu den Bäumen, deren Blätter sich am frühesten verfärben, und so nimmt dieser Teil der Strecke einen prächtigen bunten Herbsttag vorweg. Straßburg ist sehr fahrradfreundlich, an verschiedenen Sehenswürdigkeiten vorbei, vor allem auch dem Münster, wird man komfortabel durch die Stadt geleitet. Ich schaffe es danach vielleicht noch so etwa 30 Kilometer weiter, die Jagd vom Vortag hat geschlaucht und der schwache Magen hilft auch nicht wirklich. Mein Campingplatz diesmal ist eigentlich nur eine größere Wiese. Am Abend unterhalte ich mich über dies und das mit zwei alten Elsässern, die weder Französisch noch Deutsch sprechen (wollen), sondern versuchen, mit mir in diesem deutsch/französischen Grenz-Dialekt zu kommunizieren, den ich bis heute für einen der amüsanten überhaupt halte.
Kollisionen und Jacques Brel
Der folgende Reisetag beginnt mit einem technischen Problem. Mein Rad bekommt mal wieder einen Schlag und ich kriege nun zahlreiche Gänge nicht mehr rein. Mit meinem Werkzeug und der Hilfe eines Rennradfahrers, der vorbeikommt, gelingt es mir immerhin, die Schaltung so einzustellen, dass ich hinten alle Ritzel und vorne das erste und das zweite benutzen kann. Dass das größte fehlt, dürfte kein Problem sein: Die zwei, drei höchsten Gänge mit all meinem Gepäck zu treten, noch dazu öfter mit Gegenwind, ist sowieso nicht sonderlich angenehm und verbraucht auf längeren Strecken derart viel Kraft, dass, was man am Morgen an Zeit gutmacht, man am Abend verlieren wird. Und ab kurz hinter Basel werden dann sowieso ganz andere Gänge gefragt sein.
Der Radweg verlässt jetzt manchmal den Rhein, dafür bieten rechter Hand die Vogesen und linker Hand der Schwarzwald einen schönen Anblick. Es geht auch ein paar Mal ein wenig bergauf und wieder -ab, in demütigender Manier überholt mich einmal das Peloton eines Amateur-Radrennens. Auf Basel zu radle ich dann wieder entlang eines Flusslaufes oder Kanals, hier folgt der zweite Schock des Tages. Die Strecke führt alle paar hundert Meter unter einer Brücke hindurch; hier kommt mir auf meiner Seite der Fahrbahn ein freihändig fahrender Typ entgegen, der zu allem Überfluss auch noch einen Joint oder eine sehr große selbstgedrehte Kippe raucht. Ich versuche auszuweichen, doch auch er zuckt und ändert die Richtung und wir prallen frontal gegeneinander. Irgend ein Teil seines Rades erwischt meine Kniescheibe, die den Rest des Tages ziemlich schmerzt. Allerdings ohne, dass es beim Treten schlimmer würde, weshalb ich weiter fahre.
Mein Campingplatz liegt praktisch in der Stadt und dennoch im Grünen. Hier habe ich meine Begegnung mit jenem Typen an der Bar, der genauso aussieht wie Jacques Brel. Und: Nicht, wie er einst ausgesehen hat, sondern wie er aussehen könnte, wäre er 2008 noch am Leben. Alt, grau, langes etwas fettiges Haar, ein Zahn fehlt, dennoch gut gekleidet, raucht Kette, trinkt Bier aus einem Weinglas, flirtet rechts und links. Aus dieser Begegnung entstanden seitdem eine kleine Erzählung und ein größeres Gedicht. Auf dem Campingplatz bekomme ich auch Voltaren und Eis, um das Knie zu kühlen. Das wird ab dann dennoch weiter weh tun, wenn man es anfasst. Fasst man es nicht an, ist alles in Ordnung. Also fasse ich es möglichst selten an.
Ein unerwartetes Hindernis
Die Schweiz ist ein wundervolles Land zum Radfahren. Fahrradwegweiser führen mich mit Leichtigkeit durch Basel, ab jetzt gibt es Rad-Fernrouten, die den Rest meines Weges derart komfortabel ausschildern, dass ich nur noch in Ausnahmefällen die Karte konsultieren muss. Auf der anderen Seite ist die Schweiz natürlich bergig. Gleich der erste Berg, der den Namen verdient, hat es in sich. Die (!) Schaffmatt ist über 800 Meter hoch und hat mehrfach und fortdauernd Steigungswerte von irgendwo zwischen 15 und 20 Prozent. Ein genaues Profil konnte ich nicht finden, doch Straßenaufschriften zeigen, dass auch hier einmal die Tour de Suisse drüber gefahren sein muss. Das ist selbst im ersten Gang brutal und ich mache mir Sorgen ums Knie, aber es geht. Trotz Klausen wird die Schaffmatt der schwerste Berg sein, den ich auf dieser Tour und überhaupt je gefahren bin. Danach geht es noch manchmal sanft bergauf, meist sanft bergab durch diese wunderschöne dunkelgrüne hügelige Schweizer Voralpenlandschaft, während schon bald die Alpen in den Blick kommen und am Campingplatz am Sursee bereits das Landschaftsbild dominieren. Klares Wasser, klare Luft, und Preise, die nach meinen Erfahrungen zuvor steiler wirken als der Berg, der mich noch erwartet. Statt bisher fünf bis 10 Euro zahle ich 25 Euro für eine Nacht.
Der folgende Tag ist ein Erholungstag. Von Sursee geht es meistens bergab Richtung Küssnacht. Nun könnte ich den ganzen Vierwaldstättersee umrunden oder, und das ist der Weg den ich wähle, ich fahre weiter am Westufer entlang und lasse mich von der Fähre von Luzern direkt nach Weggis bringen. Noch einige Kilometer sanftes Bergauf und Bergab, und ich finde einen etwas günstigeren Campingplatz wenige Kilometer vor Altdorf. Auf der Fähre treffe ich einen älteren Mann und seinen Sohn, die eine Fahrradtour nachfahren, die der Ältere als Jugendlicher noch mit einem 3-Gang Rad gemacht haben will. Es geht über mehrere Alpenpässe. Immerhin: Diesmal benutzen die beiden moderne Rennräder. Was die Landschaft betrifft, kann man sich nur wiederholen: Die Gegend rund um den Vierwaldstättersee ist nicht umsonst berühmt, wenn auch touristisch deutlich überlaufener als das ebenfalls schöne Sursee. Verweise auf Wilhelm Tell findet man allenthalben, in Altdorf gibt es auch ein Tell-Museum, aber ich bin zu müde, um mir ein kulturelles Programm zu geben.
Über den Klausen…
Und dann folgt auch schon der letzte Tag der Reise: Den habe ich mir einzig und allein für den Pass aufgespart. Eine kurze Anfahrt von einigen Kilometern, um warm zu werden. Dann geht es aufwärts. 21 km. Ich habe mir reichlich Nutella-Brote geschmiert und außer Wasser auch Cola dabei für eine schnelle Zuckerzufuhr. Leider ist es erstmals auf dieser Tour neblig und regnet auch ein wenig. Doch den Regen spürt man nicht, ist man erstmal im Anstieg. Ja, wenn überhaupt, tut er gut. Auf einem so langen Anstieg, mit Gepäck irgendwo zwischen 20 und 30 Kilogramm, fährt man sich im niedrigsten Gang irgendwann fast in eine Art Trance. Da ist der Nebel, aus dem manchmal Häuser auftauchen, selten ein Auto oder ein Wanderer. Kühe stehen plötzlich auf der Straße und manchmal reißt die Nebeldecke auf und man sieht einige 100 Meter weit in die Gebirgslandschaft. Weiter oben lassen die zahlreichen Namen von Radgrößen, die auf den Asphalt gepinselt sind, Tour-Atmosphäre aufkommen, und durch das Klingen der Glocken der Kühe mag man sich mit etwas Fantasie sogar ein Publikum vorstellen. Dieses allerdings könnte desinteressierter nicht sein. Sogar Umwege bürdet es einem auf, wenn es gerade Lust hat, mitten auf der Straße herumzustehen.
Als ich endlich die Wolkendecke durchstoße und oben das Hotel sehe, das den Gipfel markieren soll, packt mich dann doch sportlicher Ehrgeiz, und ich erhöhe das Tempo und gehe sogar einige Male aus dem Sattel. Das war nicht die beste Idee: Nach dem Hotel geht es bestimmt noch zwei weitere Kilometer bergauf, wenn auch nicht mehr ganz so steil. Ein kleines Restaurant steht auf dem eigentlichen Scheitelpunkt des Passes bei 1948 Metern Höhe. Und: Zur Ostseite runter verstellen keine Wolken den Blick, ich bekomme doch noch meine herrlich weitreichende Alpenaussicht.
Dann geht es abwärts. 20 Kilometer bergab machen auf eine ganz andere Art und Weise Spaß als 20 bergauf. Ich habe zum Glück morgens frische Bremsen montiert. Nach der Abfahrt sind sie größtenteils heruntergefahren. Ich fahre dann noch etwa 30 bis 40 Kilometer, ehe ich in Glarus ankomme. Dort wird ein Zug bestiegen und das könnte es mit meiner Reise gewesen sein.
… und heimwärts
Allerdings möchte ich nicht verschweigen, wie auf einem Zwischenhalt in Basel mein Rad geklaut wurde und ich es mir zurück gewann. Basel hat nämlich einen Fahrradparkplatz im Keller unter dem Bahnhof. Dort stellte ich das Rad ab; doch um es irgendwo fest zu schließen, hätte man zahlen müssen. Ich fand, ich hätte in der Schweiz schon genug Geld ausgegeben. Also schloss ich das Rad nur an sich selbst fest. Ich meine, wer klaut ein schwer bepacktes Fahrrad voller stinkender Kleidung? Als ich zurückkomme, da mein Zug bald geht, ist das Rad aber weg. Ich renne in verschiedene Richtungen, um herauszufinden, ob irgendwer jemanden mit dem Rad gesehen hat. Und tatsächlich verweisen mich Passanten in Richtung eines nahen Parks, jemand, den sie für einen Junkie hielten, habe ein Rad die Treppen hoch getragen. Und hurra! Mitten im Park steht es. Meine Unterwäsche ist in der ganzen Landschaft verteilt, aber die ist eh nicht viel wert. Ich packe trotzdem so gut es geht zusammen und erreiche rennend sogar noch meinen Zug.
Eine zweite erwähnenswerte Sache: Als ich zu Hause die Karten noch einmal studiere, entdecke ich, dass parallel zum Klausenpass mit dem Praglpass ein noch deutlich steilerer, dafür jedoch fast unbefahrener Pass wieder zum Vierwaldstättersee zurück geführt hätte. Etwa auf halber Höhe gibt es eine Hochebene mit einem kleinen See, der auf Karten wunderwoll still und abgelegen wirkt. Sogar campen kann man dort mittlerweile (damals, glaube ich, war das nicht möglich gewesen). Gott, wie habe ich mir in den Arsch gebissen, dass ich das nicht früher gewusst hatte. Dann wäre ich sicherlich noch einen Tag länger geblieben und hätte die Rückreise erst von Altdorf aus angetreten. Dieser Pass sieht auf Karten und den wenigen Bildern einfach märchenhaft aus.
Und das war’s. Seitdem habe ich keine großen Radreisen mehr unternommen. Mal passte es mit der Zeit nicht, mal nicht mit der Fitness.
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