Vergesellschaftung – Schreckgespenst oder Mittel der Wahl?

Kevin Kühnert hat einen Begriff verwendet, der manchem Besitzenden den Angstschweiß auf die Stirn treibt: Vergesellschaftung. Aber wo ist das Problem, fragt sich Heinrich Schmitz in seiner heutigen Kolumne


Bild von Gerald Lobenwein auf Pixabay

Da hat der Kühnert aber einen Coup gelandet. Alleine die Erwähnung des Wortes „Vergesellschaftung“ reichte, um das SPD-Wirtschaftsforum den Parteiausschluss des Vorsitzenden der Jusos fordern zu lassen. Wohlgemerkt, das SPD-Wirtschaftsforum. Dass die anderen Parteien sich begierig auf die Wortwahl Kühnerts stürzten und den alten Wahlkampfslogan „Freiheit oder Sozialismus“ ausgruben, ist nachvollziehbar, aber Mitglieder der SPD? Haben die vielleicht das Hamburger Parteiprogramm der SPD nie gelesen? Dort heißt es:

Unsere Geschichte ist geprägt von der Idee des demokratischen Sozialismus, einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, in der unsere Grundwerte verwirklicht sind. Sie verlangt eine Ordnung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, in der die bürgerlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte für alle Menschen garantiert sind, alle Menschen ein Leben ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt, also in sozialer und menschlicher Sicherheit führen können.

Das Ende des Staatssozialismus sowjetischer Prägung hat die Idee des demokratischen Sozialismus nicht widerlegt, sondern die Orientierung der Sozialdemokratie an Grundwerten eindrucksvoll bestätigt. Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist. Das Prinzip unseres Handelns ist die soziale Demokratie.

Geht gar nicht?

Da wird so getan, als habe Kühnert eine völlig irrige, verfassungswidrige Forderung aus dem Hut gezaubert. Etwas, das gar nicht geht. Und etwas, das unserer Verfassung widerspricht.

Aber nein, das ist gar nicht so.

Auch wenn das Grundgesetz in knapp zwei Wochen 70 Jahre alt wird,, scheinen nicht einmal Politiker es zu kennen. Wenigstens die Grundrechte, also die Art. 1 bis 20, sollte jeder mal gelesen haben. Und wenn man das tut, stößt man nach Art. 14 GG, der zum einen das Eigentum garantiert, seinen Gebrauch aber auch in den Dienst der Allgemeinheit stellt und in Absatz 3 sogar Enteignungen vorsieht, auf den Art. 15 GG:

Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.

Huch, so was steht im Grundgesetz? Wusstemalwiederkeiner?

Kühnert hat also nicht Voldemort beschworen, sondern nur eine Idee ausgesprochen, die eigentlich mal die Idee seiner Partei gewesen und immer noch im Parteiprogramm vorhanden ist. Und die Idee des demokratischen Sozialismus ist auch nicht – wie viele denken – verfassungswidrig, sondern eine Option, die gerade ein Juso mit vollem Recht verfolgen darf.

Dass es ein erhebliches Problem im Bereich des bezahlbaren Wohnraums gibt, ist kein Staatsgeheimnis. Und da darf ein Juso auch mal laut darüber nachdenken, ob eine Vergesellschaftung der großen Wohnungsbauunternehmen nicht eine Lösung sein könnte. Das bedeutet nun nicht, dass ich das für eine sinnige Lösung halte, aber es ist legitim, solche Gedanken zu äußern. Ob so etwas sinnvoll ist, steht ja auf einem ganz anderen Blatt. Zum einen würde zwar durch eine Vergesellschaftung keine einzige Wohnung mehr zur Verfügung stehen, zum anderen könnte eine Genossenschaft aber niedrigere Mieten verlangen, weil sie nicht gewinnorientiert arbeiten müsste.

Kein schändlicher Gedanke

Und es ist auch kein schändlicher Gedanke, wenn ein Juso sich überlegt, ob es denn gerecht ist, wenn die Eigentümer von BMW 7 von 8 Milliarden einsacken, während für die Belegschaft gerade mal eine Milliarde ausgegeben wird. Okay, wenn man sich ansieht, was für Schüsseln die VEB Sachsenring Automobilwerke Zwickau produziert hat, mag man denken, dass es besser ist, wenn BMW kein volkseigener Betrieb wird. Wie dem auch sei, das Grundgesetz hat sich nicht auf eine bestimmte Wirtschaftsordnung festgelegt, auch nicht auf die „soziale Marktwirtschaft“.

Vielmehr wurde das GG da gerade auf Betreiben der SPD bewusst offen gehalten. Schade, wenn die alte Dame SPD die nun etwas jüngere 70-jährige Dame Grundgesetz verleugnen möchte. Und gerade den Art. 15 GG, der von ihren Genossen in das GG eingebracht wurde.

Art. 15 GG ist noch in seinem ursprünglichen Zustand. Es ist ein Grundgesetzartikel, der seit seinem Bestehen noch nie angewendet wurde. Gleichwohl halte ich den erneuten Vorstoß der FDP, den Art. 15 GG vollständig aus der Verfassung zu streichen, nicht für sinnvoll. Warum sollte die Gesellschaft das Mittel der Vergesellschaftung für eventuelle Notzeiten freiwillig aus der Hand geben? Kann doch sein, dass man den noch mal brauchen kann. Aber vermutlich ist genau das der Grund für die FDP ihn abzuschaffen.

Gemeinwirtschaft als das Gegenteil der individuellen Gewinnorientierung. Das bedeutet, dass Vergesellschaftung nicht Verstaatlichung bedeutet. Der Staat kann sich nicht einfach einen Betrieb unter den Nagel reißen, um danach selbst die Gewinne einzustreichen. Ein weiteres gewinnorientiertes Wirtschaften ist gerade keine Gemeinwirtschaft. Art. 15 GG ist daher auch ein Abwehrrecht, weil er die Möglichkeiten der Vergesellschaftung ganz erheblich einschränkt – und deshalb wohl auch noch nie jemand auf die Idee gekommen ist, so eine Sozialisierung ernsthaft in Betracht zu ziehen. Aber wie gesagt, im Notfall wäre das eben möglich.

Möglich allerdings nur mit einem echten, vom Parlament beschlossenen Gesetz. Auch da liegt wieder eine Hürde, die die Vergesellschaftung jedenfalls sehr schwierig macht. Und selbstverständlich auch gerichtlich überprüfbar. Wer sich etwas intensiver mit der Materie beschäftigen möchte, dem empfehle ich den schon etwas älteren, aber aktualisierten  Artikel des Kollegen Jens Ferner.

Noch nicht

Noch sehe ich überhaupt keine Notwendigkeit für Vergesellschaftungen. Mit der sozialen Marktwirtschaft sind wir bisher ganz gut gefahren und insbesondere durch einige Krisen gekommen, die andere Länder sehr viel härter getroffen haben. Es ist allerdings auch nicht von der Hand zu weisen, dass gerade der soziale Teil der Marktwirtschaft schwächelt, während dem kapitalistischen Teil immer mehr Freiheit eingeräumt wird. Wenn Wohnraum nun schon 50% des monatlichen Nettoeinkommens auffrisst oder – in Großstädten wie München, Hamburg oder Köln – nur noch für Reiche erschwinglich oder gar nicht mehr vorhanden ist, wenn eine Rentnerin sich nach dem Tod des Ehemannes die alte Wohnung nicht mehr leisten kann, wenn junge Familien erst gar keine Wohnung mehr finden, ja dann muss etwas geschehen. Sei es dadurch, dass Grundstückseigentümer, die ihre Grundstücke als Kapitalanlage unbebaut lassen, zum Bauen gezwungen werden, wie das Boris Palmer anstrebt, sei es dass der Staat den seit der Wiedervereinigung eingestellten staatlichen sozialen Wohnungsbau wieder ankurbelt oder sei es halt auch als ultima ratio durch eine Vergesellschaftung rein gewinnorientierte Wohnungskonzerne., die sich zur Zeit wegen der Wohnungsnot auf Kosten ihrer Mieter die Taschen voll machen. Zumindest die Möglichkeit sollte erhalten bleiben. Fiele dieses Damoklesschwert der Vergesellschaftung endgültig und abschließend weg, dann hätten die Eigentümer von abertausenden Mietwohnungen überhaupt keine Veranlassung mehr, von der sozialen zur unsozialen Marktwirtschaft in Form eines ungebremsten Kapitalismus überzugehen. Alleine die abschreckende Möglichkeit der Vergesellschaftung ist durch Kühnert wieder in das Bewusstsein der Gesellschaft gelangt und vielleicht denken auch die SPD-Granden, die sich schnell und voreilig überschlagen haben, sich von Kühnert abzusetzen, einmal darüber nach, ob es nicht gerade solche Ideen sind, die der SPD wieder ein Profil geben könnten, dass auch die Leute anzieht, die meinen, die SPD sei nur ein williger Erfüllungsgehilfe des CDU und deshalb von der SPD zu den unappetitlichen Alternativen am blaubraunen Rand schielen.Vielleicht wäre es aber sinnvoller, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass die SPD durchaus eine wichtige Aufgabe erfüllen könnte, wenn sie sich vergegenwärtigt, dass die Reichen immer noch immer reicher werden und die soziale Gerechtigkeit ein Thema ist, das viele Menschen beschäftigt. Woher kommt dieser Kleinmut?

Villen im Tessin

Ich erinnere mich noch sehr gut an die Plakate von Klaus Staeck, in denen er die Arbeiter davor „warnte“, dass die SPD ihnen ihre Villen im Tessin wegnehmen wollte. Ja, da gab es tatsächlich Jusos, die von wütenden Arbeitern fast verprügelt wurden, als die mit den Plakaten vor den Werkstoren von BASF in Ludwigshafen standen. Irre, nicht wahr? Aber die meisten haben die Aktion schon richtig verstanden. Und die SPD hatte ein klares Profil. Ja, lang, lang ist‘s her.

Und dass in der SPD, der es seit Jahren nicht gelingt, einen Thilo Sarrazin auszuschließen, darüber nachgedacht wird, das ebenfalls mit Kevin Kühnert zu versuchen, ist ein Armutszeugnis. Dann soll sie halt ihr Hamburger Programm  zur Folklore erklären und sich einfach dem CDU-Programm anschließen. Dümmer geht immer.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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