Blut, Schweiß und Tränen für Deutschland?

Der „Kampfgeist“ des deutschen Fußballs wird überbewertet. Auch die Mannschaften der 80er und 90er hatten spielerisch mehr drauf, als man heute erinnert. Ohne moderne Taktik würden sie 2018 trotzdem untergehen.


Der Kollege Henning Hirsch wünscht sich den deutschen Blut, Schweiß und Tränen – Fußball zurück. Oder er hat vor, ins Waschmittelgeschäft einzusteigen. Zumindest liest es sich so, wenn er schreibt:

„Deutsche Mannschaften spielten häufig nicht schön, mitunter war es grausam, sich das Gebolze 90 Minuten lang anzuschauen, aber sie fighteten bis zum Umfallen, was man der Schmutzkruste ihrer Trikots und Hosen dann auch ansah.“

Dass ein dreckiges Trikot keinen Weltmeister macht, weiß Hirsch aber wahrscheinlich selbst, und dass es auf den heute viel besseren Rasensplätzen tatsächlich abseits von Spielen im Regen weniger Sauerei gibt, ist eher am Rande wissenswert.

Wer hat den größeren (Trophäenschrank)?

Ansonsten glänzt unser Fußballexperte diesmal leider vor allem mit selektiver Wahrnehmung. Sicher war der DFB in der Ära Beckenbauer erfolgreich: „1x Vizeweltmeister 86, HF EM 88, Weltmeister 1990. Und das alles ohne Laptop und Sportprofessoren, die die Laufwege und den Kalorienverbrauch der Spieler aufs Komma genau ausrechnen.“
Die nur gemeinsam zu betrachtende Phase Klinsmann-Löw allerdings ist an Erfolgen auch nicht gerade arm. Weltmeister, zweimal WM Dritter, zweimal im Halbfinale der Europameisterschaft, dazu auch wenn’s keinen interessiert Olympiazweiter 2016 und erstmals Sieger im Confed-Cup. Außerdem war die Phase von ’86 bis ’94, mit Abstrichen 98 vom alleinigen Spielerpotenzial her die vielleicht stärkste der jüngeren Geschichte des deutschen Fußballs. Es standen beileibe nicht nur Abwehrprügel und Sturmtanks auf dem Platz, sondern massig Feinmotoriker wie Thomas Häßler, Olaf Thon und der zu unrecht fast vergessene Uwe Bein (Andreas Möller war auch dabei. Ein bekanntlich so leichtfüßiger Spieler, man musste ihn nicht mal berühren, schon flog er).

Auch Lothar Matthäus wurde übrigens, bevor er sich altersbedingt zum noch immer das Spiel dirigierenden Libero wandelte, für seine gestalterischen Fähigkeiten geschätzt. Dass es gelang, aus diesem Potenzial die Kloppertruppe zu formen, die die dann wirklich nur noch schwer erträgliche WM ’94 verbrach und deren Resterampe 1998 schon wieder im Viertelfinale ausschied, ist die eigentliche beeindruckende Leistung des deutschen Blut, Schweiß und Tränen – Fußballs. Vor allem aber: Damals kamen die meisten Mannschaften noch „ohne Laptop und Sportprofessoren“ aus, und die Niederlande, die früh auf ein modernes System umgestellt hatte, leistete angesichts der Größe des Fußballverbandes beeindruckendes.

So läuft das nicht mit der Taktik

Schreiend komisch aber ist die Vorstellung des Kollegen, was die taktische Einstellung eines Teams betrifft:

„Heikel wird es nämlich immer dann, sobald sich das andere Team nicht an die ihm theoretisch zugewiesene Rolle hält: Hoch- und nicht tiefsteht, angreift statt verteidigt (oder umgekehrt), 4-4-2 statt 4-3-3 befolgt, oder was sonst noch alles für Abweichungen möglich sind; sich also einen Dreck um den deutschen Masterplan schert. In diesen Fällen – die sich aus meiner laienhaften Beobachtung heraus mittlerweile häufen – weiß auf dem Platz niemand mehr, wie er mit der neuen Situation umgehen soll. Plan A ist sakrosankt, weshalb es Plan B nicht gibt“

Ernsthaft? Wir sollen tatsächlich glauben, dass der Fußball des 21. Jahrhunderts in der Vorstellung am Reißbrett entworfen wird, der Gegner spiele stets genau eine Taktik, und wenn er von dieser abweicht, herrscht Konfusion? Wir sind doch nicht bei den Kickers (wer kennt die Serie noch?), wo man den Rasenschachcomputer mit einem stürmenden Torwart verwirren kann. Natürlich wird sich auf unzählige Strategien vorbereitet, der Gegner bereitet sich wiederum darauf vor und man bereitet sich darauf vor, dass der Gegner vorbereitet ist usw.
Allem individuellen Talent zum Trotz: Ohne eine solche Vorbereitung würde die Weltmeistertruppe von 1990 2018 selbst von einem mittelmäßigen Teams weggefegt. Wohlgemerkt: In der Blüte ihrer Jahre.

Die deutsche Mannschaft schwimmt, weil die Abwehr schwimmt. So einfach ist das. Mexikanischen Spielern gelang es mehrfach, was im modernen Fußball eine Seltenheit ist, deutsche Verteidiger mit Ball zu überlaufen. Das ist eine Schwäche, die selbst mit ganz viel taktischer Umstellung schwer in den Griff zu bekommen sein dürfte. Entsprechend wichtig ist es aber tatsächlich, die Bälle zu halten und nicht aus allen Rohren zu feuern. Was gegen Schweden dann auch leidlich gut funktionierte, mit der Einschränkung, dass zahlreiche sogenannte hundertprozentige Torchance vergeben wurden. Japan spielte trotz Überlegenheit gegen Kolumbien den von Hirsch bevorzugten Fußball. Kämpferisch, ab der 70gsten nur noch hohe Bälle, irgendwas wird schon reingehen. Pustekuchen: Die Japaner spielten sich gegen Ende des Spielers nicht mal mehr die Chancen heraus, die es braucht um Tore zu machen, obwohl sie zuvor gezeigt hatten, dass das bei diszipliniertem Spiel möglich wäre.

Die Tränen werden noch gebraucht

Ob die deutsche Mannschaft satt ist, ob es ja Kampfgeist fehlt oder ob sie sich trotz einiger offenkundiger physischer Schwächen zusammenreißen kann – wer weiß. Sicher ist in jedem Fall: der vielbeschworene Kampfgeist wird wenig bringen ohne ein durchdachtes Konzept. Ein solches nämlich haben heute alle WM Teilnehmer. Übrigens auch Mexiko: Gut ein halbes Jahr habe man sich oft dieses Spiel vorbereitet, hatte der Trainer im Anschluss verkündet. Erfolgreich: die deutsche Abwehr und Konter schwäche wurde absolut korrekt identifiziert und eiskalt ausgenutzt, als der Großteil der deutschen Fußballexperten in der Mannschaft frühen Warnzeichen zum trotz noch den Aspiranten auf der Titelverteidigung gesehen hatte. Also, liebe Fußballfans: Vergesst Blut und Schweiß. Und spart euch die Tränen für nach der Achtelfinal-Niederlage gegen Brasilien.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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