Mit Bukowski bei der Darmspiegelung

In der Geschlossenen trifft Henning Hirsch seinen alten Kumpel Buk, quatscht mit dem über die Vor- und Nachteile des klinischen Entzugs und begleitet ihn zu einer Darmspiegelung


Von allen traurigen Suchtkliniken, in die ich eingeliefert wurde, war Andernach die mit Abstand traurigste. Als ich im Raucherzimmer auf einem Holzstuhl hockte, von dem die Farbe abplatzte und auf die ersten Tabletten wartete, wusste ich nicht so genau, weshalb ich überhaupt hier gelandet war. Ich konnte mich schemenhaft an Rosi erinnern, die mein Kumpel Rolf für mich in einer Singlebörse aufgegabelt hatte, die in Koblenz eine schöne Wohnung am Rheinufer mit Blick auf den Ehrenbreitstein und einen gut bestückten Spirituosenschrank besaß, mit der ich mich 48 oder 72 Stunden lang vergnügt hatte. Rolf hatte mir sogar das Bahnticket spendiert. »Damit du mal rauskommst aus Köln und deinem Trott«, hatte er dazu gesagt. Das war wirklich nett von ihm gewesen. Na ja, Rolf konnte neben seiner nervigen Klugscheißerei auch nett sein. Als ich in der Provinz ankam, und Rosi nicht wie vereinbart am Bahnsteig stand, wollte ich schon wieder zurückfahren, denn ich hatte keine große Lust, sie nun suchen zu müssen. Ich ging zum Kiosk, um mir einen Flachmann zu besorgen, als mich eine rothaarige Frau, die vor zwanzig Jahren sicher mal gut ausgesehen hatte, deren beste Tage allerdings definitiv lange zurücklagen, von der Seite ansprach: »Bist du Henning?« – »Ja. Und du vermutlich Rosi. Bist unpünktlich. Wollte schon retour nach Köln.«
»Nun hab dich mal nicht so wegen zehn Minuten. Scheinst ein Pedant zu sein.«
»Alles Schnee von gestern, wenn’s bei dir zu Hause was zu trinken gibt.«
»Keine Sorge, habe jede Menge für uns eingekauft.«

In den nächsten 48 oder 72 Stunden taten wir nichts anderes als abwechselnd saufen und vögeln und zwischendurch dummes Zeug zu reden. Halt so ein typisches ü45-Hetero-Sexwochenende. Sie war im Bett nicht schlecht, beherrschte einige Nummern, die ich nicht kannte, und ich war Rolf dankbar, dass er die Sache für mich arrangiert hatte. Das pausenlose Gerammel wurde mir allerdings nach einem Tag schon etwas fade, und ich wollte nur noch in Ruhe weitertrinken und dabei das schöne Panorama genießen. Aber Rosi maulte, nannte mich mehrmals einen impotenten, faulen Sack, und ich überlegte, Rolf anzurufen und darum zu bitten, mich bei dieser Nymphomanin abzulösen. Ob wir uns am Ende gestritten haben, weiß ich ehrlich gesagt nicht. Eigentlich macht mich Alkohol eher friedlich und freundlich. Kann aber sein, dass ich Rosi als dauergeile, alte Schlampe beschimpft habe. Falls ich es getan haben sollte, dann tut’s mir natürlich leid und ich entschuldige mich an dieser Stelle dafür. Nach 48 oder 72 Stunden neigten sich ihre Alkoholvorräte dem Ende zu, weshalb ich anbot, Nachschub zu besorgen. Auf dem Weg zum Supermarkt gingen bei mir die Lampen aus, und ich kam erst wieder an Bord eines Rettungswagens zu mir. Um mich herum zwei junge Sanitäter. Keine Bullen. Das war schon mal positiv. »Wohin fahren wir?«, fragte ich. – »Andernach«, antwortete der Kleinere der beiden  »Warum nicht Köln?«, hakte ich nach. – »Weil Köln hundert Kilometer entfernt liegt.«

Und so saß ich nun mit 3.8 Promille, einem Kasten Wasser neben mir und schlechter Laune im Raucherzimmer der Andernacher Klinik. »Pillen gibt’s erst bei 0.8«, hatte der Aufnahmearzt gesagt. »WAS?? In Köln bekomme ich die bei 1.5.« – »Wir sind aber hier nicht in Köln«, raunzte er mich an.
Ich kippte Flasche um Flasche Mineralwasser in mich rein, rülpste, ging zum Pissen aufs Klo, trank Wasser, rülpste wieder. Die übliche Vorgehensweise, um schnell runterzukommen. Im Abstand von sechzig Minuten lief ich ins Schwesternzimmer, pustete dort ins Testgerät. »Jetzt sind Sie bei 3.2. Dauert noch eine Weile bis 0.8. Immerhin bauen Sie 0.3 pro Stunde ab.«

Bei Unterschreiten der 3.0 setzte der Entzug ein: Herzrasen, Schwindelgefühl, Schweißausbrüche. Und es war noch elend lange hin, bis ich den vom Arzt festgelegten Schwellenwert erreichen würde. Klaglos nur deshalb zu ertragen, weil ich die Prozedur aus dem Effeff beherrschte.

Ich weiß auch nicht, weshalb sie immer so ein Theater mit den 0.8 und 1.5 veranstalten, und uns das Zeug nicht sofort geben. Sei zu gefährlich, behaupten sie. Ich vermute ja, dass sie uns Säufer quälen wollen. So nach dem Motto: Wer viel trinkt, muss dann eben in der Konsequenz auch Schmerzen ertragen. Vielleicht soll es auch der Abschreckung dienen. Was weiß ich, was in den Köpfen der Ärzte und Pfleger vor sich geht, wenn sie den 5000sten unheilbaren Alki erblicken. Resignation, Zynismus oder gar zum Sadisten werden. Ich will’s ihnen gar nicht übel nehmen. An ihrer Stelle würde ich genauso denken.

Ich glotzte an die Tapete, hasste Rolf, der mich mit Rosi verkuppeln wollte und hasste mich, weil ich auf seinen Vorschlag eingegangen war. Ganz besonders hasste ich Andernach und die Gestalten im Raucherzimmer. Rosi hingegen hasste ich nicht, die war mir egal.

Die Tür schwenkte auf, ein 100-Kilo-Kerl mit Aktentasche in der Hand und verlegenem Grinsen im Gesicht kam herein. »Ist hier noch ein Platz frei?«, erkundigte er sich. Niemand würdigte ihn eines Blickes, was mich mutmaßen ließ, dass er hier zum ersten Mal aufschlug. In der Geschlossenen ist es ein bisschen wie im Knast: es gibt eine Hackordnung, und du giltst erst dann als vollwertiges Mitglied der Säuferfamilie, wenn du deinen zwanzigsten Entzug absolviert hast.
Der Koloss ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen. »Ist das genehm?«, fragte er.
»Ja ja, ist okay.«
Er öffnete die Tasche und holte eine Plastikdose mit belegten Stullen heraus. »Möchtest du ein Butterbrot? Meine Frau hat mir ein paar geschmiert, bevor sie mich hierhin gebracht hat.«
»Nein.«
»Vielleicht einen Schokoriegel?«
»Nein!«
»Ich heiße Matthias und du?«
»Matthias, tu mir einen Gefallen und rede nicht so viel.«
»Gedrückte Stimmung hier drinnen«, sagte er.
»Die war ganz okay, bis du aufgetaucht bist.« Mir brach erneut der Schweiß aus, mein Hemd war klitschnass und auch unter Matthias Achselhöhlen zeichneten sich fette Kränze ab. Ich stand auf, schnorrte mir von einem Typen, der vor dem vergitterten Fenster lehnte, eine Zigarette, war kaum in der Lage, die mit meinen zitternden Fingern festzuhalten, machte drei Züge, ließ den Rest auf den Boden fallen, wo ein anderer Patient den Stummel sofort gierig aufklaubte.

»Schlimm, der Entzug bei dir?«, fragte Matthias.
»Genauso beschissen wie die dreißig Mal vorher.«
»So oft warst du schon hier?«
»Nein, in diesem traurigen Laden bin ich heute das allererste Mal.«
»Verstehe«, sagte er.
»Was verstehst du? Überhaupt nichts verstehst du.«
Matthias schwieg fünf Minuten lang, dann griff er erneut in seine Tasche hinein und zog ein Buch heraus. »Weißt du, was das ist?«
»Was soll das schon sein? Ein Buch halt.«
»Ja, aber ein besonderes Buch.»
»Mit Zaubersprüchen drin?«
»Nein, von Bukowski
»Von wem?«
»Ein amerikanischer Schriftsteller. Kennst du den nicht?«
»Schon mal von gehört. Der schreibt so Pornogeschichten.«
»Vordergründig Porno. Aber eigentlich Kritik am American way of life.«
»Klingt langweilig«, sagte ich. »Porno mit Bildern und ohne Text finde ich spannender«. In den vergangenen vier Jahren hatte ich keinen einzigen Roman in die Hand genommen. Mehr als der Sportteil des Express war nicht drin. Hatte echt große Konzentrationsschwierigkeiten.

»Probier dieses aus. Ist ein Band mit Kurzgeschichten. Die eine, in der er von seinen Hämorrhoiden und der nachfolgenden Darmspiegelung berichtet, ist echt witzig. Wird dir gefallen.«
»Sehe ich aus wie jemand, der sich auf eine Darmspiegelung freut?« Ich ließ mir das Buch trotzdem von ihm aufschwatzen und machte mich auf den Weg zum Schwesternzimmer. Dort war gerade Schichtwechsel gewesen. Statt der griesgrämigen Ordensfrau vom frühen Abend erwartete mich nun eine attraktive Blondine mit enormer Oberweite.
»Ist der alte Drachen weg?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete sie. »Ich bin Schwester Beate. Sie sind zum ersten Mal bei uns?«
»Nur aus Versehen. Sonst entgifte ich in Köln.«
»Ah, Köln. Da haben wir ja was gemeinsam. Ich stamme aus Nippes.« Sie reichte mir das Testgerät. Ich blies hinein: 1.5.
»Ich habe meine Brille verlegt. Könnten Sie für mich den Wert ablesen?«
»0.8«, sagte ich und drückte sofort auf den Ausknopf.
»0.8«, notierte sie laut in den vor ihr liegenden Protokollzettel. »Das ist schön. Dann können wir Ihnen ja endlich was gegen Ihre Entzugsschmerzen geben. Ich habe Distraneurin, Rivotril und Diazepam im Angebot.«
»Mir völlig egal. Aber zwei Pillen.«
»Ich verabreiche Ihnen Rivotril. In Ordnung für Sie?«

Ich ließ mich auf das Sofa im Aufenthaltsraum fallen und wartete auf die Wirkung der Benzos. Die Sache mit der Brille war echt nett von Beate gewesen. Hatte mir zweieinhalb Stunden Quälerei erspart. Nach 15 Minuten beruhigte sich mein Kreislauf, das Würgegefühl ebbte ab, in den Beinen spürte ich wieder Kraft. Eine Stunde später holte ich mir zwei weitere Tabletten. »Und nun sollten Sie schlafen«, sagte Beate. »Es ist weit nach Mitternacht.«
»Ich versuch’s«, antwortete ich.

Im Türrahmen stand ein circa 30jähriger Galgenvogel und versperrte mir den Weg. »Was willst du?«, fragte er mit slawischem Akzent.
»Was wohl? Pennen.« Ich schob ihn zur Seite.
»Das ist mein Zimmer«, erwiderte er.
»Und deshalb sind drei Betten drin.« Ich warf mich in voller Montur auf das neben der Heizung und starrte an die Decke. Das Buch hielt ich immer noch in der Hand. Der Russe oder Kasache oder Usbeke marschierte in dem kleinen Raum auf und ab, legte Kilometer um Kilometer zwischen Waschbecken und Fenster zurück, redete mit sich selbst, fuckte mich ab. Als er seine Notdurft ins Waschbecken verrichtete, war die rote Linie überschritten. »Das kannst du zu Hause machen, aber nicht hier«, sagte ich.
»Willst du Ärger haben?«, schrie er. Dann fiel er mit geöffneter Hose auf den Linoleumboden und begann zu schnarchen. Ich ließ ihn dort liegen und versuchte, selbst zur Ruhe zu kommen.

Als ich die Augen aufschlug, war der Russe verschwunden und Bukowski, den ich seit Studentenzeit gut kannte, saß auf meiner Bettkante.
»Was machst du in diesem Rattenloch?«, fragte er.
»Dasselbe wie du: einen Entzug.«
»Entzüge sind ein großer Selbstbetrug«, antwortete er. »Weil wir danach erfahrungsgemäß weitertrinken.«
»Stimmt. Aber für ein paar Tage fühlt man sich körperlich wieder hergestellt.«
»Das ist aber auch das einzige, was man positiv darüber berichten kann … Hast du sie gefickt?«
»Wen?«
»Na, wen wohl: Rosi.«
»Ich glaube schon.«
»Du glaubst, du hättest sie gefickt??«
»Am ersten Tag bestimmt. Aber danach erinnere ich mich an nichts.«
»Es ist ein großes Elend mit der Sauferei. Selbst das Vögeln bereitet einem keinen richtigen Spaß mehr. Und jetzt laufen wir uns ausgerechnet in Andernach über den Weg. Schon komisch.« Bukowski betrachtete mich argwöhnisch mit seinen Alligatoraugen und fletschte die Krokodilszähne; als ob er mich gleich zerfetzen wollte.
»Was ist mit Andernach?«
»Ich bin hier geboren. Hast du das etwa vergessen?«
»Ich weiß doch nicht von jedem Schreiber, in welchem Kaff der das Licht der Welt erblickt hat.«
»Solltest du aber. Steht in meinen Büchern hinten in der Kurzvita drin.« Wie jeder Starautor war er eitel und erwartete von Leuten wie mir, dass ich sowohl seine Geschichten als auch die Details seines Lebenslaufs auswendig runterbeten konnte.
»Den Abspann lese ich nie.«

»Lass uns zu Schwester Beate gehen; neue Pillen einwerfen. Die gefällt dir, oder?«`
»Sie ist ganz okay«, antwortete ich.
»Du hast ihr vorhin ganz schön auf die Titten geglotzt. Aber gib dich keinen Illusionen hin. Zwischen Personal und Patienten läuft nichts. Auch wenn ich in meinen Stories was anderes erzähle. Aber das sind bloß Trinkerfantasien.«
»Weiß ich selber.«

Wir verließen unser Zimmer und marschierten durch den neonbeschienen Korridor in Richtung Schwester Beate.

An dieser Stelle stoppe ich, denn Texte, die 1500 Wörter überschreiten, werden so gut wie nie bis zum Ende gelesen. In Facebook liegt die Grenze ohnehin noch deutlich darunter.

In der Fortsetzung müssen sich Bukowski und ich bei Beate einer Darmspiegelung unterziehen, und ich erfahre nebenbei allerlei Wissenswertes über Andernach.

PS. das ist – falls es überhaupt jemanden interessiert – meine 50ste Kolumne, wofür ich die bronzene Kolumnistennadel zugeschickt bekomme

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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