Was die Empörung um Julia Kristeva verrät
Man weiß noch nichts, aber man empört sich schon mal vorsichtig über die mögliche Zusammenarbeit von Julia Kristeva mit dem bulgarischen Geheimdienst. Jörg Phil Friedrich fragt sich, was das bedeutet.
Man weiß noch nichts genaues, aber man schaltet schon einmal probeweise in den Modus der Empörung und der entsetzten Ungläubigkeit um. Seitdem gemeldet wurde, dass die bulgarisch-französische Philosophin und Schriftstellerin Julia Kristeva 1971 als dreißigjährige womöglich bereit gewesen ist, für den bulgarischen Auslandsgeheimdienst zu arbeiten, erscheinen in den sozialen Medien erste Postings, in denen schon einmal sicherheitshalber Entsetzen im Konjunktiv geäußert wird.
Empörung im Konjunktiv
Es wäre philosophisch interessant, die Logik solcher Äußerungen zu untersuchen – sozusagen eine Modallogik des Konjunktivs. Was würde ich sagen wollen, wenn das, was da in Meldungen angedeutet wird, wahr wäre? Vor allem wäre interessant, den Gründen für solche Konjunktiv-Meinungsäußerungen nachzugehen. Warum haben Menschen das Bedürfnis, schon mal probeweise eine Person zu kritisieren, zu verurteilen oder zu vernichten, von deren bösem Tun man bisher nur Vermutungen hat und jedenfalls nichts Genaues weiß? Gibt es nicht genügend erwiesene Missetaten, deren Umfang ausreichend bekannt ist, über die man sich empören kann, wenn man sich schon unbedingt echauffieren will?
So eine konjunktive Empörung hat ja viele Vorzüge: Man kann schon mal seine eigene moralische Überlegenheit gegenüber einer verwerflichen Tat deutlich machen und ist damit ganz vorn mit dabei im Wettbewerb um die besten ethischen Prinzipien – und kann sich doch jederzeit wieder zurückziehen wenn sich zeigt, dass an der Sache quasi nichts, oder doch nur lächerlich wenig dran war. Man konnte den möglichen Fall schon einmal nutzen, um klar zu machen, dass man dies und das von jener Person nicht gedacht hätte (ein bisschen naiv in moralischen Fragen stellt man sich ja gern mal hin) und kann doch schon mal über die allgemeine Schlechtigkeit der Welt reden, in der selbst solche Personen etwas verwerfliches getan haben.
Auch ein philosophisch ertragreicher Gegenstand dürfte die Frage sein, welche Art von Wissen eigentlich diesem empörten Reden auf Probe zugrunde liegt. Da ist eine Meldung in einigen Zeitungen, zugegeben alles sehr seriöse Blätter. Diese Meldung bezieht sich auf eine Verlautbarung einer Kommission, die hierzulande kaum bekannt sein dürfte, deren Zweck und Ziel nur angedeutet ist. Der eigentliche Inhalt ist dürftig, auch wenn er sich auf eine umfangreiche Recherche beruft. Die tatsächlichen Geschehnisse, über die man auf dieser Basis Vermutungen anstellen kann, erstrecken sich von „eigentlich nichts“ bis „umfangreiche geheimdienstliche Tätigkeit“. Wenn „Wissen“ die Grundlage von „Urteilen“ ist, dann wäre es wirklich eine Herausforderung, zu beschreiben, in welchem Sinne die, die hier probeweise urteilen, eigentlich Wissen besitzen.
Und wenn…?
Aber interessant ist auch, einen Blick auf die Vermutungen selbst zu werfen, über die man sich empören würde, wenn sie sich denn als wahr herausstellen würden. Da soll also eine dreißigjährige Philosophin im Jahre 1971 Kontakt mit einem osteuropäischen Geheimdienst gehabt haben. Ist es grundsätzlich schon erschütternd, dass Philosophinnen Geheimdienstkontakte haben? Das mag man so sehen. Hier kommt wohl dazu, dass der Geheimdienst zur „anderen Seite“ gehört hat, schließlich lebte die Frau zu jener Zeit schon in Paris, und der Geheimdienst war einer aus dem kommunistischen Block.
Wenn man den Kontakt zwischen Philosophinnen und Geheimdiensten nicht grundsätzlich verabscheuenswürdig findet, dann muss man sich doch fragen, ob es wirklich 1971 für eine Pariser Philosophin bulgarischer Herkunft so verwerflich war, mit Geheimdienstlern ihres Heimatlandes zu reden. Aus der Sicht der heute Besserwissenden mag das so sein. Damals war die Begeisterung für eine sozialistische Idee unter westeuropäischen Intellektuellen jedoch verbreitet, und wie weit der reale Sozialismus in Osteuropa von dieser Idee entfernt war, wie weltfremd jede Hoffnung war, dass sich diese Realität in Richtung des Ideals entwickeln konnte, lag nicht offensichtlich auf der Hand. Gleichzeitig war eine kritische Einstellung zum westlichen System des Wirtschaftens und der Politik verbreitet, viele Probleme in den so genannten sozialistischen Staaten wurden dem Westen angerechnet, der kalte Krieg lief auf Hochtouren. Dass da ein Mensch mit sozialistischen Idealen bereit ist, den schwachen Osten gegen den starken Westen zu unterstützen, ist eigentlich nicht überraschend.
Nein, wenn die Vorwürfe sich als zutreffend herausstellen würden, wäre das, aus philosophischer Perspektive, kein ethisches Problem, sondern allenfalls ein erkenntnistheoretisches: Es würde wieder einmal illustrieren, dass philosophische Reflexionsfähigkeiten nicht politische Urteilsfähigkeit nach sich ziehen. Philosophen sind, wenn es um die Beurteilung politischer Situationen geht, keine guten Ratgeber, schon gar keine Experten. Wenn sie sich politisch betätigen, tun sie das nicht auf der Basis tieferer Einsichten in das, was politisch wirklich läuft. Die Geschichten von politischen Fehlern großer Denkerinnen und Denker sollten die philosophische Zunft bescheiden machen beim Verteilen politischer Ratschläge – viel bescheidener, als sie ist.
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