Wo bitte geht’s zur neuen SPD?

Egal, ob in der Regierung oder auf der Oppositionsbank: Die SPD muss Hartz 4 über Bord werfen, fordert Henning Hirsch


Die SPD befindet sich seit Monaten im ungebremsten Sinkflug. Nach einem kurzen Hype vor einem Jahr mit dem neuen Messias aus Würselen, der mittlerweile schon wieder Geschichte ist, sacken die Beliebtheitswerte bei jeder Umfrage weiter ab. Vom zweiten Stock mit Aussicht aufs Kanzleramt sind wir mittlerweile im Erdgeschoss angelangt mit Blick auf die Hauswand gegenüber, auf der „Angie forever“ prangt. Und der weitere Absturz Richtung Souterrain erscheint nicht ausgeschlossen.

Gelingt es den frischen sozialdemokratischen Ministern im Kabinett Merkel IV, die SPD aus ihrem Jammertal herauszuführen? Von einem kurzfristigen Zwischenhoch unmittelbar nach Verkündigung der Namen mal abgesehen, wird das nicht dauerhaft und prozentual erfolgreich genug funktionieren, solange die Neuen auf den ausgetretenen Pfaden ihrer Vorgänger wandeln. Ein bloßer Austausch der Gesichter genügt nicht, um uns launischen Wählern einen glaubhaften Kurswechsel zu vermitteln.

Nun kann man als Nicht-Genosse, wie ich einer bin, mit den Schultern zucken und sagen: so vergeht der Ruhm der Welt, nichts ist für die Ewigkeit gedacht und das gilt halt ebenfalls für die alte Dame SPD. Irgendwann sterben wir alle. Man kann natürlich auch Mitleid empfinden für eine Partei, die es vor lauter Juniorpartnerschaft in der tödlichen Umklammerung der Merkel-CDU nicht schafft, sich mit strategisch wichtigen Fragen auseinanderzusetzen, weil der Regierungsalltag keine Zeit für die Beschäftigung mit Zukunftsthemen lässt. Oder man überlegt, woran es wirklich hapert. Denn der Tod auf Raten der deutschen Sozialdemokratie ist ja kein Naturgesetz, sondern hausgemacht.

Demokratie ohne starke Opposition taugt nichts

Ohne starke Oppositionspartei, die jederzeit die Regierung übernehmen könnte, taugt Demokratie wenig. Das Parlament ähnelt dann einem kakophonen Hornissennest, in dem die Vertreter der kleinen Fraktionen lautstark ihre Partikularinteressen als das große Ganze anpreisen. Groko ist eigentlich bloß die letzte Möglichkeit, wenn alle anderen Alternativen versagen. Als Normalzustand führt sie bei den Bürgern unweigerlich zu Verdruss. Und wir erleben nun bereits die dritte Neuauflage dieses Modells binnen zwölf Jahren. Natürlich auch aufgrund der Weigerung der FDP, Verantwortung übernehmen zu wollen. Die Genossen haben sich monatelang echt schwer damit getan, erneut mit der Union ins Bett zu steigen. Das muss der Ehrlichkeit halber schon hinzugefügt werden.

Was fehlt, um von Partei wieder zur Volkspartei mit realistischer Kanzlerambition aufzusteigen, ist ein die Massen mobilisierendes Thema. Sachen wie beste Schulen, gute Pflege, gerechte Steuern und „keine Zweiklassen Medizin!“ sind zwar nett anzuhören, verleiten allerdings keinen unentschlossenen Wähler dazu, sein Kreuz bei der SPD zu setzen.

Agenda 2010 gehört dringend auf den Prüfstand

Man muss kein promovierter Wahlforscher sein, um zu erkennen, dass das Volk seit Jahren stark unzufrieden ist mit dem Hartz 4-Regelwerk. Den Stein ins Rollen brachte die im Jahr 2003 verkündete Agenda 2010. Dieses als unbedingt notwendige Flexibilisierung des verkrusteten Arbeitsmarkts angepriesene Maßnahmenpaket sieht unter anderem vor, den Kündigungsschutz zu lockern, die betrieblichen Lohnnebenkosten zu senken, den Bezug von ALG 1 auf zwölf Monate zu begrenzen, ALG 2 in Höhe des Sozialhilfesatzes zu gewähren, die Zumutbarkeitsregeln zu verschärfen und die Zeitarbeit zu fördern.

Aktuell befinden sich rund vier Millionen erwerbsfähige Personen im ALG2-Bezug. Rechnet man deren Kinder hinzu, sind über sechs Millionen Menschen – oft dauerhaft – von Hartz 4 abhängig. Netter, kleiner Nebeneffekt für die Regierung: ein nicht unerheblicher Teil der in den Jobcentern geführten Arbeitssuchenden fällt aus der offiziellen Statistik raus, weshalb die monatlichen Arbeitslosenzahlen stets geschönt daherkommen.

Kein Wort zu Hartz 4 im Koalitionsvertrag

ALG 2 ist deshalb – neben Migration und Altersarmut – DAS große Thema, das die Deutschen bewegt. Müsste eigentlich ein gefundenes Fressen für eine sich links nennende Volkspartei sein. Ich schlage das SPD-Programm zur BTW 2017, das mit Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit überschrieben war, auf und entdecke im Kapitel Moderne Ausbildung und sichere Arbeit folgenden winzigen Abschnitt:

Ein großer Teil der Arbeitslosen befindet sich derzeit nicht mehr im System der Arbeitslosenversicherung, sondern in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Wir werden die Arbeitslosenversicherung wieder stärken.

Man muss das genau lesen. Arbeitslosenversicherung bedeutet: ALG 1. Zu ALG 2 steht im Programm nichts drin. So wundert es nicht, dass auch im aktuellen Koalitionsvertrag das Thema Hartz 4 komplett ausgespart wird.

Was, das ist tatsächlich alles, mehr kommt nicht aus Genossensicht? Eine Verewigung dieses Trauerspiels soll der Weisheit letzter Schluss sein? Warum? Als Erklärung bieten sich zwei Gründe an: (1) man hält diese Praxis tatsächlich für die wirkungsvollste (2) die SPD hat das System erfunden und will partout nicht zugeben, dass sie ein bürokratisches Monster schuf.

ALG 2 schafft ein Dauerprekariat

Was soll gut daran sein, dass vier Millionen Menschen sich im Abstand von sechs bis acht Wochen mit einer Sachbearbeiterin darüber streiten müssen, ob ihnen der Regelsatz in Höhe von 416 Euro tatsächlich zusteht? Ob das von ihnen seit Jahren bewohnte Appartement eventuell drei Quadratmeter zu groß ist, sie ihre Lebensversicherung oder ihr Auto verkaufen müssen? Sie von Sanktionen bedroht werden, wenn sie ein mieses Jobangebot bei einem Pizzaservice nicht annehmen möchten oder mal einen Termin verpennen? Sie sich kleinste Zusatzverdienste von der Grundsicherung abziehen lassen müssen? Das Jobcenter sie zu ausbeuterischen Zeitarbeitsfirmen schickt? Die Vermittlung in stumpfsinnige Call-Center-Tätigkeiten als Erfolg angesehen wird? Man unterm Strich mit Hartz 4 ein Dauerprekariat bar jeder Perspektive schafft? Ist es für eine linke Partei hinnehmbar, dass mittlerweile die Tafeln die Versorgung eines Teils der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln sicherstellen müssen?

Steckt dahinter der Grundsatz: besser eine Scheißarbeit als gar keine Arbeit? Oder ist es was Pseudoreligiöses: Gott ist mit den Fleißigen, auch wenn die mit ihrer Arbeit nicht mehr als einen Hungerlohn verdienen?

Grundeinkommen als menschenwürdige Alternative

Weshalb zögert die SPD, das Thema Hartz 4 grundsätzlich und radikal anzugehen und begnügt sich stattdessen mit Placebos wie der alljährlichen Erhöhung des Regelsatzes um ein paar mickrige Euro? Weil es keine Alternativen zu diesem entwürdigenden System gibt? Dann sollten sich die Genossen in Finnland, Kanada, Brasilien oder Indien umschauen und dort die verschiedenen Modelle des Grundeinkommens erklären lassen. Über dessen Höhe und die Bedingungen, an die der Bezug geknüpft wird, mag man streiten; aber dass ein monatlicher, sanktionsfreier Grundbetrag menschenfreundlicher daherkommt als das für alle Beteiligten hochgradig nervige Hartz 4-Procedere scheint mir unstrittig zu sein. Und dass ein schlank dimensioniertes Grundeinkommen den Erwerbstrieb mindert, halte ich persönlich für ein Märchen.

Deutschland als eine der reichsten Volkswirtschaften auf dem Globus leistet sich seit Jahren ein überflüssiges Armutsproblem, Die chronische Geldknappheit wird von den Eltern auf die Kinder vererbt, hat sich in manchen Stadtteilen bereits zu einem flächendeckenden Krebsgeschwür entwickelt. Mit einem „Weiter so“ mit ALG 2 wird man das Dilemma nicht in den Griff bekommen. Die Jobcenter taugen allenfalls als Geldverteilmaschinen, sind aber mit ihrer primären Aufgabe, nämlich der schnellen Weitervermittlung der Arbeitssuchenden in den ersten Arbeitsmarkt, völlig überfordert. Die JCs sind nichts anderes als Sozialämter, die ihren sogenannten Kunden ständig mit Sanktionen drohen. Das kann auf Dauer kein Lösungsweg sein.

Die SPD wäre deshalb gut beraten, sich vom Dämon Hartz 4 zu befreien und so verlorengegangene Wähler zurückzugewinnen. ALG 2 abschaffen und durch ein BGE ersetzen wäre ein plakatives Distinktionsmerkmal zur Union, das die beiden Parteien für den Bürger wieder unterscheidbar macht. Bei uns im Bonner Süden zitieren wir, wenn eine Sache sich als untauglich erweist, von der wir vorher jedoch lange angenommen hatten, dass sie hätte funktionieren können, gerne den Spruch des Alten aus Rhöndorf: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern?“ Und probieren im Anschluss was Neues aus. Willy Brandt, der ein paar Kilometer weiter stromaufwärts in Unkel lebte, drückte es so aus: „Die Zukunft wird nicht gemeistert von denen, die am Vergangenen kleben“.

Ich –  als Nicht-Genosse – wünsche der SPD den Mut, alte Zöpfe abzuschneiden und sich wieder vom Erdgeschoss in den zweiten Stock hochzuarbeiten, von wo aus sie das Kanzleramt ins Visier nehmen kann.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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