Glamour & Schlichtheit – Eine Kolumne für Gary Numan

Gary Numan ist einer der letzten Popstar-Titanen ganz alter Schule. Gleichzeitig ist er seit 40 Jahren musikalisch stets auf der Höhe der Zeit; mitunter sogar einen Schritt voraus. Nun bringt er sein neues Album „Savage – Songs From A Broken World“ heraus. Grund genug für Ulf Kubanke, in seiner Hörmal-Kolumne einen Blick auf Karriere und Mensch zu werfen.


„I’m a ghost in the dark – and I’m yours
Like a song you forget – and I’m yours.
Like a dream in the night – and I’m yours.“

(Gary Numan, „The Seed Of A Lie“)

„Mein Name ist Niemand. Und Niemand ruft euch!“ Gary Numan ist alles andere als ein „Niemand“. Er ist einer der letzten echten Popstars aus der goldenen Ära des Showbiz. Stets umhüllt ihn ein Schleier des Geheimnisvollen, des kaum Greifbaren, des Unirdischen. Im Gegensatz zu anderen Weltstars ergibt sich dies bei ihm nicht aus Skandalen oder medienwirksamem Rock’n’Roll-Lifestyle. Seine unbedingte Aura des Mysteriösen entsteht aus dem Gegensatz knochentrockener Direktheit bei gleichzeitiger nahezu außerirdischer Entrücktheit. Glamour in Schlichtheit, Kajal auf Cyborg! Alles audiophil transportiert über die verschiedenen Facetten einer aus Millionen heraushörbaren Gesangsstimme.

I Das neue Album: Ein großer Wurf!

So ist das obige Zitat aus der Leadsingle „My Name Is Ruin“ zur aktuellen Platte kein Selbstportrait. Im Gegenteil: Auf „Savage“ schlüpft der bekennende Atheist einmal mehr in die Rolle eines aus seiner Sicht nicht existenten Gottes. Eine austauschbare Gottesfigur deren immense Kraft sich gemäß Numan einzig aus dem eingebildeten Irrglauben jeweiliger Anhänger ergibt. Entsprungen einer Phantasie, die schlussendlich reale Gestalt in Fanatismus, klerikalem Faschismus, Inquisition und Glaubenskriegen annimmt. Damit watscht er – von Torquemada bis Al-Quaida/IS/Iran – all jene ab, die Religion von konstruktiver Philosophie in ein klerikalfaschistisches, destruktives und totalitäres Instrument der Unterdrückung und Kontrolle umwandeln.

Als Vehikel nutzt er auf „Savage“ eine Story, die nebenbei auch allen Leugnern des Klimawandels eine schallende Ohrfeige verabreicht. Kein Schelm, wer hier an Irma, Harvey oder Trumps Politik denken muss, nicht wahr? Die Welt auf seinem 21. Studioalbum ist ein postapokalyptisches Haus des Horrors. Durch Klimaschädigung bedingte Naturkatastrophen verwandelten den nicht mehr ganz so blauen Planeten längst in ein Reich der Ödnis. Jenseits von Eden und aller Zivilisation regiert nur noch das Gesetz des Stärkeren im konstanten Überlebenskampf. Inmitten dieser dystopischen Anarchie taucht auf einmal das Relikt eines nicht näher bezeichneten, ehemals „Heiligen Buches“ aus der Vergangenheit – mithin unserer Gegenwart – auf. Numan sarkastisch: „Und von diesem Moment an geht alles erst so richtig den Bach runter.“

Im Talk für Laut.de fragte ich Gary Numan, ob die Welt momentan wieder auf dem Rückzug gen Aberglaube und Mittelalter sei.
Numans dazu very british: „Ich bin mir nicht sicher, ob wir da jemals herausgekommen sind.“

Weiterhin: „Je mehr von der einen Sorte versuchen, jene von der anderen Sorte zu ermorden oder zu unterdrücken, desto mehr untergraben sie doch die ganze Idee des Gottesbegriffs. Das ist für mich wirklich lächerliches Verhalten. Aber im Grunde ist die Gegenwart nur die Kontinuität einer Verhaltensweise, die seit hunderten oder sogar tausenden von Jahren von der Menschheit praktiziert wird. Es scheint immer darauf hinaus zu laufen, jenen fertig zu machen, der an eine andere Art von Gott glaubt.“

II Der große Innovator – Numans schillernder Katalog

Wer ihn heute anschaut, mag kaum glauben, hier einem knapp 60jährigen Mann gegenüberzustehen.Wer ein Bild des Londoners anno 1978 betrachtet, erblickt keinen 20jährigen Jüngling. Die Alterslosigkeit seiner Erscheinung findet sich im künstlerischen Werk eins zu eins wieder. Den Traum des Entwickelns und stetigen Weiterentwickelns elektronischer Musik hat er sich eindrucksvoll erfüllt. Ein Stehenbleiben wäre nicht entfernt denkbar. Die folgenden Absätze helfen dabei, sich in Numans auch quantitativ erstaunlichem Katalog zurecht zu finden.

a) Die Maschinen-Phase
Die ersten vier Alben des Engländers, erschienen zwischen 1978 und 1980, definieren New Wave und elektronische Popmusik entscheidend mit. Gern bezeichnet man diese Jahre als seine „Maschinen-Phase“. Das kommt nicht von ungefähr. Obwohl spätestens auf der Abschlussscheibe „Telekon“ erste Gitarren auftauchen, entwickelt er hier eine nahezu klinisch-sterile Atmosphäre. Besonders die beiden Welthits „Are Friends Electric?“ („Replicas“ 1979) und „Cars“ („The Pleasure Principle“ 1979) mausern sich über Jahrzehnte hinweg zu unzerstörbaren Klassikern. Auch textlich hat der frühe Numan schon einiges zu bieten. Vom passenden Scifi-Thema bis hin zu William S. Burroughs zeigt er eine erstaunliche thematische Bandbreite.

b) Die organische Phase
Während etliche Kollegen des New Wave sich fortan damit begnügen, die elektrische Kuh zu melken und besonders durch kommerzielle Verwässerung des neuen Genres auffallen, wandelt Numan auch im zweiten Kapitel auf dem Pfad der Kreativität. Eine bedeutende Schlüsselposition nimmt dabei seine 1981er LP „Dance“ ein. Als erster überhaupt mischt er dem Stil einen organischen Schuß Nightjazz bei. Besonders der Fretless-Bass und das Saxofon – gespielt von Japans Mick Karn – geben hier einen kongenialen Sidekick ab. Auf dem nicht minder grandiosen „Berserker“ läutet er drei Jahre später die Geburt des Elektro-Rock/Industrial-Rock ein, indem er elektronische Popmusik mit fetten Hardrock-Gitarren verbindet.
Mein Anspieltipp „Slowcar To China“ ist ein gekonnt gen Minimalismus heruntergefahrenes Nachtstück von „Dance“. Das Lied selbst ist ein Drama um Prostitution, Kälte, Stolz und unerwiderte Suche nach Liebe.

c) Die verlorene Phase
Ab Mitte der 80er verlor Numan sich – u.A. auch aufgrund depressiver Schübe – zunehmend in Routine. Die Alben machten zwar noch immer Spaß und sind rückschauend betrachtet gut hörbar. Für seine Verhältnisse jedoch war es höchstens Routine, die das letzte große Album, „Berserker“ stilistisch wiederholte, ohne dessen Qualität in Gänze zu erreichen.

d) Neuerfindung in den 90ern:
Das ändert sich erst, als Numan ausgerechnet die Nine Inch Nails für sich entdeckt. Trent Reznors kompromisslose Frische inspiriert den Engländer und löst alle Schreibblockaden. Ein Wunder ist das nicht. In gewisser Weise orientiert Numan sich hier nämlich an der Fortentwicklung des eigenen Schaffens. Reznor nennt Numan – neben Bowie, Bauhaus und den Virgin Prunes – als maßgeblichen Haupteinfluss. Die oben genannte Scheibe „Telekon“ war ihm eine Intitialzündung für die eigene Vision. Nachdem also Numan unwissentlich als Taufpate der Nails fungierte, wird nunmehr Reznor zur Muse für den totalen Neustart. Ganz besonders die lose zusammengehörende Albentrilogie „Exile“, „Pure“ und „Jagged“ erschließen ihm eine komplette neue, junge Fangeneration.

e) Das anmutige Spätwerk
Ab 2011 beginnt die nächste Häutung des gebürtigen Gary Anthony James Webb. Numan wohnt mittlerweile längst in Los Angeles und studiert dort im eigenen Studio gewissenhaft strukturelle Merkmale von Filmscores. Die erworbenen Kenntnisse eignet er sich sogleich an und baut sie akribisch in eigene Stücke ein. Die ersten deutlichen Veränderungen zeigen sich bereits auf „Dead Son Rising“. Neben hochmelodischen, knallbunten Uptempo-Killern wie „The Fall“ finden sich immer häufiger Tracks mit elegischem Grundton. Die fundamentale Entwicklung setzt sich auf den brillanten Platten „Splinter“ (2013) und „Savage“ (2017) fort. Sie erscheint noch längst nicht abgeschlossen.
Als Anspieltipp hier der Tanzflächenfeger „The Fall“.

f) Numan als Meister der Ballade
Entgegen seines Images als musikalischer Eiswürfel offenbart Numan sich – besonders seitdem er glücklich verheiratet und Familienvater ist – als Meister der romantischen Ballade. Ganz besonders zwei Songs veranschaulichen diese nahezu hypnotische Qualität deutlich: Zum einen das wundervolle „The Seed Of A Lie“ vom sträflich unterschätzten 1994er Album „Sacrifice“.

Desweiteren das taufrische „And It All Began With You“ von „Savage“.

III Der Mensch Gary Numan

Die gesamte künstlerische Leistung inklusive herausragender Live-Shows vor zigtausend Menschen erstrahlt in einem noch helleren Licht, so man sich folgendes vor Augen hält: Gary Numan leidet zeitlebens unter dem Asperger-Syndrom, einer Variante des Autismus.
Für ein Laut.de-Interview nahm ich allen Mut zusammen und fragte ihn direkt nach diesem sehr persönlichen Thema. Zum Glück reagierte Gary äußerst offen, fast freudig über die Gelegenheit, dies einmal Nichtbetroffenen erklären zu können.
Numan: „Es wird niemals weggehen, es ist immer da. Aber je älter ich werde, desto besser verstehe und erkenne ich, warum ich bestimmte Sachen mache oder denke. Ich modifiziere mich dadurch. Das ist möglich. Dadurch kann ich integrierter leben, mich entsprechend verhalten und besser mit Menschen interagieren und kommunizieren als früher.
Auf der artifiziellen Ebene muss man erkennen, was man macht. Ganz nüchtern und abstrakt. Da erkenne ich, das mein Verhalten anders ist, und wie das eine aus der konkreten Sicht dritter Personen akzeptabel ist und das andere nicht. So lerne ich, wie ich mich akzeptabler verhalten muss, um verstanden zu werden. Aber das ist nicht natürlich. Das beruht alles auf rein erlerntem Verhalten.

Du zum Beispiel musst bestimmt nicht ständig über dein Verhalten analytisch nachdenken und es in Bezug auf die Reaktion deiner Umwelt antizipieren. Ich muss das andauernd. Da denke ich dann: Ok, wenn ich jetzt das und das mache, ecke ich an, und das Verhalten wäre nicht akzeptabel. Aber warum das für euch alle nicht akzeptabel wäre, ist mir nicht klar, weil ich anders fühle.“

Link zum Interview:
http://www.laut.de/Gary-Numan/Interviews/Ich-traue-mich-nicht,-im-Auto-zu-singen-08-01-2014-1106

 

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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