Rausch, der schon die Nacht verklagt

„Alles kann, nichts muss“ ist das Prinzip des Swingerclubs. Aber was passiert dort wirklich?


Irgendwann gegen Mitternacht legt der Mann am Mischpult die CD mit dem alten City-Hit „Am Fenster“ ein, die lange Version, mehr als eine Viertelstunde Geigensolo und Toni Krahls Stimme.

Einmal wissen dieses bleibt für immer
ist nicht Rausch der schon die Nacht verklagt
ist nicht Farbenschmelz noch Kerzenschimmer
von dem Grau des Morgen längst verjagt.

Die Paare auf der Tanzfläche sind schwarz, spärlich oder gar nicht bekleidet. Die jüngsten von ihnen wurden vielleicht zehn Jahre nach dem großen Erfolg des Liedes geboren, die ältesten sind mit dem Lied und mit der Sehnsucht, von der der Text von Hildegard Rauchfuß spricht, aufgewachsen.

Der Ort ist ein Swingerclub. Freitags und samstags, immer zwischen acht und neun Uhr abends, füllen sich die Plätze an der Bar. Um diese Uhrzeit könnte man das Lokal auf den ersten Blick für eine normale Diskothek halten. Menschen unterschiedlichen Alters mit Cola-, Sekt- und Weingläsern in den Händen, auf der kleinen Tanzfläche wiegen sich ein paar Frauen, in den Sitzecken unterhält man sich in kleinen Gruppen oder zu zweit.

Mit der Kleidung wechseln sie die Welt

Aber niemand kommt direkt vom Eingang an die Bar. Man passiert zuerst den Umkleide-Bereich. Hier wechselt jeder seine Kleidung und dabei seine Rolle und seine Welt. Draußen sind sie Beamte, Handwerker oder Angestellte, Eltern, Fußballfans oder Kakteensammler, hier drinnen werden sie zu erotischen Liebhabern und Verführern. Das jedenfalls ist ihre Absicht, wenn sie Jeans und T-Shirt gegen schwarzen Lack und knappen Wett-Look wechseln und hoffen, damit auch ihre Alltags-Identität gegen die der schwülen Nacht eintauschen zu können.

Dass sie jedoch bleiben, wie sie sind, verrät schon ein genauerer Blick auf das Outfit: Während die Frauen das erotische Spiel des Zeigens und Verbergens zum großen Teil auch hier perfekt beherrschen, erscheint mehr als die Hälfte der Männer wenig überraschend in schwarzem Shirt, mehr oder weniger knapp sitzender Hose und – Badelatschen. Allerdings ist eben auch das Angebot an verführerischer Bekleidung für Herren in den Fachgeschäften eher gering, während den Damen eine riesige Auswahl zur Verfügung steht. Erotisch wirkendes Schuhwerk für den Herrn gibt es faktisch nicht, während die Dame in jedem Schuhgeschäft aus einem Überfluss von High Heels und Lackstiefeln wählen kann – vom Angebot in den Spezial-Boutiquen ganz zu schweigen.

Nicht nur deshalb ist jeder Swingerclub ein Ort der Frauen. Wer emanzipierte, selbstbestimmte Frauen erleben will, der sollte einmal hier her kommen. „Ich genieße die Blicke und die Berührungen, wenn ich tanze. Dann weiß ich, dass ich schön bin.“ sagt eine Frau mit tiefschwarzen Haaren. Sie ist wohl um die vierzig Jahre alt. Irgendwann wird sie zu der verchromten Stange gehen, die am Rand der Tanzfläche vom Boden bis zur Decke reicht, sich hinaufziehen, ihre Beine darum schlingen und sich fallenlassen. Ihr Kleid wird ihr dann von den Beinen gleiten und man wird sehen, dass sie darunter nackt ist. Sie weiß, wie viele Männer dann zu ihr hinüber sehen, und das liebt sie. Sie hat keine „Traumfigur“ – aber die hat hier niemand, aber warum auch von einem Ideal träumen, wenn die Wirklichkeit gerade traumhaft ist.

Die meisten kommen hier her, um etwas Besonderes zu erleben, Verführer zu sein und verführt zu werden, etwas Unerhörtes zu tun oder ein orgiastisches Fest zu feiern.

Einmal fassen tief im Blute fühlen
dies ist mein und es ist nur durch Dich
nicht die Stirne mehr am Fenster kühlen
dran ein Nebel schwer vorüber strich.

Auch wenn sie keinen Grund haben, ihrem Alltag zu entfliehen, wissen sie doch, dass der Alltag nicht alles ist. Ein Paar, um die 50, sitzt an der Bar: „Wir sind hier wegen uns selbst. Du kannst hier einfach alles machen, worauf du Lust hast. Meistens bleiben wir zu zweit.“ sagt er. Sie fügt hinzu: „Hier haben wir einfach mehr Möglichkeiten als in unserem Schlafzimmer. Und ich brauche nicht darüber nachzudenken, ob uns irgendwer hören kann.“

„Meistens passiert nichts“

„Alles kann, nichts muss!“ steht als Grundsatz auf den Webseiten der Swingerclubs. Ein Paar, beide um die Dreißig,  steht am Tresen, er, mit einem Bierglas in der Hand, sagt: „Wir kommen alle paar Wochen hier her, unterhalten uns mit denen die wir schon seit Jahren kennen und warten darauf, dass was passiert. Meistens passiert nichts.“ Was nützt es, wenn man zu allem bereit ist, wenn man nicht weiß, wie man diese Spannung erzeugt, die zum Knistern und schließlich zum Funkenflug führt?

Nirgends ist der Mensch so auf sich gestellt wie unter den Bedingungen völliger Freiheit von den Vorgaben darüber, wie „man“ sich verhält. Ein Swingerclub ist für niemanden Alltag, auch nicht für die, die jede Woche hier sind, denn sie treffen auf Menschen, die zum ersten Mal hierher kommen, und deren Reaktionen und Verhalten sie nicht vorhersehen können. „Was geht und was nicht, kannst du niemals genau wissen“ sagt eine kleine Frau, während sie sich von einem Kerl streicheln lässt, den sie zwei Stunden zuvor noch nicht kannte. Sie geht mit ihrem Mann zusammen alle paar Wochen in einen Club, möglichst nur einmal im Jahr in den gleichen. Dafür nimmt sie lange Wege in Kauf, hin und wieder dauert die Rückfahrt mehr als zwei Stunden. Aber sie will am Sonntagmorgen zu Hause sein, wenn die Kinder aufwachen.

„Manchmal spürst du, dass alles ganz einfach und selbstverständlich ist, das ist aber ein Glücksfall.“ Die meisten hier gehen gelassen mit Überraschungen jeder Art um. Trotzdem bleibt es für die Paare ein Grenzgang, wenn sie in die „Spielräume“ des Clubs wechseln.

Klagt ein Vogel ach auch mein Gefieder
nässt der Regen flieg ich durch die Welt.

Auch wenn hier niemand etwas mit sich machen lässt, was er oder sie selbst nicht will, können die Erfahrungen, die die Menschen hier machen, auch verstörend und schmerzlich wirken. Ein großer Mann mit graumelierten Haaren erzählt: „Wenn du irgendwann im Laufe des Abends erlebst, dass deine Frau sich auch mal gern von anderen Typen verwöhnen lässt, dann kann dich das schon schockieren. Dann entdeckst du nicht nur völlig neue Seiten an ihr, sondern vor allem auch an dir selbst.“ Die beiden haben auf der Rückfahrt nach ihrem ersten Besuch in einem Swingerclub ziemlich lange geschwiegen, das wissen sie heute, nach Jahren noch. Er gibt zu dass er eifersüchtig war, auch wenn er „selbst es natürlich schön fand, andere Frauen anzufassen“. „Heute reden wir darüber, aber nicht viel. Man muss nicht alles zerreden, wenn man sich liebt.“

Niemand muss alles wissen

Erzählen sie ihren Kindern, wohin sie fahren und was hier passiert? „Nein, auf keinen Fall, obwohl die quasi schon erwachsen sind. Aber das müssen sie nicht wissen, sie müssen nicht alles von ihren Eltern wissen.“

Die Frage, ob sie glauben, dass ihre Eltern je in einem Swingerclub waren, beantworten die meisten hier mit einem klaren Nein. Einer sinniert allerdings: „Wahrscheinlich würden meine Kinder diese Frage ebenso spontan mit Nein beantworten. Worüber man nie redet, das kann sich natürlich auch keiner vorstellen. Aber was weiß man schon wirklich über den Alltag der Anderen, der Freunde, der Eltern? Du redest über den Beruf, über die Schule, vielleicht übers Kochen oder den Garten.“

Irgendwann gegen zwei Uhr morgens verschwinden die ersten Paare wieder in Richtung der Schließfächer, wo sie ihre Alltagssachen und ihre Alltagsrollen hinterlassen hatten. Von dem, was sie hier getan haben, weiß da draußen niemand etwas, dort sind sie wieder Sachbearbeiter, Monteure und Lehrer. Aber so, wie sie ihre Alltagsrollen im Club nicht völlig ablegen konnten, so ist es auch nicht vorstellbar, dass sie von dem, was sie in diesen Nächten sind, nichts mit in ihren Alltag nehmen.

Lara Sonnabend

Von Mark Twain stammt das Wort, dass jeder Mensch wie ein Mond sei. Jeder von uns hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt. Twain spielt damit auf die Rückseite des Mondes an, die wir von der Erde aus nie sehen können. Aber inzwischen können Satelliten den Mond umfliegen. Lara Sonnabend zeigt in ihrer Kolumne schöne Bilder von der Rückseite der Menschen.

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