Höflichkeit – Regeln mit Haltung Teil 3/3
Dieses ist der dritte Teil meiner Serie über die Höflichkeit. Im ersten Teil habe ich über die kulturell bestimmte und im zweiten über die dunkle Seite der Höflichkeit nachgedacht. Höchste Zeit, dazu zu kommen, welches die Seite ist, die womöglich eine universellere „Sprache“ spricht und auch einem lohnenderen Ziel folgt, als nur dem von Erfolg bei Hofe/in der Gesellschaft. Eine Kolumne von Chris Kaiser

Ich erwähnte schon den französischen Film „Ridicule“, in dem der Protagonist mit einer beißenden Gewitztheit und treffenden Bonmots am Hofe zu reüssieren hoffte. „Ridicule“ – und da ist der Titel ein Hinweis darauf – könnte man als Film darüber sehen, was die dunkle Seite (nicht der Höflichkeit, aber dann doch) des Humors ist – mit fatalem Ausgang für Beteiligte (andere Hofgänger in Versailles) und Unbeteiligte (die vom Sumpf geplagten Untergebenen des Protagonisten). Während ganz am Schluss der ENGLISCHE „humour“ die Pointe liefert, und der sich leiser, humaner, inkludierend zeigt, also als heilend erweist.
Folgen wir doch diesem Gedanken, und schauen, ob er uns ein Stück weit für unsere Zwecke hier zur Höflichkeit geleiten kann.
Das Ende von „Ridicule“ spielt kurz nach der französischen Revolution, bei der die bedrohte Adeligkeit in Scharen nach England floh. Am Ufer des Ärmelkanals trifft eine vorher im Film als ehrenhafte, aber für die Raffinesse des französischen Hofes viel zu plumpe Person eingeführte wichtige Nebenfigur auf ihren Retter, einen englischen Adligen. Dieser unterscheidet sich von den Hofschranzen bei Louis XVI auch äußerlich, hat er doch weniger farbenfrohe Kleidung an, und seine fast hölzerne Haltung würde in Versailles schnell zum Aussortieren führen. Seine humorvolle Bemerkung jedoch gefällt dem französischen Adligen doch sehr viel besser als alles, was er zuhause erlebt hatte, und er kann zum ersten Mal befreiend mitlachen.
Höflichkeit: Vorteile vs. beidseitige Behaglichkeit
Was, wenn „Höflichkeit“ auch mit diesem Ziel eingesetzt würde? Nicht, um sich einen Vorteil zu verschaffen, damit andere herunterfallen auf der Hierarchieleiter, damit man selber ihren Platz einnehmen kann, sondern damit es alle gleichermaßen ein bisschen von der Hierarchie befreit und zu mehr Behaglichkeit führt?
Höflichkeit sahen wir als das Wissen um und das elegante Einhalten von Regeln der Gesellschaft, in der die Hierarchie (bei Hofe und woanders) irgendwie respektiert wurde und dennoch miteinander verhandelt werden konnte. Ein Hof, in dem nur der oberste Chef, also der König, spricht und alle anderen nur gehorchen, ein solcher Hof also, braucht keine komplizierten Regeln und auch keine Eleganz, nur Unterwürfigkeit aller anderen. Wenn jedoch die Hierarchie durch den Umgang miteinander ein bisschen nachgeben kann, und sich ein kompliziertes Geflecht von Oben und Unten ergibt, bei dem sich der eine die Gunst dieses Herrn, der andere die Gunst von jenem erwerben kann und heute so und morgen anders – dann wird man deswegen geschmeidiger. Schließlich weiß ich heute nicht, wer morgen bedeutsamer ist und wer womöglich ganz vom Hofe geht. Da wird man sich es lieber nicht mit allen anderen verscherzen wollen und bleibt deswegen – nunja – höflich.
Wenn man in diesen Dimensionen des momentanen und künftigen Vorteils denkt, dann nimmt es nicht wunder, dass bei stabilen Kasten und traditionell ständischen Ordnungen sich einige Privilegierte gegenüber weiter unten in der Hierarchie Angesiedelten völlig ungehemmt fühlen und sich herrisch, herablassend, demütigend, eben – unhöflich benehmen. Denn das Beibehalten des respektvollen Umgangs wird nicht mit materiellen Vorteilen oder mit einer Aussicht auf künftige Privilegien belohnt. Denn der Untere bleibt in diesem festen System unten und der Obere ihm überlegen.
China und Deutschland
Und wir merken – Höflichkeit hat mit Respekt und ein bisschen mit Sich-selbst-Zurücknehmen im Umgang mit anderen zu tun. Aggressivität ist selbst bei einem Szenario wie gerade beschrieben das, was man gegenüber Schwächeren aus Schlechtigkeit ausübt, und wird sicher nicht mit Höflichkeit verbunden. Gibt es auch andere, bessere und schönere Gründe mal unhöflich zu sein? Ist es noch Höflichkeit, wenn wir bestimmte Gesten des Respekts gegenüber anderen deswegen fallenlassen, weil wir mit ihnen vertraulich umgehen? Wie meine Cousine vom Land, die ihre Großmutter siezte, während ich das eben mit meiner nicht tat. War ich unhöflicher zu meiner Oma, als Cousine zu ihrer „Groiß“ (Kosename für die Großmütter auf Siebenbürgisch-Sächsisch)?
Das Chinesische kann bei dieser Überlegung etwas aushelfen. Das, was wir im Deutschen nach einem „Danke“ sagen (das „gerne“ oder „bitte“), ist im Chinesischen 不客气 „Bu-Ke-Tschi“, was wörtlich bedeutet: Keine Höflichkeit; in dem Kontext eher: „Dafür müssen Sie nicht höflich sein“, bezogen auf die Danksagung. Ebenso gibt es in der chinesischen Kultur die Vorstellung, dass Leute, die sich gegenseitig ständig Danke sagen, wohl nicht besonders nahestehen. Eheleute, enge Familienmitglieder – wenn die sich gegenseitig den Dank ausdrückten, dann würden Außenstehende das als eine etwas kalte Beziehung zueinander interpretieren. Ebenso wenn man jemandem etwas anbietet, dann antwortet man womöglich auch mit diesem „Bu-Ke-Tschi“, und meint damit – dann lassen wir das Förmliche jetzt weg und ich bediene mich einfach. Also ist Intimität im positiven Sinne davon gekennzeichnet, dass Höflichkeit oder Förmlichkeit nicht notwendig ist.
Für uns Deutsche ist das etwas merkwürdig, da „bitte“ und „danke“ sehr wohl auch in intimen und familiären Beziehungen verwendet werden. Und man empfindet auch nicht beim Angebotenbekommen von Gebäck oder Ähnlichem eine Art von Änderung des Zustandes im Umgang miteinander, eine Art überwundene Hürde, die einem erst erlaubt, jetzt ungehemmt von sozialen Normen zuzulangen. Aber ich konnte mir bei der gesiezten Großmutter meiner Cousine auch nicht vorstellen, dass sie mit ihrer so kuschelt wie ich mit meiner.
Gerüstet sein
Somit kann man – abgesehen von durch die Kultur unterschiedlich ausgeprägten und sprachlich verstärkten Formalitäten doch eine Art von universeller Gleichung aufstellen: Höflichkeit und Intimität schließen sich ein bisschen aus, je nach Person tritt das eine oder das andere an dieselbe Stelle in unserem Empfinden. Wir BRAUCHEN die Höflichkeit nicht, wenn wir jemanden schon sehr nahe an uns rangelassen haben, ihm dadurch Vertrauen gezeigt haben. Höflichkeit sieht auf einmal wie ein vorläufiger Gerüstbau aus, der bei Vertrautheit oder Intimität mit konsistenterer Liebe und Vertrauen gefüllt wird. Und dann kann man das Gerüst wieder abbauen, denn es ist durchetwas Tragbareres ersetzt worden.
Um im Bild des Gerüsts zu bleiben: Höflichkeit erzeugt einen geschützten leeren Raum zwischen den Personen, in einer intimen Beziehung jedoch möchte man diesen eben nicht. So wie sich Europäer die Hand reichen, dabei den anderen quasi auf Armlänge halten, so brauchen Asiaten beim Verbeugen Abstand. Während der Inuit mit seinem Schnüffelkuss damit Vertrauen zeigt. Wie auch der Handschlag mit der rechten Hand beim Europäer immerhin sagt: Siehst du, du kannst mir vertrauen, ich habe keine Waffe in meinem Waffenarm.
Raum für keimende Liebe
Also ist Höflichkeit nicht nur Distanz, sondern auch eine Art Vorstufe zur Intimität, eine erste Näherung? Ich kann ja zu jemandem nur höflich sein, mit dem ich überhaupt eine Interaktion aufnehme. Es ist noch nicht intim, aber es ist auch nicht mehr in unüberbrückbarer Ferne. Und wenn wir darüber nachdenken, fällt uns auf – Höflichkeit beruht immer auf Gegenseitigkeit. Wenn ein Sklave den Herrn grüßt und dieser aber ihn wie Luft behandelt, dann ist das vorgeschriebene Gebaren des Sklaven nicht das, was wir Höflichkeit nennen würden. Es ist schlicht Unterwerfung. Höflichkeit hingegen geht von einer gegenseitigen Reaktion aus. Sie kann hierarchisch bestimmt sein, aber sie kann nicht einseitig sein. Es gibt zwar unerwiderte Höflichkeit, aber sie erkaltet doch sehr schnell und wird – wenn sich der einseitig Höfliche nicht in einem unfreien Verhältnis zum anderen verhält, in den meisten Fällen sicher eingestellt oder zumindest nur noch Fassade ohne Gefühl dahinter.
Und damit ist meine Cousine wieder an Bord. Denn sie und ihre Großmutter haben definitiv eine Beziehung zueinander. Und Liebe ist möglich, such wenn sie immer ein bisschen Distanz behält. Wie Horst Buchholz und seine französische Frau, die sich zeitlebens gesiezt haben. Die offensichtlich körperliche Intimität in einer prickelnden Spannung zur Distanz der förmlichen Anrede schätzten.
Höflichkeit ist somit eine „erste Annäherung“ zwischen Menschen, die Platz machen kann, wenn Vertrautheit auftritt. Sie besteht aus einem Set von kulturell bestimmten Formalitäten, bei dem man genau diesen genauen Abstand des ersten Kennenlernens signalisiert. Man hält sich mit ihrer Hilfe unliebsame Personen, mit denen man dennoch Umgang haben muss, vom Leib und nähert sich vorsichtig anderen, mit denen man Umgang haben möchte. Es ist der formalisierte Tanz zu zweit, bei dem man sich in einem sozial kontrollierten Vorgang schon mal ein wenig betatschen kann, aber von wo ein Zurückziehen bei Nichtgefallen noch keinen Eklat erzeugt.
Ist man dann noch höflich?
Und das ist meiner Meinung nach, der essenzielle Aspekt, der bei „Ridicule“ die Pointe setzt: Dieser kontrollierte Umgang im Regelkonstrukt der Höflichkeit erlaubt beides: dass beide sich mögen oder eben nicht, und letztlich werden beide glimpflich, mit geringem Schaden am Selbstwert, herauskommen können, wenn sich beide an die Regeln halten und dabei auch das Wohlbefinden des anderen mit im Sinn haben. Wenn sich aber jemand der Höflichkeit bedient, um dem anderen keinen Ausweg zu erlauben, ihn sozial erpresst mit dem Erheischen der Höflichkeits-FORMEN, dann missbraucht er dieses soziale Konstrukt Höflichkeit nicht nur, sondern sollte auch so betrachtet werden, dass er die Höflichkeit selbst verrät. Jemand, der die soziale Norm des Abstands und der Nähe so liest, dass er dem anderen eine ungewünschte Nähe aufzwingt, wie kann man diesen noch „höflich“ bezeichnen? Wie kann die soziale Norm so etwas noch erlauben?
Ungefragt die Kellnerin am Po packen, da diese zum Kunden höflich sein muss; als Gast einfach nicht mehr weggehen, weil man genau weiß, dass die Etikette nicht erlaubt, direkt rausgeschmissen zu werden; den männlichen Geschäftspartner mit sexuell konnotierten Bemerkungen aus dem Konzept bringen – all das sind Beispiele, wie ein solcher Missbrauch der Höflichkeit des anderen aussehen kann. Es gab Zeiten (die hoffentlich der Vergangenheit angehören), in denen Kellnerinnen als unfreundlich und unhöflich angesehen wurden, wenn sie ungewünschte Nähe der Gäste abwehrten oder als ungeeignet für den Job, wenn sie sich beklagten. Gerade sehr höflich erzogene Menschen werden sich extrem schwertun, dem Gast direkt ins Gesicht zu sagen, dass er so spät am Abend jetzt unerwünscht ist. Und dass Frauen ihre Reize so einsetzen, dass etwas schlichte männliche Gemüter sich zur intimen Beziehung befördert und weniger schlichte sich unangenehm bedrängt fühlen, gehören hoffentlich zu einem mythischen Klischee.
Unhöflichkeit?
Wie wäre es aber, wenn man das nicht nur als „Missbrauch von Höflichkeit“ sieht, sondern als schlicht unhöflich? Wenn Höflichkeit sich nicht durch die äußerliche Fassade der sozialen Gesetzlichkeiten definiert, die zwangsläufig Schlupflöcher aufweisen, sondern eben durch die Bereitschaft der Teilnehmer der Interaktion, gemeinsam mit dem Gegenüber einen safe space aufzumachen. In welchem diese gelernten Formalitäten einem Zweck dienen, und nicht zum Selbstzweck degeneriert sind. Der eigentliche Zweck ist: Das Wohlbefinden im Kontakt für beide Parteien. In welchem berücksichtigt werden kann, dass ein Kontakt aufgezwungen ist. Etwa mit Fremden in einem Fahrstuhl festhängen. Bei Hofe, wenn man eine Petition vorbereitet hat, dass man einen Sumpf trocken legen kann („Ridicule“). Bei der Erbtante. Als kleines Mädchen am formalen Dinner teilnehmen.
Die ganzen Regeln zu kennen, wer wen zuerst grüßt; ob man die Hand gibt, oder dreimal Wangenküsschen oder sich verbeugt; ob man siezt oder duzt – sie sind in dieser Vorstellung auf einmal keine Stolpersteine und Fallstricke, die man sich gegenseitig stellt – nein, sie sind die passgenau vorgefertigten Gerüststangen für den safe space in der Vorform zur intimen Beziehung (oder auch für den geregelten Rückzug daraus). Die beiden Parteien denselben Grad der Sicherheit geben. In welchem etwa auch ein hierarchisch Übergeordneter weiß, wie er den anderen nicht einschüchtert. Und daran der von der Beziehung Abhängige sich nicht wie auf einem Vulkan tanzen sieht, sondern erkennt, dass man ihm diese Sicherheit des safe spaces geben will.
Höflichkeit braucht also die Haltung, die noch fragile Beziehung zu schützen, dass man sie auch zu einem tragfähigen Konstrukt ausbauen kann. Etikette hat nur soweit einen Sinn, dass sie sich schützend um die Beziehung legt, das Ritualisierte auch Schüchternen und sozial Gehemmten Sicherheit gibt, die Übergriffigkeit dickfelliger Menschen zurückhält. Sie verliert ihren Sinn, wenn sie Unsichere noch unsicherer macht oder Raubtieren noch mehr Waffen liefert. Höflichkeit erzeugt Rhythmus und Harmonie und verzeiht dennoch unabsichtlich verrutschte Töne. Sie muss auf der Seite der Guten bleiben.
Damit kommt die kleine Serie zur Höflichkeit zum Ende.
Die drei Teile funktionieren auch alleinstehend. Wer aber möchte, kann den ersten und den zweiten Teil nachlesen.
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