Ausflug ins Blaue
Blaue Schmetterlinge, die nicht blau sind, das Blaue vom Himmel, Filme mit blau, Romantik in Blau, …. Die wahrscheinlich unendliche Reihe von Bläue, die in unserer Kultur und Natur vorkommt. Eine Kolumne von Chris Kaiser

Eine meiner guilty pleasures sind süße Romanzen aus dem ostasiatischen Raum. Eine davon hat einen Plot, der mich in seiner unbekümmerten Annäherung an das Ungewöhnliche und Emotionale, mit einem Horrorelement in einer Parallelwelt, die fast wie unsere ist, an den amerikanischen Film „Cat People“ von 1982 erinnerte. Cat People zittert über der Linie zwischen B-Movie und Klassiker, vermischt phantastische Romantik und die Düsternis der urbanen Szenerie zu einem erotischen Horrormovie.
Das Horror-Element besteht darin, dass der eine Schüler, Yeon-Woo, mit einem Gen-Defekt geboren ist, wie einige Menschen in dieser alternativen Welt, auch seine Mutter: Er kann die Welt nur in schwarz-weiß sehen, aber wenn einer der Mutanten auf seine Schicksalspersonen trifft, und diese berührt, dann erlebt er einen Farbenrausch, alle Farben stürzen auf ihn ein und eine zeitlang danach kann er die Welt farbig erleben. Die Menschen mit dieser genetischen Mutation werden aber meistens dadurch zu Mördern, sie töten im Rausch und in der Gier danach ihre Schicksalspersonen. Deswegen versteckt Yeon-Woo seine Kondition, deswegen ist seine Mutter verschwunden, da sie ihre Familie vor ihren Ausbrüchen schützen will.
Yeon-Woo trifft auf seine Schicksalsperson im unkonventionellen Mitschüler Yoo-Han. Er öffnet ihm sich und beide entwickeln Gefühle füreinander. Eine poetische Schlüsselszene ist, als Yoo-Han Yeon-Woo die verschiedenen Blau-Töne aufzählt und ein paar erklärt. Blau heißt auf Koreanisch: „paranseg“ (파란색), dazu kommen die verschiedenen, durch die moderne westliche Welt mit dem Englischen ins Koreanische eingebrochenen Fremdwörter, deswegen ganz viel mit „blue“.
Blaue Blume
Die Verschmelzung von Romantik und Düsternis kommt nicht nur hier vor. Die deutsche literarische Epoche „Romantik“ hat einiges von der englischen Parallelepoche „Gothic Novel“ übernommen, heute noch bekannt sind die Werke von E.T.A. Hoffmann. Die Phantastik im viel helleren Licht beleuchtet findet sich aber in Novalis‘ „Heinrich von Ofterdingen“, in welcher die – hört! hört!- „Blaue Blume“ zum Sehnsuchtsobjekt des romantischen Helden wird. Dieses Motiv greift auf eine altdeutsche Sage zurück, so heißt es, und es passt zur Zeit der deutschen Romantik, als der Mystizismus und die vor-aufklärerische Zeit des Mittelalters nach der strengen Klassik wieder en vogue war. Eduard Mörikes Frühlingsgedicht „Er ist’s“ ist das bekannteste Gedicht, das man schon Grundschulkinder auswendig lernen lässt, fast jeder weiß zumindest den ersten Vers: „Frühling lässt sein blaues Band ….“.
Science Fiction in der DDR-Kinderliteratur
Wenn aus meiner Kindheit dieser Vers und die Begeisterung für romantische Märchen in Erinnerung geblieben ist, so zeigte sich auch meine Tendenz zu der anderen Phantastik, der Science Fiction. Dabei kam mir ein Buch unter, das in der DDR für Kinder veröffentlicht wurde und mich in seiner Fülle von Episoden bei der Reise durch das Universum sowohl an den Kleinen Prinzen als auch an Jules Vernes’ Reise zum Mond erinnerte: „Das Blaue vom Himmel“. Dieser Titel! So einfach zu erinnern, so einfach gestellt und doch so programmatisch in einer unerwarteten Fülle. Es geht um den „Himmel“ als das, was für uns Erdlinge vor dem Universum steht, es kam aber auch ein Engel-Polizist vor … ; es geht aber auch um das Sprichwort „Das Blaue vom Himmel lügen“, denn es geht um das Belügen der Bevölkerung. Ob es propagandistisch zu lesen war? Ob es Kritik am DDR-Regime war? Beides ist möglich, ersteres wahrscheinlich. Die einzelnen Ideen waren aber von erfrischender Originalität. Für die Augen eines real-existierend sozialistisch gewöhnten Kindes waren die propagandistischen Teile identifizier- und ignorierbar (oder „normal“?). Wer war der Lügner und wer der Belogene außerhalb des Buches?
https://www.lovelybooks.de/autor/Hannes-Hüttner/Das-Blaue-vom-Himmel-144891650-w/
Restleuchten
Was ist aber so blau am Himmel, also in der echten Physik?
Das Universum ist an sich „schwarz“, also lichtlos, während dazwischen die hellen Sterne diese Lichtlosigkeit durchdringen können. Wenn man einen Gegenstand im luftleeren Raum vom Lichtkegel einer Lichtquelle in den Schatten bewegt, dann verschwindet er im absoluten Schwarz. Da ist kein Schimmern vorhanden. Anders auf der Erde. Da haben wir auch dunkle Schatten, wo kein Licht hinfällt, aber wenn wir unsere Augen an das Dunkel gewöhnt haben und unsere Pupillen völlig geöffnet sind, nehmen wir Streulicht im dunklen Bereich wahr. Es fällt auch außerhalb des Lichtkegels (ein bisschen) Licht auf die dort platzierten Gegenstände, und wenn diese Gegenstände selbst eine „helle Farbe“ haben, dann kann man sie erkennen. Soldaten wissen das und färben sich das Gesicht mit dunkler Schminke ein, wenn sie selbst hellhäutig sind und Diebe tragen in der Nacht traditionellerweise schwarze Kleidung. Dann sind sie im Schatten der Nacht auch mit Rest-Streulicht nicht zu sehen.
Atmosphäre und gestreutes Licht
Und auf dem Mond, der dank seiner geringen Schwerkraft nur wenige Gasmoleküle und nicht für lange an sich halten kann, besitzt eine nur sehr dünne Atmosphäre. Und deswegen würden wir den Himmel dort auch bei vollem Bescheinen durch die Sonne nicht blau, sondern schwarz sehen. Wie genau dieses Streulicht durch eine Atmosphäre zu einem gleichmäßigen Blau führt, erklärt hier Harald Lesch:
https://www.youtube.com/watch?v=DHbl8HVTPK
Wie man den Effekt selber „nachbauen“ kann, wird hier in einem Experiment vorgeführt. Man braucht dazu nur ein Glas, Wasser, Milch und eine Taschenlampe.
Die Bläue ist somit das kurzwellige Licht, das von den kleinen Luftmolekülen am besten gestreut wird. Der Rest des Regenbogens und ein Teil auch des blauen Lichts wird ungestört und geradeaus das Auge des Betrachters erreichen und ihn blenden, wenn er es wagt, in die gleißende Sonne bei Tag zu schauen. Bei Sonnenauf- und -untergang, beim Blutmond und bei Saharastaub in der Atmosphäre hingegen dominiert die Streuung der langwelligeren Lichtanteile, bei ersteren beiden, weil das die Randphänomene des Lichts im Übergang zum Schatten sind und letzteres, weil die größeren Staubpartikel ALLES streuen, aber vor allem das Blau ZERstreuen.
Grundfarben – additive und subtraktive Mischung
Warum sind aber rote Gegenstände rot und blaue blau? Das hat einerseits mit der Physiologie von uns Menschen zu tun, die wir Rezeptoren (in den Augen) haben und Signalverarbeitung (im Gehirn) vornehmen. Wir interpretieren die ankommenden Photon-Wellenlängen in eine Datenform, die uns „Farben“ sehen lässt. Und andererseits hat es mit dem Gegenstand oder seiner Oberfläche zu tun. Ein Material hat eine gewisse Molekular-Struktur, das einfallendes Licht mit seinem Spektrum an verschiedenster Wellenlänge (und somit Energie) absorbiert oder reflektiert. Ein – für uns – komplett schwarzer Gegenstand wird alles Licht absorbieren und nichts für unser (sichtbares Spektrum) zurückwerfen. Ein blauer Gegenstand wird hingegen das langwelligere rote und grüne Licht absorbieren und uns Menschen „blau“ übriglassen, das er an uns zurückwirft. Die drei Grundfarben, die uns die Sonne oder die weiße LED gleißend weiß erscheinen lassen, sind rot, grün und blau (additive Farbmischung).
Die Grundfarben cyan, magenta und gelb ergeben im Drucker pechschwarz (negative Farbmischung). Das sind physikalisch komplementäre und somit miteinander erklärbare Vorgänge, aber sie folgen einer unterschiedlichen Betrachtungsweise. Das direkte Licht mischt sich durch die Grundfarben zu dem, was wir am hellsten empfinden – weiß. Dagegen wird bei der Farbmischung für einen Maler mit seiner Farbpalette oder bei einem Drucker ein Überzug für die Oberfläche erzeugt, der bei Überlappung aller drei Pigmente in gleicher Menge alle Photonen restlos absorbiert (in der Theorie, aber die Mischung der Pigmente kann diesen Effekt eben auf physikalischer Ebene nicht ganz erzeugen, deswegen wird es eher ein schmutziges Braun ergeben).
Struktur-Blau
Wenn aber Pigmente eine physikalische Eigenschaft der Absorption und Reflexion des Lichts auf der molekularen Ebene vorweisen, so gibt es das Phänomen in der Natur, das tatsächlich mithilfe einer echten physikalischen Makro-Struktur der Oberfläche „blau“ erzeugen kann. Es bleibt bei dem, dass es das Licht der Wellenlänge prädominant reflektiert, das von unseren Rezeptoren und Signalverarbeitern im Hirn als „blau“ interpretiert wird. Aber es findet nicht homogen auf Molekular-Ebene statt. Sondern durch eine recht kleinteilige, aber eben nicht molekularkleine Struktur, die das einfallende Licht „einfängt“, und durch ein ausgeklügeltes Raster bricht, überlagert, sozusagen „hin- und herschickt“ und dann das Restlicht, das „blau“ geworden ist, wieder an der Oberfläche „freilässt“. Es handelt sich um eine „Strukturfarbe“, die etwa bei blauen Morphofaltern auftritt. Hier anschaulich gezeigt:
Eine solche Strukturfarbe gibt es nicht nur bei den Morphofaltern, sondern auch bei irisierenden Effekten etwa bei Perlmutt oder Pfauenaugen. Oder bei „changierenden“ Stoffen. Häufig sieht man das bei Kleidern aus Taft oder Samt – und vor allem auf den opulenten Bildern des Rokokko:
https://www.epochs-of-fashion.com/kostümgeschichte-de/barock/
Blau in Film und Fernsehen
Aber zurück zum Blau und der Gegenwart. Blau ist in der heutigen (Pop-)Kultur weniger eine „warme Farbe“ wie die Romantiker es noch gelten ließen, sondern steht eher für Kühle, Distanz, Rationalität und Dunkelheit. Mir ist das erstmals so richtig in der originalen CSI-Reihe aufgefallen, die in Las Vegas spielt. Die Fälle sind die der Nachtschicht, der Chef der Einheit ist Gil Grissom, ein ruhiger, kühler und distanter Typ, dessen Privatleben selten eine Rolle spielt, obwohl der Zuschauer ein paarmal die dunklen Tiefen erahnen darf. Aber Grissom legt Wert darauf, dass in seiner Arbeit keine Emotionen, Menschelndes oder Privates Einlass bekommen, jeder Schritt wird entweder rational begründet oder eiskalt geplant. Er ist aber gerade in seiner Rationalität fair und verständnisvoll und wächst dem Zuschauer ans Herz. Die Farbpalette der Serie spielt sich – um alle diese Facetten zu unterstreichen – im Blauen ab. Ein scharfer Kontrast zur Tagesschicht im rostbraun gehaltenen Spin-Off CSI-Miami. Für mich ein eklatanter Stilbruch, es kann nur ein CSI geben – blau, kalt, Grissom.
Blau wie Eis, dünnes Eis
Noch kälter, noch bläuer ist die Serie „Cold Case“ aus den frühen Nuller Jahren, in der die Ermittler stoisch ihren Dienst verrichten, Name ist Programm. Die Emotionen sind bei den Tätern und ihren Opfern, die in eingespielten Rückschauen meist durch tragische Zufälle erst zu diesen werden. Die Ermittler hingegen können durch die lange vergangene Zeit seit dem Vorkommnis (eben „cold cases“) mit Akribie und Pedanterie kleinsten Hinweisen nachgehen und den Opfern eine eingebildete Genugtuung verschaffen. Das feinste kleinste Lächeln erscheint erst in den Gesichtern der Cops, wenn sie diesen geisterhaften Schemen das Abschließen ermöglichen.
Und vielleicht ist dieses Abschließen, dieses Da-Sein für die Toten, wo andere lieber nur hedonistisch leben wollen, diese bläulich-zerbrechliche Eisfarbe das, womit Detective Lily Rush in „Cold Case“ und Gil Grissom im originalen „CSI“ unser Herz erwärmt. Womöglich ist Blau doch die dünne Strukturfarbe des Eiskalten, die bei ihrem Zerbrechen uns darunter Wärme schenkt.

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