Sammelklagen: Lackmustest für die digitale Marktwirtschaft
Die Digitalisierung bringt mächtige Plattformen hervor. Wenn deutsche Verbraucher auf sich allein gestellt bleiben, werden die neuen Giganten ihre Macht gnadenlos ausspielen. Gastbeitrag von Julius Reiter
Ich bin sehr gespannt, ob es diesmal klappt: Vom 1. November an, so hat es Bundesjustizministerin Katharina Barley versprochen, sollen „Musterfeststellungsklagen“ möglich sein – gerade noch rechtzeitig, bevor am die Ansprüche von Millionen Eigentümern manipulierter Diesel-Fahrzeuge verjähren. Doch der Gesetzgebungsprozess stockt bereits; ob der Zeitplan zu halten ist, weiß derzeit niemand.
Dabei wären die neuen Sammelklagen ein wichtiger Schritt, um auch im digitalen Zeitalter Verbraucherschutz zu gewährleisten, Machtmissbrauch zu verhindern und die Balance in unserer Marktwirtschaft zu erhalten. Schließlich zeigt der Abgasskandal eindrucksvoll: Selbst wenn Konzerne Kunden dreist täuschen, können sie, zumindest in hierzulande, weitgehend ungeschoren davonkommen.
Denn viele schrecken davor zurück, auf eigene Faust vor Gericht zu ziehen – auch, weil sie hohe Kosten fürchten. Überspitzt formuliert: Die Armen verzichten darauf, ihre Rechte einzufordern. Das ist eines Rechtsstaats und der sozialen Marktwirtschaft gleichermaßen unwürdig (und zudem Wasser auf die Mühlen linker und rechter Populisten).
Die Wettbewerbshüter tun sich schwer
Und ich fürchte: Solche Fälle werden wir im Zuge der Digitalisierung öfter erleben. Denn die Plattformökonomie bringt mächtige Player hervor, die naturgemäß dazu neigen, ihre Stellung zulasten ihrer Kunden auszunutzen – Facebooks sorgloser Umgang mit Kundendaten und Googles Praxis bei der Anzeige von Suchergebnissen lassen grüßen.
Die Wettbewerbshüter mühen sich zwar redlich, Exzesse zu sanktionieren. Doch leider muss man konstatieren, dass sie das Problem allenfalls ansatzweise in den Griff bekommen – vor allem, weil das Kartellrecht noch nicht annähernd auf eine datengetriebene Ökonomie mit mächtigen Plattformen zugeschnitten ist.
Umso wichtiger ist es nun, auf einer anderen Ebene Waffengleichheit herzustellen und Verbrauchern zu ermöglichen, sich zu Sammelklagen zusammenzuschließen. Denn was bringen lobenswerte Verbraucherschutz-Standards in unseren Gesetzen und Verordnungen, wenn Geschädigte ihr Recht nicht durchsetzen (können)? Papier ist bekanntlich geduldig.
Google, Amazon & Co: The winner takes it all
Wer Sammelklagen vor diesem Hintergrund als Idee gieriger Anwälte brandmarkt, die eine Klageindustrie etablieren wollen, betreibt plumpen Lobbyismus oder hat sich noch nicht ausreichend damit befasst, wie wichtig Vertrauen & Verbraucherschutz für eine reüssierende Wirtschaft sind und in welchem Ausmaß die Digitalisierung die Machtverhältnisse verändert.
Im Übrigen sollte niemand glauben, es ginge vor allem um Google, Amazon & Co. oder Old-Economy-Giganten wie VW: In den kommenden Jahren werden weitere mächtige Player entstehen, die wir noch gar nicht auf dem Radar haben.
Denn in zahlreichen Branchen hat der Kampf um den Zugriff auf die Daten und das beste Geschäftsmodell längst begonnen, und viele der Sieger werden getreu der Devise „The winner takes it all“ auf Jahre hinaus ihren Markt dominieren.
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Professor Julius Reiter ist Gründer der Kanzlei Baum Reiter + Collegen in Düsseldorf. Als IT-Rechtler, Anlegeranwalt und Liberaler beschäftigt er sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung und der Frage, wie ein moderner Daten- und Verbraucherschutz aussehen kann. Hier geht’s zu seinem Blog „Digital Fairplay – Menschen. Daten. Selbstbestimmung“
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