Aufmerksamkeit und Sendezeit – und sonst nichts
Eine Kolumne von Heinrich Schmitz über Reality-Stars, deren „Formate“ schneller sprießen als Unkraut nach dem Sommerregen.

Das Dschungelcamp – die Hölle mit WLAN
Der Urknall der modernen Reality-Zivilisation bleibt „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“. Hier, wo Menschen, die einst in Talkshows lächelten, nun Insekten essen, um zurück ins Fernsehen zu dürfen. Die australische oder südafrikanische Vegetation ist nur Kulisse für die eigentliche Mutprobe: das Überleben im Gesprächsformat „Wie schlimm war deine Karriere wirklich?“.
Es ist faszinierend, wie konsequent sich dieses Ritual jedes Jahr wiederholt. Ein Sänger, der zuletzt 2006 in den Charts war, sitzt neben einem Influencer, dessen Hauptqualifikation „Follower über 100.000“ lautet, und beide streiten über die Verteilung von Bohnen und Bildschirmzeit. Wenn Nietzsche den Willen zur Macht meinte, konnte er das gar nicht anders gemeint haben als: „Ich will die Dschungelkrone.“
„Promi Big Brother“ – wo der Ruhm nochmal durch die Mikrowelle geht
Wer glaubt, der Zenit des Trashs sei im Dschungel erreicht, der hat noch nicht in die Weltraumstation von Sat.1 geschaut. „Promi Big Brother“ – das ist, als hätte Kafka die Sims programmiert. Menschen werden in Container gesperrt, um zu zeigen, dass sie „ganz normal“ sind. Sie schlafen, essen, zicken ( oder dasselbe mit f) und flüstern – und das Publikum liebt es, weil man sich plötzlich selbst ganz vernünftig vorkommt.
Es gibt Bewohner, deren Prominentenstatus so fragil ist, dass er nur durch den Untertitel „bekannt aus „Are You The One?“ stabilisiert wird. Der Satz „Ich bin kein Star, ich bin einfach ich“ wird dort häufiger gesagt als „Guten Morgen“. Doch in Wahrheit ist es ein philosophisches Drama über die Leere des Selbst – nur mit schlechter Beleuchtung und Instantkaffee.
„Temptation Island“ – Versuchung als Beruf
Man muss den Machern von RTLZWEI eines lassen: Sie haben den Mythos der Paartherapie auf Bikini-Niveau gehoben. „Temptation Island“ – das ist der Ort, an dem Beziehungen sterben, aber Karrieren geboren werden. Die Prämisse: Wir setzen Paare in getrennte Villen, lassen sie mit verführerischen Fremden tanzen und warten auf die Tränen. Es ist das Reality-Äquivalent zur chemischen Reaktion: Man kippt Drama zu Alkohol, rührt ein bisschen Sonne unter – und es knallt.
Die Verführerinnen heißen dort „Granaten“ – und das ist kein Kompliment für den Intellekt, sondern eine taktische Beschreibung. Sie sind sozusagen Popp-Stars und zeigen sich auch gerne außerhalb der Sendungen bei OnlyFans gegen cash. Wenn einer der Kandidaten sagt: „Ich habe eine Grenze, und die liegt bei Küssen“, weiß man, dass er diese Grenze in drei Minuten überschreiten wird – von der Kamera, nicht von der Moral. Das ist so ähnlich wie mit der Brandmauer der CDU.
Love Island, Bachelor & Co – die Schule der Selbstinszenierung
Auf „Love Island“– keine Reisesendung für Islandfans – lernt man, was echte Gefühle sind: eine Storyline. Dort entsteht Liebe in HD, mit Mikrofon und Silikon im Bikini und Vertragsklausel im Hintergrund. „Ich bin hier, um die Liebe zu finden“ bedeutet übersetzt: „Ich bin hier, um Rabattcodes zu bewerben.“ Der Bachelor wiederum ist das romantische Äquivalent zu einem Vorstellungsgespräch: 20 Bewerberinnen, ein Mann mit zu vielen Muskeln und zu wenig Zeit, und eine Rose, die mehr symbolische Bedeutung hat als ein Eheschwur. Wenn er sagt: „Ich habe heute leider keine Rose für dich“, klingt das nur höflicher als: „Der Algorithmus hat entschieden.“
Reality Royals – das Nachspiel auf Instagram
Kaum ist die Staffel vorbei, beginnt der wahre Wettbewerb: Wer bekommt den blauen Haken zuerst? „Kampf der Realitystars“ ist längst nicht das Ende, sondern die Eintrittskarte in den Olymp der Kooperationen: Proteinpulver, Koffeinshampoo, Hautpflege mit Eigenmarke. Zwischen den Postings über Selbstliebe und Detox-Tees blitzen Streitigkeiten auf, die mit griechischen Tragödien konkurrieren könnten – nur mit schlechterer Grammatik.
Es ist fast poetisch, wie sich das Reality-Ökosystem selbst nährt: Wer im „Sommerhaus der Stars“ Streit provoziert, darf ins „Promiboxen“; wer dort weint, landet im Podcast; wer dort wieder heult, bekommt eine Doku auf RTL+. Und so schließt sich der Kreis des Ruhmes, irgendwo zwischen Ringlicht und Reue.
Wer sich am Besten blamiert, indem er andere vor der Kamera zur Sau macht, darf zur Belohnung zum Promibüßen und wird dort gnadenlos am Nasenring durch die Manege geführt.
Und wer über ein überragendes Unwissen verfügt, versucht sein Glück bei „Deutschlands dümmster Promi“. Jesses nee.
Warum wir trotzdem hinschauen
Vielleicht ist es ja das eigentlich Erstaunliche: Dass wir all das wissen – und trotzdem nicht abschalten. Ich jedenfalls nicht. Ich bin ein bekenennder Trash-TV-Fan. Reality-Formate sind das Aquarium unserer Zeit: Wir starren auf das Verhalten anderer, um uns lebendig zu fühlen. Wenn jemand heult, schreit, betrügt oder seinen Ex anbrüllt, flüstern wir: „Unglaublich!“ und klicken auf „Nächste Folge“.
Vielleicht, weil uns diese kleinen Dramen daran erinnern, dass das eigene Leben gar nicht so chaotisch ist. Oder weil man sich im Alltag selten so intensiv mit der eigenen Frisur beschäftigt wie ein Teilnehmer von „Beauty & The Nerd“.
Ruhm ist, wenn keiner mehr fragt, warum
Reality-Stars sind die Hofnarren der Gegenwart. Sie halten uns den Spiegel vor, nur dass er aus Selfie-Kameras besteht. Ihre Währung ist Aufmerksamkeit, ihre Religion die Reichweite, ihre Beichte ein Livestream. Ihre Haut ist ein Tattoo, und ihre Brüste und Lippen sind aus Silikon.
Und so sprießen sie weiter, die Reality-Pflänzchen, im warmen Klima der Klickzahlen. Jeder Streit ein Samenkorn, jeder Kuss ein Wachstumsschub. Und wir? Wir gießen sie fleißig mit Likes, Kommentaren und medialer Empörung – damit sie auch nächstes Jahr wieder blühen.
Denn eines ist sicher: wo Licht ist, ist auch Ringlicht. Und wo ein Mikrofon liegt, findet sich immer jemand, der ruft: „Ich bin nicht hier, um Freunde zu finden!“
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