Die Wohlstandsverwahrlosten
Wer in Corona-Zeiten ohne Masken zu Massenkundgebungen strömt, um dort die angebliche Aushöhlung unserer Grundrechte zu bejammern, verhält sich hochgradig asozial, sagt Kolumnist Henning Hirsch
Covid-19 ist nichts Schönes. Die damit infizierten Menschen krepieren, wenn sie älter sind, an Vorerkrankungen leiden oder als Jüngere und nicht vorerkrankte einfach nur Pech haben, elend an Beatmungsmaschinen. Das ist kein schneller Tod, sondern zieht sich über mehrere grauenvolle Tage. Es ist auch, wie von Verharmlosern und anderen Beratungsresistenten trotz wochenlanger Aufklärung wahrheitswidrig immer noch behauptet wird, keine normale Grippe, an der jedes Jahr im Winter sowieso Tausende sterben, ohne dass da dramatisch ein Fass aufgemacht wird. Nein, SARS-CoV 2 ist was Neues, Tückisches, hochgradig Kontagiöses, das, wenn es für einen Infizierten schlecht läuft, zuerst ans Beatmungsgerät und dann in den elenden Tod führt. Es ist eine Pandemie, die aktuell in ihrer ersten Welle kreuz und quer über den Globus wütet, bis sie irgendwann abebbt, in einem entlegenen Winkel der Welt kurz verschnauft, bevor sich die Seuche in einer zweiten Welle, die oft heftiger ausfällt als die erste, erneut über den Erdball verbreiten wird. Es sei denn, man schafft es, das Virus vorher verhungern zu lassen oder entwickelt rechtzeitig einen Impfstoff.
Im März: einhellig „flatten the curve!“
Woher der Erreger stammt, ist erstmal völlig egal. Ob er nun auf dem Wochenmarkt in Wuhan beim Fledermaus-Barbecue entstand, aufgrund Fahrlässigkeit aus einem Labor entwich oder von Bill Gates in seiner Garage zusammengebastelt wurde, um die Microsoft-Weltherrschaft zu beschleunigen – alles wurscht. Ob die WHO rechtzeitig oder zu spät Alarm schlug, ob Herr Spahn im Januar was anderes sagte als im März, warum die Kanzlerin im Januar noch überhaupt nichts dazu sagte – ebenfalls Nebenkriegsschauplätze. Es ging ab März, als die tödliche Gefahr endlich erkannt wurde, ausschließlich darum, Schaden von der Bevölkerung abzuwenden. Und das ließ sich auf die Schnelle einzig mittels eines Lockdowns in die Praxis umsetzen: Leute bleibt zu Hause, verlasst nur noch zum Einkaufen und Solo-Spaziergang eure Wohnungen, arbeitet im Homeoffice. Kindergärten zu, Schulen zu, Einzelhandel bis auf die Supermärkte zu. Keine Besuche mehr in Altersheimen. Nicht, um die Alten zu quälen, sondern um zu verhindern, dass die Krankheit dort eingeschleppt wird. Sicher alles drastische und ungewohnte Maßnahmen, aber wie will man Infektionsketten sonst wirkungsvoll unterbrechen? Im Vergleich zu dem, was einige Nachbarländer unternahmen, jedoch eh nur die Babyversion eines Shutdowns.
„Flatten the curve“ hieß das Motto im März: sicherstellen, dass die Bettenkapazitäten unserer Krankenhäuser ausreichen, um den zu erwartenden Ansturm der schwer Infizierten menschenwürdig behandeln zu können. Bloß keine Auswahlentscheidung (die sog. Triage), wer darf ans Beatmungsgerät und bei wem lohnt das nicht mehr, durch die Ärzte, wie sie in Italien, Spanien und Frankreich aufgrund der dortigen Überlastungen der Systeme getroffen werden musste. Und es klappte: die Todeszahlen stiegen zwar stetig, allerdings im Vergleich zu anderen Ländern eher moderat, und die Kliniken mussten ungezählte Sonderschichten einlegen; jedoch verblieben wir unterm Strich im orangen/ gelben Bereich. So weit, so „gut“. Das war bisher halbwegs glimpflich für uns Deutsche verlaufen, der bittere Kelch an uns fürs Erste vorübergegangen. Zeit eine Zwischenbilanz zu ziehen, welche Maßnahmen haben sich bewährt, welche eher nicht, Zeit, eine Kerze in der Kirche anzuzünden und auch der Regierung für besonnenes und erfolgreiches Krisenmanagement zu danken. Man muss übrigens kein Merkelianer sein, um das vorbehaltlos anzuerkennen.
Im April: Lockerungen sofort!
Wir wären aber nicht in Deutschland, wenn nicht, sobald die größte Gefahr überstanden ist, sofort die Heckenschützen aus ihren Gräben hervorkommen und nun dieselbe Regierung, der sie im März noch Gefolgschaftstreue bei der Überwindung dieser Jahrhundertkrise geschworen hatten, ins Kreuzfeuer nehmen. Der Shutdown dauert zu lange, wir müssen dringend lockern, schallt es plötzlich von links und rechts. Genau genommen eher von rechts. Gestorben wird sowieso immer, vor allem bei den Alten, hört man jetzt in Talk Shows und liest es in Interviews. Der Lockdown war ein Fehler, schaut nach Schweden, erklären die Hobby-Virologen, und ich schaue nach Schweden und sehe dort prozentual mehr Tote als bei uns. DIE WIRTSCHAFT muss SCHNELL wieder hochfahren, fordern die Ministerpräsidenten, machen ab sofort alle ihr eigenes Ding und scheren sich einen Dreck darum, was sie gestern noch in Berlin mit dem Kanzleramt vereinbart hatten. Das ist das Wesen des Föderalismus, sagen Sie? Die Kehrseite von Föderalismus heißt Kakophonie, antworte ich. Aber okay, so funktioniert eben das politische Geschäft. Ein ewiges Hauen und Stechen. Wer zartbesaitet ist oder gar Freundschaften fürs Leben sucht, sollte da besser nicht anheuern.
Es ist die hohe Zeit von Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern. Wer öfter im weltweiten Netz unterwegs ist, kennt diese beiden Gruppen und kann den Wahrheitsgehalt ihrer oft ins Wahnhafte gesteigerten Mutmaßungen gut einsortieren. Verschwörungstheoretiker wittern nun mal per Definition überall Verschwörungen, und Impfgegner wollen weder sich noch ihre Kinder (was ich übrigens sehr asozial finde) gegen irgendwas impfen lassen, sondern vertrauen stattdessen auf Bachblüten, schwach gesüßten Pfefferminztee und kalte Wadenwickel. Quark, den ich schon tausend Mal in Facebook, Twitter & Co. gelesen habe. Jetzt nichts Besonderes, dass die einen sich bei Corona auf die Chinesen, die das Virus gezüchtet haben, um die westliche Welt zu vernichten, einschießen, und die anderen Bill Gates zum Sündenbock erklären, der uns entweder ausrotten oder sich am Impfstoff schamlos bereichern oder beides zusammen will. Halt der übliche Verschwörungs- und Esoterikmüll, über den man täglich in den sozialen Netzwerken stolpert.
Im Mai: Verschwörungstheoretiker und Impfgegner rotten sich zusammen
Unappetitlich wird es aber seit Neuestem durch einen Verein, der sich Widerstand 2020 nennt und sogenannte Querdenker und Anti-Corona-Rebellen zu Aktionen gegen die Regierung auffordert. Mantra: Das Grundgesetz wird außer Kraft gesetzt, die Elite bereitet die (Eliten-) Diktatur vor. Dass die beiden oben genannten Spinnergruppen auf sowas abfahren – geschenkt. Was jedoch erschreckt, ist die Beobachtung, dass ebenfalls Menschen, die ich bisher der bürgerlichen Mitte zugeordnet hatte, plötzlich vom Querdenker-Bazillus infiziert werden. Mal völlig losgelöst vom Umstand, dass querdenken nicht zwangsläufig richtig denken bedeutet, mutet es schon ein bisschen exotisch an, wenn ich nun Rechtsanwältinnen, Mathematiklehrer und Steuerberater was von Revolution faseln höre. Und ich frage: Welche eurer Grundrechte wurden denn derart massiv ausgesetzt, dass ihr zu Revoluzzern mutieren möchtet? Mir wird die Teilnahme am Gottesdienst verwehrt, antwortet der Steuerberater, der vor zwanzig Jahren aus der Kirche ausgetreten ist. Ich darf meine Oma nicht mehr im Altersheim besuchen, sagt der Mathematiklehrer, dessen beide Omas schon vor der Jahrtausendwende gestorben sind. Es geht ums Prinzip, erklärt die Rechtsanwältin. Wir sind das Volk und dürfen ALLES. Die Regierung hingegen muss sich rechtfertigen vor uns. Wo kommen wir denn hin, wenn der Einzelhandel über Nacht geschlossen wird, und wir alle wochenlang nicht ins Kosmetikstudio gehen können? Schauen Sie sich meine Fingernägel an. Eine einzige Katastrophe. Und die Einschränkung der Reisefreiheit!! Fragen Sie mal meine Kinder, wie die das fanden, als wir über Ostern nicht an den Gardasee fahren durften, wo wir eine schöne Ferienwohnung in Bardolino besitzen. KATASTROPHE. Aber die Regierung hat doch täglich erläutert, was sie tut, und weshalb die Maßnahmen im Moment notwendig sind, wende ich ein. Ach, das sind doch alles bloß Verwirrspiele, um das Parlament zu entmachten und die Diktatur vorzubereiten, sagt die Rechtsanwältin, bevor sie sich wieder über ihren Schriftsatz beugt, den sie gleich ans Bundesverfassungsgericht losschicken wird, um die sofortige Inhaftierung der gesamten korrupten Berliner Regierungsriege zu fordern.
Wie schult man nun querdenkende Rechtsanwältinnen, Mathematiklehrer und Steuerberater auf Revolutionäre um? Menschen, die es gewohnt sind, drei Mahlzeiten am Tag zu sich zu nehmen, zwei Autos im Carport stehen zu haben, abends zwischen RTL, Netflix und Amazon Prime zu wählen und in einem warmen Bett mit 5-Zonen-Komfort-Matratze zu schlafen? Man startet mit einer kleinen Aufgabe: Setzt keine Masken auf! Denn Masken:
(a) zwingen dich, CO2 einzuatmen
(b) sind schlecht für die Gesichtshaut
(c) sind bisher unerforscht hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf unseren Stuhlgang
(d) verursachen mehr Schaden als Covid 19, das sowieso nur eine Erfindung der Pharmaindustrie ist.
Und so schmeißen die Corona-Widerständler ihre Masken in den Müllcontainer und fühlen sich dabei sehr revolutionär.
In einem zweiten Schritt organisiert man kleine Querdenker-Demonstrationen, auf denen natürlich ebenfalls keine Masken getragen, dafür aber Schilder in die Höhe gehalten werden: Merkel muss weg, ist da zu lesen. Wir lassen uns nicht länger verarschen. Corona ist ein Hirngespinst. Bill Gates = größter Menschenfeind und so weiter und so Bullshit. Dass die Sicherheitsabstände von 1.5 Metern bei diesen Flashmobs nicht eingehalten werden – geschenkt. Dass die Wacht-endlich-auf-ihr-Schlafschaf-Trompeter ihre Meinung ungefiltert und unsanktioniert herumtrompeten dürfen, obwohl doch diese Meinungsfreiheit angeblich aufs Höchste gefährdet ist, ebenfalls geschenkt. Dass wir in ein paar Tagen wieder stark ansteigende Krankheitszahlen in den Städten, in denen die Covid-19-Rebellen zusammenströmten, erleben werden – zum dritten Mal geschenkt. Dass die Rechtsextremen Seit an Seit marschieren – geschenkt die Vierte. Widerstand 2020 ist auch nur wutbürgerndes Pegidatum, bloß mit neuer Themensetzung.
Wohlstands-Revoluzzertum = asozial
Mir ist zwar vor diesen Sofa-Revolutionären, die aufgrund galoppierender Verweichlichung im Verein mit gleichzeitig chronischer Kurzatmigkeit beim Eignungstest für richtige Revolutionäre allesamt durchfallen würden, nicht bange; jedoch empfinde ich deren Aktivitäten in zunehmendem Maße als hochgradig egoistisch, unser Grundrecht auf Gesundheit grob fahrlässig gefährdend und in Blickrichtung auf den Solidaritätsgedanken, der eine Gesellschaft letztlich zusammenhält, fortgeschritten asozial.
Menschen, die in Zeiten einer Pandemie Grundrechte auf regelmäßigen Besuch im Fingernagelstudio und Osterurlaub am Gardasee einfordern, kann ich nicht Ernst nehmen. Ich bezeichne solche Leute deshalb als das, was sie in Wirklichkeit sind:
Unsere Wohlstandsverwahrlosten.