Von inneren und äußeren Gesetzen – Meine ganz eigene Wahlempfehlung für den Osten
Unsere Gastkolumnistin Anja Boltin mit einer ganz persönlichen Wahlempfehlung für den Osten.
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay
Kürzlich stellte mir meine kleine, siebenjährige Tochter zum zweiten Mal mit all ihrem kindlichen Ernst eine Frage, die ich ihr beim ersten Mal – zu unser beider Unzufriedenheit – nur vage beantworten konnte. Nun bekam ich eine zweite Chance, nahm einen erneuten Anlauf und erklärte ihr deshalb, was ich mir unter inneren und äußeren Gesetzen vorstelle.
Entschuldigen – wofür!?
Ihre Frage ging so:
Mama, was ich die ganze Zeit schon überlege – warum musst du mir für die Schule eine Entschuldigung schreiben, wenn ich krank bin. Da kann ich doch gar nichts dafür!
Eine leichte Empörung schwang in ihrer Stimme mit, die ich sehr gut nachempfinden konnte. Vom Nachempfinden allein hat man allerdings als halbwegs anspruchsvolle Mutter noch keine zufriedenstellende Erklärung parat. Also begann ich so kindgerecht wie möglich zu erklären, dass Menschen einen eigenen Willen, eine innere Stimme, ein individuelles Wesen haben und von daher Dinge schief laufen können („Du weißt, wenn die Mama unter Zeitdruck immer so schnell gestresst ist und dann laut und nervig und ungerecht wird und sich entschuldigen muss!“ Kind kichert und nickt! Ok. Verstanden).
Und dass es aber auch Vereinbarungen gibt, die Menschen miteinander treffen, die für viele Menschen gelten und eher im Außen festgelegt sind und nicht aus einer bestimmten Person allein herauskommen. Man stellt dann Regeln für alle auf oder man verspricht anderen Menschen etwas, woran sich dann viele halten sollen. So hätten wir Eltern dem Schuldirektor zum Beispiel versprochen, dass unsere Kinder jeden Morgen spätestens um acht Uhr in der Schule sitzen, damit der Unterricht beginnen kann. Kind nickt. Und ist zufrieden. Es gibt nun zwei Arten von Entschuldigungen in ihrer Welt. Mutter freut sich – über ihr aufmerksames Mädchen und über den kommunikativ gelungenen Moment und denkt weiter nach.
Inneres und äußeres Gesetz. Was mich zur Zeit und länger schon am meisten beschäftigt, ist der Rechtsruck in unserem Land und insbesondere die unrühmliche Rolle, die meine ostdeutschen Landsleute dabei spielen, wenn sie diversen – vornehmlich westdeutschen, herzbetonierten – Politprofis und Agitatoren auf den Leim gehen. Ich versuche, wie das so meine Art ist, zu verstehen um nicht zu hassen.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich vor Scham geheult habe, als Dunja Hayali in Erfurt auf dem Domplatz meine Thüringer Landsleute interviewte und diese überhaupt kein gutes Bild abgaben. Um es mal etwas neutral auszudrücken. Ich schämte mich ähnlich schlimm wie damals 1990, als ostdeutsche Menschen scharenweise in den Westen rannten um ihre 100 Mark Begrüßungsgeld abzuholen. Haben die denn gar keinen Stolz? Fragte ich mich als pubertierende, sozialistisch indoktrinierte 15-Jährige voller echt gefühlten Herzschmerzes mit der entsprechenden Portion Drama, wie es sich für eine Jugendliche gehört.
Wahlempfehlung
Und nun zu meiner Wahlempfehlung für den Osten!
Ich würde, wenn ich könnte, gern jeden mir bekannten Menschen im Osten bitten, liberal zu wählen. Also die vielgescholtene FDP, deren Chef Christian Lindner so gern verlacht und – durch sich auf dem Silbertablett darbietende Projektionsmöglichkeiten, wie mir scheint in Ost wie West – haufenweise missverstanden wird. Gesamtdeutsch gesehen, würde ich die FDP nicht empfehlen, sie wäre auch nicht meine persönliche Partei der Wahl.
Aber. Wenn ich über die Idee von innerem und äußerem Gesetz nachdenke, dann weiß ich intuitiv, dass wir den Rechtsruck in Deutschland wegen 1989 an der Backe haben. Keine Ahnung, warum ich das weiß, Intuitionen sind eben genau deshalb „nur“ Intuitionen, weil sie in der Regel keine handfesten Erklärungen im Gepäck mitliefern. Dieses „nur“ regt mich allerdings sehr auf, weil die darin versteckte Abwertung eine weit verbreitete Folge von gefährlicher, systematischer Missachtung dieser wertvollen menschlichen Informationsquelle ist.
Wenn ich versuche, mich den Gründen für diese Intuition zu nähern, dann kann ich nur auf meine ganz persönliche Lebensgeschichte verweisen – unser intuitives Wissen, das häufig unsere Emotionen und Handlungen viel stärker beeinflusst als jedes rationale Nachdenken, speist sich immer aus der je individuellen Lebensgeschichte! Mit Zähnen und Klauen habe ich über Jahre „meine DDR“ als gute alte Heimat und als Prachtexemplar liebevoller Kindheitserinnerungen verteidigt gegen jeden Wessi, der in meinen Augen „nichts verstand“, weil er die DDR nicht – hört, hört! – VON INNEN kannte.
Man könnte also vielleicht spekulieren, dass die tief empfundene, in meinem Fall pubertär und familiengeschichtlich noch verstärkte Scham von 1989/90 und jede weitere später erlebte Situation von Herabsetzung und ein als ungerecht empfundener Umgang mit „dem Osten“, auf eine Art inneres Gesetz getroffen ist, das die vielgescholtene DDR-Ideologie dort (dankenswerterweise!) hinterlassen hatte: „Sei loyal mit den Schwachen und Unterdrückten! So und nur so wird eines Tages Frieden weltweit zu schaffen sein!“
Nun habe ich in meinen Jahren im Westen sehr viel über den Aspekt der äußeren Gesetze gelernt, warum sich Menschen Regeln geben und daran festhalten und was das mit der Würde des Individuums zu tun hat und ich habe – mit Widerstreben, aber dann doch! – das Gute am Rechtsstaat erkannt und habe – mit Schmerzen, aber dann doch! – akzeptieren gelernt, dass meine kindlich-gefühlt „tolle“ DDR politisch gesehen eine menschliche Katastrophe war und dass nicht überall wo demokratisch drauf steht auch Demokratie drin ist.
Und wenn ich mir nun vorstelle, dass viele meiner Landsleute ähnliche Wege gegangen sind wie ich, wenn ich denke, dass jede einzelne der vielen, vielen wirklich offensichtlichen und manchmal himmelschreienden Ungerechtigkeiten und Zynismen des Westens in vielen Menschen über viele Jahre auf so ein ideologisch tief verankertes inneres Gesetz getroffen sind, dann gelingt es mir recht gut, das offensichtlich Dumme und Rohe an dem Rechtsruck wenigstens nicht zu hassen. Zumindest was die daran beteiligten ostdeutschen Akteure betrifft. Vielleicht verteidigen die, die jetzt lauthals AfD wählen wollen, ja eine Art inneres Gesetz, eine „gefühlte Wahrheit“ nach notwendiger Solidarität mit den Schwachen. Warum diese Menschen solch ein Gesetz dann allerdings nur für die eigene Nation oder gar Rasse gelten lassen wollen, entzieht sich meiner Vorstellungskraft und Kenntnis.
Ein Gedanke fehlt nun noch zur Begründung meiner in diesem Kontext vielleicht seltsam anmutenden Wahlempfehlung: Sowohl als Psychologin als auch aufgrund meiner eigenen Lebensgeschichte weiß ich und bin felsenfest davon überzeugt, dass es keine sinnvolle, tragende und stabile Anerkennung und Akzeptanz äußerer Gesetze und Autoritäten gibt und geben kann, solange Menschen nicht die individuell erlebte und auch körperlich tief verinnerlichte Erfahrung (Stichwort: Embodiment) gemacht haben, dass sie ihrem eigenen inneren Gesetz folgen dürfen und dass der sie umgebende Staat dieses Recht schützt. Und ich meine, genau diese “innere Not”, dies nie wirklich erfahren zu haben, steht bei vielen rechts wählenden Menschen hinter dem für sensible Ohren nur schwer zu ertragenden und durchaus gruseligen Ruf nach „mehr Recht und mehr Ordnung“!
Nur vom Ich zum Wir, nie andersrum
Deshalb heißt meine Wahlempfehlung speziell für den Osten: Liberalismus. Und Liberalismus, wie ich ihn verstehe, ist nichts anderes als die penetrante Verteidigung der individuellen Freiheit gegenüber bevormundenden Autoritäten. Weil wir keine Maschinen, sondern Menschen sind und weil wir genau deshalb einer natürlich wachsenden inneren Ordnung unterliegen und den zweiten Schritt nie vor dem ersten tun können.
Nur ein starkes Ich passt zu einem sinnvollen Wir!