Die große Zerstörung
Das Rezo-Video komplett(!!) angesehen hat sich Kolumnist Henning Hirsch
Nachdem ich vor drei Tagen noch gejammert hatte, „nix los auf allen Kanälen“ und notgedrungen auf das Langweilerthema Wahl-O-Mat ausgewichen war, überschlagen sich seitdem die Ereignisse, und ich komme mit dem Tippen überhaupt nicht hinterher. Und das liegt vor allem an der Durchschlagskraft des Rezo-zerstört-die-CDU-Videos. Deshalb vorab schon mal danke! an den jungen Mann mit der markanten Frisur, der mich damit vor der drohenden Arbeitslosigkeit in meinem Zweitberuf Klatsch- & Tratsch-Kolumnist gerettet hat.
Als mich Sohn Nr. 1 am vergangenen Mittwoch auf den Clip aufmerksam machte, lauteten meine ersten Gedanken:
(a) Wer zum Teufel ist Rezo?
(b) Was hat der mit seinen Haaren gemacht?
(c) 4 Millionen Klicks: wow!
(d) 55 Minuten: wer soll sich das denn reinziehen?
Seitdem hat sich Folgendes zugetragen:
(a) Ich weiß jetzt, wer Rezo ja lol ey ist
(b) Seine Haare sind immer noch blau
(c) Die Klickzahl hat die 10-Mio-Marke geknackt und es gibt seit vorgestern ein zweites Video mit dem – eher dröge klingenden – Titel „Ein Statement von 90+ Youtubern“, das binnen 48 Stunden bereits 2,6 Millionen Mal aufgerufen wurde
(d) Ich habe nach einem ersten Probeschauen am Mittwoch – zehn Minuten bei Zähneputzen und Haarekämmen – mir nun den kompletten Clip angesehen.
Was sonst noch passiert ist, das erfahren Sie, wenn Sie die GESAMTE Kolumne lesen, die nun endlich losgeht.
Eine beinahe saubere wissenschaftliche Analyse
Beginnen wir mal mit den Klickzahlen. Die sind natürlich hoch, erscheinen jedoch selbst in dieser Größenordnung nicht extraterrestrisch bei Influencern, die es gewohnt sind, Woche für Woche Millionen Follower auf ihre Seiten zu lenken. Ein Unterfangen, bei dem sie professionelle Hilfe von aufs Internet spezialisierten Marketingagenturen erhalten. Des Weiteren bedeutet Anklicken nicht zwangsläufig, dass sich der Zuschauer die volle Länge genehmigt. Meine aus dem Bauch heraus getroffene Vermutung: 70 Prozent der User sind vorher ausgestiegen. Knapp ne Stunde Faktengehechel auf Youtube können sich arg ziehen. Ein halbes Dutzend Probanden (meine Kinder sowie junge Kollegen im Büro) haben als Maximalwert 14 Minuten erreicht, dann wurde weitergezappt.
Bei Rezos Parforceritt durch die aus seiner Sicht drängendsten Probleme der Gegenwart kristallisieren sich vier Haupt-Themenblöcke heraus: Soziale Ungleichheit, Bildung, Kriegsverbrechen sowie der Klimawandel.
Der Youtuber untermauert seine Feststellungen mit ner Menge Zitate, Quellen und Charts. Eine beinahe saubere wissenschaftliche Vorgehensweise. Die Einschränkung „beinahe“ muss deshalb erfolgen, weil Rezo durchgängig nur die Belege anführt, die SEINE Thesen unterstützen. Und dabei unterschlägt, dass ebenfalls anderslautende, akademisch publizierte Standpunkte existieren, die er zumindest als Minder(?)meinung hätte erwähnen sollen, wenn er für sich das Prädikat 100 Prozent (diesen Wert gibt es eh nicht. Schon klar) objektiv in Anspruch nehmen will. Die von einigen Medien durchgeführten Faktenchecks wiesen ihm zudem Manipulationen aufgrund Verkürzung manch wichtiger Statistik nach.* Das ist ärgerlich für jemanden, der suggerieren möchte, er allein befinde sich im Besitz der absoluten Wahrheit.
* allerdings bejahen zahlreiche Redaktionen die Richtigkeit des Grundtenors der im Video aufgestellten Behauptungen.
Headline à la BILD
Die gewählte Überschrift klingt martialisch: Die Zerstörung der CDU.
Damit kann Dreierlei gemeint sein: Die CDU zerstört das Land oder die CDU zerstört sich selbst oder beides zusammen. War in den sozialen Netzwerken ein großer Aufreger; ich find’s nicht so dramatisch. Die Headline dient dazu, Aufmerksamkeit zu erzeugen, und das gelingt ihr. Dieselbe Methode wenden unsere Boulevardblätter täglich an. Langweilige Titel sind was für wissenschaftliche Fachmagazine, taugen aber Null für den brodelnden Misthaufen Internet.
Rezo hat – u.a. durch die geschickt gewählte Überschrift – aus dem Stand heraus (bisher lagen seine Schwerpunkte bei Musik & Comedy) den Nerv des Publikums getroffen. Sowohl die Klicks als auch Likes und Anzahl der Kommentare sprechen da eine deutliche Sprache. Der bis vor einer Woche vor allem in seiner Nische bekannte Influencer avancierte über Nacht zum nationalen Star, dem hunderte Beiträge in nahezu allen im Land erscheinenden Publikationen und Erwähnungen in den großen Nachrichtensendungen gewidmet wurden. Demnächst werden wir ihn sicher als Dauergast in vielen Talkshows zu sehen bekommen. Ein Paradebeispiel für die Durchschlagskraft viralen Marketings.
Zur völlig verunglückten Reaktion der CDU, die ihn erst totschweigen wollte, bevor eine bereits fertig produzierte Gegenrede ihres Jungstars Philipp Amthor gestoppt wurde, man das Feld Generalsekretär Paul Ziemiak überließ, der in mäßig lustiger Alter-Hase-Manier über den Youtuber lästerte, dann 7 Tweets raushaute, denen er ein 11(!)seitiges Papier der Erklärung folgen ließ, brauchen wir hier keine großen Worte zu verlieren. Darüber wurden mittlerweile dutzende Zeitungsartikel geschrieben. Einhelliger Tenor: Professionelle Krisen-PR geht anders. Die Union hat Jugenddenke, Jugendsprache und das Internet bis heute nicht richtig verstanden.
Die dritte Jugendwelle
Es braut sich nämlich was zusammen bei unserer Jugend. Und zwar, wenn ich korrekt mitgezählt habe, zum nunmehr dritten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik. Ging es 1967/ 68 vor allem um die Entrümpelung antiquierter Denkschablonen und gegen den Krieg in Vietnam, fand man sich in den 80ern zu Anti-AKW- und Kein-Nato-Doppelbeschluss-Demonstrationen zusammen; danach flaute die Begeisterung der jungen Leute für politische Kampagnen allerdings merklich ab, bis wir Alten über unsere nur noch ins Smartphone glotzenden Kinder resignierend den Kopf schüttelten, das Ende des mündigen Bürgers herbeiorakelten, der nun vom Homo consumens abgelöst wird. Und jetzt ist sie plötzlich wieder da – die Lust der Jugend an politischem Inhalt, politischer Diskussion und Auf-die-Straße-Gehen. Als die Massen mobilisierendes Thema wurde das Klima auserkoren. Kann man als alter Sack Scheiße finden, von drohender Ökodiktatur schwafeln, behaupten, dass sich das Klima auch ohne menschliches Zutun immer schon verändert hat oder den Wandel komplett leugnen und von Fake News labern. Ändert aber alles nichts an der Tatsache, dass sich die Wetterlagen (ist nicht dasselbe wie Klima. Weiß ich) in einigen Weltregionen dramatisch zum Schlechteren wenden, tausende (seriöse!) Wissenschaftler gebetsmühlenartig darauf hinweisen, dass der menschliche Anteil an dieser sich anbahnenden Katastrophe kein geringer ist, Tierarten in ungezählter Anzahl aussterben oder vom baldigen Aussterben bedroht sind; und trotzdem genießt dieses Megaproblem bei den handelnden Politikern nicht den Stellenwert, der ihm zukommen müsste. DAS ist Grund 1 für die wöchentlich stattfindenden Fridays-for-Future-Demonstrationen.
Grund Nummer 2 ist trivialer. Es geht um das Aufbegehren der Jugend gegen die Meinungsdiktatur der Alten. Wie hat mich das früher genervt, wenn mein Vater mir die Welt, die er zuvorderst aus der FAZ und dem Heute Journal kannte, erklären wollte. Aus Protest ließ ich mir die Haare schulterlang wachsen und legte zum Abendessen die Mao-Bibel neben meinen Teller. Weil mich die ständigen Ermahnungen, „du bist zu jung, um das zu verstehen“, „wenn du erstmal in unser Alter kommst, wirst du begreifen, worum es geht“, „das ist eine Sache für Experten und nichts für einen pubertierenden Zehntklässler“, „welcher Freund hat dich da bloß wieder indoktriniert?“, „fahrt doch rüber in die Ostzone und schaut euch an, was der Sozialismus aus einem Land macht“ ECHT nervten. Und nein, ich bin kein Kommunist geworden, weil ich bei Besuchen in der DDR schnell begriff, dass das sozialistische Wirtschaftsmodell deutlich weniger Wohlstand generierte als der Kapitalismus in der westdeutschen Variante. Aber – und das ist der Punkt – ich wollte das EIGENSTÄNDIG erfahren und entscheiden und NICHT von den Generationen meiner Eltern und Großeltern vorgekaut bekommen.
Paternalismus 3.0
Deshalb ist die paternalistische Reaktion, „macht erstmal Abitur und studiert was Anständiges“, „woher wollt ihr Grünschnäbel mehr übers Klima wissen als ich, der ich seit vierzig Jahren den Wetterbericht im ZDF anschaue?“, „viel geregnet hat es immer schon und heiße Sommer gab’s bereits vor dem Krieg. Wärt ihr alt genug, wüsstet ihr das“ mit Sicherheit die verkehrte Vorgehensweise, um in einen konstruktiven Dialog mit der Jugend einzutreten. Ich bin oft erstaunt, wie vielen Älteren die Fähigkeit abgeht, ruhig zuzuhören, das Anliegen ernst zu nehmen, auf Augenhöhe mit den jungen Menschen zu diskutieren, ohne nach fünf Minuten den besserwissenden Klugscheißer hervorzukehren, der sich in Allgemeinplätze „das Klima macht seit Millionen Jahren das, was es will. Dafür braucht es euch Weltenretter nicht“ und Desavouierung, „was habt ihr überhaupt studiert?“, flüchtet. Manchem Senior täte echt ein Grundkurs Psychologie für Dummies gut.
Das Anliegen der Youtuber ernst nehmen bedeutet übrigens nicht, dass man mit den Die-CDU-zerstört-uns/ sich-Vorwürfen zu 100 Prozent d’accord geht. Für meinen Geschmack kranken speziell die ökologischen Forderungen von Rezo & Co. daran, Klima auf eine Ebene mit Gott zu hieven. Einfacher Gedanke: Kein Klima -> kein Leben auf diesem Planeten. Kann man tun, greift aber mMn dennoch zu kurz. Völlig außer Acht gelassen werden bei dieser Simplifizierung nämlich diese zwei Aspekte: Ist ein DRASTISCHER Paradigmenwechsel – denn um einen solchen handelt es sich – den Menschen überhaupt vermittelbar? In der Konsequenz drohen zwangsläufig VIELE Einschränkungen liebgewonnener Konsumgewohnheiten. Da ist dann nichts mehr mit Fastfood, 4x Woche ein Steak in der Pfanne, jedes Familienmitglied besitzt einen eigenen PKW, Billigklamotten bei H+M, 20-Euro-Last-Minute-Flügen nach Mallorca, Latte Macchiato to go, alle zwölf Monate ein neues Smartphone etc. pp. Und – ebenfalls nicht ganz unwichtig beim Marsch in das neue ökologische Zeitalter –: Wie sehen die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt aus? Die freigesetzten Mitarbeiter von Ryan Air werden einen Tag später im E-ÖPNV-Wesen angestellt? Die arbeitslosen Rinder- & Schweinezüchter, Schlachter und Metzger finden schnelle Anschlussjobs in der Sojamilch- und Kieselerde-Industrie? Die ehemaligen Primark-Verkäuferinnen verteilen als Öko-Politessen Strafzettel an die letzten noch übriggebliebenen benzingetriebenen Dinosaurier-Kfz? Das sind alles nachgelagerte Problemkreise, meinen Sie? Zuerst MUSS das Klima gerettet werden, sonst erübrigen sich all diese Fragen aufgrund Aussterbens der Menschheit von selbst. Okay, okay, ich hör schon wieder auf mit meiner Erbsenzählerei.
Kritik an der Kritik ist legitim
Was aber klar werden sollte: allein den Politikern die Schuld für die Klimamisere in die Schuhe schieben zu wollen, ohne dabei sein eigenes Konsumverhalten kritisch zu hinterfragen, ist wohlfeil. Womit wir bei Kritikpunkt Nr. 2 angelangt sind: nicht wenige der in zweitem Video auftretenden Influencer verdienen ihr Geld damit, Luxusartikel zu promoten. Ich bin wahrlich niemand, der fordert, dass ein Prophet buchstabengetreu gemäß den Sätzen seiner Heilslehre leben muss. Aber die Diskrepanz darf auch nicht so groß werden, dass man unglaubwürdig rüberkommt. Was dicke Karren, Jetset-Reisen in die Emirate und teure Kosmetika mit umweltschonendem Verhalten zu tun haben, muss man mir erstmal langsam erklären. Weil so richtig begriffen habe ich das bisher nicht.
Und last but not least – bei aller Kritik an Union und SPD: Zum Boykott dieser beiden Parteien aufzurufen, hinterlässt bei mir einen schalen Nachgeschmack. Sie sind es gewesen, die die Bundesrepublik auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs gebaut, in die EU geführt, dort fest verankert und mittels ihrer Wirtschaftspolitik unseren aktuellen Wohlstand begründet haben. Deshalb muss heutzutage kein Mensch diese zwei Volksparteien (streng genommen ist ja bloß die Union noch eine) wählen oder übertriebene Dankbarkeit zeigen. Politik ist ein schnelllebiges Geschäft, was gestern war, interessiert an diesem Nachmittag niemanden mehr. Aber Union und Sozialdemokratie in die Ecke der Weltzerstörer rücken zu wollen, halte ich für MAßLOS übertrieben. Völlig egal, ob das Verb „zerstören“ im Youtube-Jargon eine mildere Bedeutung besitzt als in der Normalsprache. Speziell mit dem Aufruf in Clip Nr. 2 schießen die Influencer weit übers Ziel hinaus und schaden ihrem begründeten Anliegen mehr als zu nützen.
Um zum Ende des Textes zu kommen – denn genauso schlimm wie zu lange Analyse-Videos sind ausufernde Kolumnen – meine, völlig unverbindlichen, Tipps an die neuen Politbeeinflusser lauten:
▪ Am Ball bleiben. Es darf jetzt nicht wieder durchgängig business as usual (Musik, Gaming, Klamotten, Kosmetik) eintreten
▪ Das Klimathema voranbringen, ohne gleichzeitig verdiente Parteien bloßzustellen
▪ Darauf achten, dass Botschaft und Akteure halbwegs zusammenpassen. Lamborghinis und Flüge kreuz und quer über den Globus kriegt man beim besten Willen nicht in das Label „Umwelt & Nachhaltigkeit“ verpackt. Das mag einmal funktionieren, spätestens bei der dritten Wiederholung werden sich die Likes zu Dislikes und die bisher positiven zu negativen Kommentaren wandeln
▪ Kritik an den Kritikern ist legitim. Die Influencer sind – im Gegensatz zu den FfF-Schülern – Profis, die mit Gegenwind rechnen und den aushalten müssen.
Wir sollten jedoch alle, völlig egal, ob wir Rezos Meinung(en) teilen oder es nicht tun, dem Youtuber dankbar dafür sein, dass er den leicht angestaubten Kommunikationsabteilungen von CDU und SPD gezeigt hat, wie erfolgreiche virale PR geht.