Opferrolle rückwärts
Der Bundestag hat erneut eine Kandidatin der AfD für den Posten des Bundestagsvizepräsidenten abgelehnt. Nimmt dadurch die Demokratie schaden?
Bild von Patrick Neufelder auf Pixabay
Nun also sollte es Mariana Harder-Kühnel werden. Eine eher gemäßigte Volljuristin aus den Reihen der AfD. Bundestagsvizepräsidentin. Aber wie bereits bei den vorherigen Abstimmungen erhielt auch diese Kandidaten keine Mehrheit.
Es gibt Stimmen, die meinen, das sei eine Niederlage für die Demokratie. Zur Begründung wird angeführt, dass nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages jede Fraktion das Recht auf einen Vizepräsidenten hat.
§ 2 Wahl des Präsidenten und der Stellvertreter
(1) Der Bundestag wählt mit verdeckten Stimmzetteln (§ 49) in besonderen Wahlhandlungen den Präsidenten und seine Stellvertreter für die Dauer der Wahlperiode. Jede Fraktion des Deutschen Bundestages ist durch mindestens einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin im Präsidium vertreten.
Nun ist es aber nicht so, dass jede Fraktion da irgendeinen Harry hin abordnen kann, der dann Vizepräsident wäre. Nein. Der- oder diejenige muss halt erst mal gewählt werden.
(2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages erhält. Ergibt sich im ersten Wahlgang keine Mehrheit, so können für einen zweiten Wahlgang neue Bewerber vorgeschlagen werden. Ergibt sich auch dann keine Mehrheit der Stimmen der Mitglieder des Bundestages, findet ein dritter Wahlgang statt. Bei nur einem Bewerber ist dieser gewählt, wenn er die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt. Bei mehreren Bewerbern kommen die beiden Bewerber mit den höchsten Stimmenzahlen in die engere Wahl; gewählt ist, wer die meisten Stimmen auf sich vereinigt. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los durch die Hand des amtierenden Präsidenten.
Tja. Und da liegt das Problem der AfD. Ohne Mehrheit keinen Vize. Ja, aber da steht doch, dass jede Fraktion durch mindestens eine/n Vize vertreten ist? Ja das steht da. Aber wenn er nicht gewählt wird, ist er halt kein Vize.
Keine Pflicht
Kein Abgeordneter ist verpflichtet, einen Kandidaten einer anderen oder auch der eigenen Fraktion zum Bundestagsvizepräsidenten zu wählen.
Das ergibt sich eindeutig aus Art. 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG).
Art. 38
(1) 1Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. 2Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
(2) Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.
(3) Das Nähere bestimmt ein Bundesgesetz.
Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Das heißt, sie unterliegen weder einem Fraktionszwang, noch hat ihnen irgendjemand anders Vorschriften zu machen. Auch wenn das durch eine parteiinterne „Fraktionsdisziplin“ häufig so wirkt, es gibt keinen Fraktionszwang.
Gewissen
Die Abgeordneten sind lediglich ihrem Gewissen unterworfen. Nun mag mancher meinen, wer es bis in den Bundestag schafft müsse ohnehin gewissenlos sein, aber das weiß man ja nicht so genau. Irgendein Gewissen hat wohl jeder.
Was unter einer Gewissensentscheidung zu verstehen ist, hat das BVerfG wie folgt definiert:
„Gewissensentscheidung“ im Sinne des Art. 4 Abs. 3 GG ist jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte.
Das klingt nun sehr gewichtig, aber da niemand weiß, wie das Gewissen eines anderen ausgebildet ist, lässt sich letztlich überhaupt nicht feststellen, ob eine Entscheidung tatsächlich auch eine Gewissensentscheidung ist. An Gut und Böse orientiert, bedeutet ja nicht, dass die Entscheidung selbst gut sein muss. Was sollen Abgeordnete ohne Gewissen tun? Man könnte sich den Zusatz „und nur ihrem Gewissen unterworfen“ auch einfach schenken. Er hilft kein bisschen weiter, denn die Entscheidung ist weder überprüfbar noch zu verändern.
Letztlich bedeutet Art. 38 Absatz 1 Satz 2 GG nichts anderes als, wer einmal gewählt ist, kann sich bezüglich seines Mandates und seines Abstimmungverhalten so verhalten, wie es ihm gefällt. Die einzige Sanktion hat der Wähler nbei der nächsten Wahl zur Hand.
Wenn man einmal etwas intensiver über das freie Mandat nachdenkt, erkennt man, dass diese Regelung auch richtig ist.
Keine Parteisklaven
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind Vertreter des ganzen Volkes. Jeder einzelne Abgeordnete. Das sind keine Parteisklaven oder Stimmvieh für eine Parteiführung und auch nicht Abhängige der Geschäftsordnung. Sie sind auch keine weisungsgebundenen Vertreter ihrer Wähler. Sie müssen ihre Wähler nicht danach fragen, wie sie abstimmen sollen. Das wäre dann nämlich dann ein imperatives Mandant, bei dem der Abgeordnete lediglich das Sprachrohr seiner Wähler wäre. So etwas gab es mal in den Ständeversammlungen des Mittelalters und bis ins 19. Jahrhundert. Ein solches gebundenes Mandat führt aber dazu, dass die Abgeordneten in ihrem Handeln von der Basis abhängig sind, was dazu führen würde, dass sie nur noch leere Hüllen ohne eigene Entscheidungsbefugnis wären.
So ist es aber gerade nicht. Das BVerfG hat das sehr deutlich gesagt:
Diese Vorschrift gewährleistet für jeden der nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewählten Abgeordneten sowohl die Freiheit in der Ausübung seines Mandats als auch die Gleichheit im Status der Vertreter des ganzen Volkes (vgl. BVerfGE 102, 224 <237 f.>; 112, 118 <134>). So setzt sich insbesondere die Gleichheit der Wahl in der gleichen Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten fort und hält damit auch in den Verzweigungen staatlich-repräsentativer Willensbildungsprozesse die demokratische Quelle offen, die aus der ursprünglichen, im Wahlakt liegenden Willensbetätigung jedes einzelnen Bürgers fließt (vgl. BVerfGE 112, 118 <134>).
Das freie Mandat ist damit am Ende auch Ausdruck des freien einzelnen Bürgers. Die Demokratie nimmt gerade keinen Schaden, wenn die Mehrheit des Bundestages sich weigert, einen Kandidaten zu ihrem Repräsentanten zu wählen, der aus einer Partei kommt, der der Muff des Völkischen aus allen Poren wabert, einer Partei die immer wieder die Delegitimierung der demokratisch gewählten Regierung betreibt, indem ihre Repräsentanten von „Kanzler-Diktatorin“ (so Gauland bereits 2016) sprechen und einer Partei, in der ein Höcke sagt „“Diese Regierung ist keine Regierung mehr, diese Regierung ist zu einem Regime mutiert!“ Wäre ich Angeordneter, ich könnte auch nicht jemanden aus dieser Partei, deren Vorsitzender die NS-Zeit als Vogelschiss verharmlost, als Vizepräsidenten mit meinem Gewissen vereinbaren.
Nun suhlt sich die AfD natürlich wieder in der neuen Opferrolle. Das sei ihr gegönnt. Möge sie Opfer sein, bis sie sich auflöst. Dabei übersieht sie allerdings, dass es nicht das erste Mal ist, dass eine Fraktion nicht auf Anhieb einen Bundestagsvizepräsidenten durchbekommen hat. Bei den Grünen dauerte das ganze 11 Jahre und auch Die Linke brauchte einige Anläufe. Nicht mal das ist also etwas, wo die AfD Erster wäre. Es ist also sogar durchaus möglich, dass die AfD auf längere Sicht keinen Kandidaten durchbringt und womöglich im Rahmen ihres Verbleibs im Bundestag niemals einen Vizepräsidenten stellen wird. Statt nun über das undemokratische Verhalten der anderen Abgeordneten zu maulen, könnte sie ja eventuell mal darüber nachdenken, ob das nicht auch etwas mit ihrem zum Teil unerträglichen Verhalten zu Tun haben könnte. Mit rechtlichen Möglichkeiten kann sie jedenfalls einen solchen Posten nicht erzwingen. Und, ganz ehrlich, das finde ich gut.