Es lebe das Dschungelcamp
Unser Kolumnist Henning Hirsch besucht künftig nach eigenen Angaben „lieber ein Sexkino, wo richtiger Porno angeboten wird“, als noch einmal das Dschungelcamp zu schauen. Das sieht Kolumnist Heinrich Schmitz ganz anders.
In seiner regulären Montagskolumne schildert Henning einen Abend mit Coq au vin und dem Dschungelcamp. Das Essen überschlage ich mal.
Seit der ersten Folge im Jahr 2004, also vor 15 Jahren hat Henning das nicht mehr gesehen, wie er freimütig berichtet. Seit dem findet er die Sendung so schrecklich, dass er sie nie mehr sehen wollte und hatte damals geschworen sich
diese nach (vor?) Big Brother schlimmste aller TV-Müllproduktionen definitiv NIE mehr reinzuziehen“.
Das ist natürlich die beste Voraussetzung eine Fernsehsendung unvoreingenommen zu betrachten. Das ist ein Expertentum, wie es sonst nur Focus-Experten hinbekommen. Kann man machen, sagt dann aber einiges über die Expertise. „Was geht los da rein?“
Das Dschungelcamp ist im Laufe der Jahre zu einer Kultsendung geworden, die – Achtung Henning – eine 30%-Akademikerquote unter den durchschnittlich aktuell rund 5 Millionen Zuschauern hat. Außerdem erreicht sie in der werberelevanten Zielgruppe bis 49 Jahre trotz sanft sinkender Quoten immer noch um die 40% Marktanteil. RTL produziert seine teuerste Eigenproduktion ja nicht zum Spaß. Und während in der Anfangsphase eher weniger für bekannte Markenprodukte geworben wurde und Vagisan eine flutschige Symbiose mit dem Camp eingegangen war, weiß die Werbebranche heute zu schätzen was das Camp zu bieten hat. Und das ist mehr als Henning gesehen hat.
Im Gegensatz zu Henning, dem Zweimal-in-fünfzehn-Jahren-Gucker, bin ich ein regelmäßiger Zuschauer dieser Kultsendung. Okay, ich gebe zu, ganz alleine würde ich mir die Sendung vermutlich auch nicht immer wieder ansehen, aber in der Runde einer bereits seit Jahren legendären Facebookgruppe – bei der Akademiker- und Künstleranteil noch höher ist – kann man das Camp sehr wohl genießen.
Der Reiz
Wer nur eine Folge ansieht, hat es allerdings in der Tat schwer, den wahren Reiz des Formats zu erkennen. Der kann maximal ein paar – je nach Alter – unbekannte Realitiyformatfiguren bei albernen, aber häufig ekligen Spielchen beobachten. Was ihm aber entgeht, ist die faszinierende Entwicklung dieser Menschen über einen nur gut vierzehntägigen Aufenthalt im Camp. Klar sieht es da aus wie im Terrarium von Hennings Nachbarn. Das Camp behauptet ja auch nicht ein Survival-Camp im originären Sinne zu sein, bei denen den Teilnehmern ein echtes Todesrisiko zugemutet wird. Aber trotzdem ist die Teilnahme eine Herausforderung. Neben einer eher spärlichen Regelernährung mit Reis und Bohnen – auch Modeldiät genannt -, sind die Teilnehmer darauf angewiesen, sich ihr Essen durch die sogenannten Dschungelprüfungen zu verdienen. Und weil das ebenfalls am Spiel beteiligte Publikum gerne diejenigen Kandidaten in die Dschungelprüfung wählt, die möglichst viel Gekreische und wenig fraß-bringende Sterne verspricht, nehmen die Kandidaten regelmäßig mehrere Kilo ab.
Das Gruppenverhalten, sowie die Entwicklung der einzelnen Charaktere unter dieser Belastung aus Diät, Hitze und Langeweile, ist jedes Jahr erstaunlich. Da mutiert der distinguierte ältere Herr nach einigen Tagen zum sabbernden Lustgreis, der ohne Not über seine sexuellen Eskapaden aus erektil besseren Zeiten berichtet, da schafft der große Motivator und muskelbepackte Selfmadhero seine eher leichte Prüfung nicht.
Dass Henning den in „seiner“ Folge auftretenden legendären Thorsten Legat für einen „extra aus Deutschland eingeflogenen Motivationscoach“ hält, ist für einen Fußballfan – oder ist Henning gar kein Fußballfan, dann nehme ich alles zurück – eher peinlich. Und dass dieser Legat mittlerweile seit seiner eigenen Campteilnahme mit dem Schlachtruf „Kasalla“ selbst zur Kultfigur, ähnlich wie der seinem Schöpfer als Vorbild dienende Meister Propper oder Popeye, geworden ist, weiß natürlich ein Einmalgucker auch nicht.
Kasalla-Voodoo
Macht ja nichts. Die treuen Zuschauer wissen da mehr und aus diesem an sich nutzlosen Wissen ergibt sich ein zusätzliches Vergnügen daraus, dass die bis zu diesem Zeitpunkt mehr als zimperliches Pipimädchen auftretende Giselle, die wie ein Springpferd auf Dope nahezu jedes Hindernis verweigerte und ansonsten nur herumschrie, dass man der Fernseher leiser stellen musste, nach diesem Kasalla-Voodoo plötzlich ohne mit der Wimper zu zucken ihre Dschungelprüfung absolvierte, was ihr nach dem Coaching – heute ist ja jeder Coach – des campinternen Motivationspapstes Yotta nicht gelang. Yotta wiederum macht sich mit einem von Hal Elrod geklauten morgendlichen Ringelrein mit Sprüchen Namens „Miracle Morning“ wichtig, wahlweise lächerlich.
Wer nur Folge 8 guckt, kennt natürlich weder Domenico und sein mutmaßliches Haarteil, noch kann er ahnen, dass der Mann vom Publikum abgeschossen wurde, weil bestimmte Dinge gemacht hat, die ein Mann besser nicht machen sollte.
Eine Serie nach einer Folge zwischendrin zu beurteilen, ist ungefähr so sinnvoll, wie in einen Tatort nach 70 Minuten für fünf Minuten hineinzusehen, um dann festzustellen, dass man gar nichts versteht. Kann man machen, ist aber nicht besonders sinnvoll, es sei denn, man möchte nur seine basislosen Vorurteile bestätigt haben.
Trash aber fair
Das Dschungelcamp ist keineswegs die menschenverachtende schlimmste aller TV-Müllproduktionen, wie Henning meint. Menschenverachtend, unfair und wirklich widerlich sind eher Sendungen wie „Schwiegertochter gesucht“, in denen eine feiste Domina Namens Vera bedauernswerte, zum Teil grenzdebile, unbekannte Menschen als Teilnehmer in einer Art und Weise lächerlich macht und vorführt, wie es auf Völkerschauen zwischen 1870 und 1940 üblich war. Beim Dschungelcamp wissen die Teilnehmer spätestens seit der ersten Staffel, was auf sie zukommt. The Regels sind the Regels. Sie wissen, dass sie während des Spektakels heftig verarscht werden, sie wissen das die Teilnahme eine Auffrischung oder der Beginn einer Medienkarriere sein kann. Sie spielen eine gut bezahlte Rolle und sie haben alle mehr oder weniger TV-Erfahrung. Die Ekelprüfungen sind harmloser als es auf den ersten Blick aussieht und lassen sich in der Vorbereitung mit einem Psychologen ganz gut trainieren. Notfalls tuts auch ein Legat. Dieses Format geht fair mit seinen Protagonisten um und macht ihnen nichts vor. Die lassen sich halt zwei Wochen auf das Spiel ein und haben was davon.
Das ganze Projekt läuft auf mehreren Ebenen ab.
Da sind zum einen die Teilnehmer im Camp, die sich einem gruppendynamischen Ausnahmezustand aussetzen und dabei zum Teil an ihre Grenzen geraten. Da kostet manches Überwindung und als Zuschauer fragt man sich, ob man die Eier zu der ein oder anderen Aufgabe hätte. Gescriptet sind deren Dialoge nicht, wie ich aus sicherer Quelle weiß. Aber mancher Teilnehmer schaftt Zitate für die Ewigkeit. „Der Klügere lässt nach“ wäre nach eigenem Eingeständnis nicht mal Micky Beisenherz eingefallen und „Good Morning in the morning“ gilt schon als korrekter Frühstücksgruß.
Da sind die Moderatoren, Sonja Zietlow und Daniel Hartwich, die ausgestattet mit den spitzen Kommentaren der genialen Gagschreiber Jens Oliver Haas und Micky Beisenherz sozusagen den künstlerisch- literarischen Teil der Comedy begleiten – was dem Format sogar schon einmal eine Aufsehen erregende Nominierung für der Grimme-Preis eingebracht hat.
Und da ist das Publikum, das mit seinen Telefonanrufen unmittelbaren Einfluss auf das Geschehen nimmt. Das Volk sozusagen. Letzteres ist ein gutes Beispiel dafür, dass man Volksabstimmungen tunlichst lassen sollte, hat das Publikum in jeder ersten Woche, in der es bestimmt, wer in die Dschungelprüfung geht, doch stets seine sadistische Ader ausgelebt. Wenn dann am Ende der Dschungelkönig oder die Dschungelkönigin gewählt wird, hat es bisher aber noch immer die Richtigen getroffen, nämlich die, die in diesen beiden Wochen am echtesten waren. Fassade wird bestraft, Authentizität belohnt.
Wer, wie Henning auf dieses Spektakel verzichten möchte und stattdessen meint, bei einem Porno in einem Sexkino sei er besser aufgehoben, hat womöglich eine falsche Erwartung. Dass es tatsächlich eine „Wechselbeziehung solcher Sendeformate und der galoppierenden Verblödung weiter Teile der Bevölkerung“ geben soll, weiß ich nicht. Ich kann nicht einmal eine Quelle dafür finden, dass weite Teile der Bevölkerung immer mehr verblöden. Aber wer weiß, vielleicht hat Henning das sich ja auch nur ausgedacht bzw. es ist sein subjektiver Eindruck. In unserer Dschungelgruppe ist jedenfalls in den letzten 15 Jahren bisher niemand verblödet, womöglich weil wir lieber das Camp schauen, als in Sexkinos zu gehen.