Der Rechtsstaat nach BILD
Das Recht auf einen Pflichtverteidiger soll ausgeweitet werden. BILD sieht darin einen Angriff auf den Rechtsstaat.
Das Recht der notwendigen Verteidigung ist in Deutschland unterentwickelt. Trotz einiger Verbesserungen entspricht es noch nicht den Standards der europäischen Richtlinie 2016/1919/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 09. März 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls.
Bis zum 25. Mai 2019 muss diese Richtlinie in nationales Recht umgesetzt werden. Diesem Zweck dient der Referentenentwurf aus dem Hause Barley, den nun die BILD unter Berufung auf Kritik der Länderjustizminister vorbeugend schon einmal unter Beschuss nimmt.
Worum geht es?
Das deutsche Recht entspricht den Vorgaben der PKH-Richtlinie noch nicht in vollem Umfang. Um nun kein Flickwerk zu fabrizieren, sieht der Entwurf eine Regelung aus einem Guss vor.
Es geht vor allem darum, diesen
bisher nur punktuell geregelte und in erheblichen Teilen von Richterrecht geprägten Bereich möglichst umfassend zu normieren und dabei systematisch klarer zu strukturieren, um die Verständlichkeit und Handhabbarkeit zu verbessern. Demselben Ziel dient auch die Erweiterung des Katalogs der Fälle notwendiger Verteidigung um bestimmte Fälle, die derzeit lediglich von der Auffangregelung in § 140 Absatz 2 StPO erfasst werden.“
Dazu wird an drei Stellen nachgebessert:
Erstens soll ein Fall der notwendiger Verteidigung nicht mehr erst mit der Vollstreckung von Untersuchungshaft oder vorläufiger Unterbringung, sondern bereits mit der Vorführung vor einen Richter vorliegen. Zum Zweiten sollen die zeitlichen Beschränkungen des geltenden Rechts in sonstigen Fällen des Freiheitsentzugs komplett entfallen und Drittens soll, um den Vorgaben der PKH-Richtlinie zur Berücksichtigung der Schwere der zu erwartenden Strafe auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR gerecht zu werden, ein Fall notwendiger Verteidigung allgemein ab einer Straferwartung von mindestens sechs Monaten Freiheitsstrafe gegeben sein.
Vor der Befragung
Die Entscheidung über die Beiordnung eines Pflichtverteidigers soll künftig regelmäßig vor einer Befragung durch die Polizei, eine andere Strafverfolgungsbehörde oder eine Justizbehörde oder vor der Durchführung einer Gegenüberstellung mit dem Beschuldigten erfolgen. Hierzu soll eine neue Eilentscheidungsbefugnis der Staatsanwaltschaft geschaffen werden. Außerdem wird dem Beschuldigten aufgrund der Richtlinienvorgaben ein Antragsrecht eingeräumt, über das er zu belehren ist.
Geht ja gar nicht, meint ein anonymer „Ermittler“ den die BILD dazu befragt hat.
„Ein Irrsinn“ urteilt ein Ermittler gegenüber BILD. Und weiter: „Das wird unsere Arbeit erschweren, weil Spontan-Geständnisse, die oft kurz nach der Tat erfolgen, wegfallen.“
Wer dieser Ermittler ist und welches sonstige Rechtsstaatsverständnis er so vertritt, lässt die BILD im Dunkeln.
Das Blatt, das die Unschuldsvermutung nahezu täglich mit Füßen tritt, scheint aber voll auf der Linie desjenigen zu sein, der seinen Namen weder tanzen noch in der BILD genannt sehen will. Wendt kann es also nicht sein, der vertritt seinen Unfug immer mit offenem Visier.
BILD kennt wiedermal den „glasklaren Fall“.
▶ Das bedeutet: Selbst bei glasklaren Vergehen wie Räuberischem Diebstahl, Kirmesschlägereien mit fliegenden Bierkrügen und gewerbsmäßigem Drogenhandel darf jeder Verdächtige (den ein Strafmaß von mehr als einem Jahr erwartet) nicht wie bisher erst im Prozess (oder in der U-Haft) einen Pflichtverteidiger verlangen, sondern schon bei der ersten Vor-Ort-Vernehmung.
Naja. Hätte BILD den Referentenentwurf spaßeshalber mal gelesen, dann wüsste sie, dass bereits eine Straferwartung von 6 Monaten künftig reichen wird – wie bisher bereits im Bereich des Jugendstrafrechts.
Aber das ist es ja nicht, was BILD fuchst. Es ärgert sie offenbar, dass ein Tatverdächtiger nun von Beginn des Verfahrens an einen Anwalt erhalten soll und nicht erst nachdem die Ermittler ihn durch die Vernehmungsmangel gedreht haben. Geht ja gar nicht. Wenn der seinen Job richtig gut macht, mahnt der auch noch die BILD wegen einer unzulässigen Vorverurteilung ab und was soll der Mob dann machen?
Zwar ist auch jetzt schon bei jeder Beschuldigtenvernehmung darauf hinzuweisen, dass der Beschuldigte schweigen und einen Verteidiger zu der Vernehmung hinzuziehen darf, aber das hat bisher nicht all zu viel genützt, wenn der Betroffene sich einen Verteidiger nicht leisten kann.
Die Prozesskostenhilfe sorgt dafür, dass Menschen mit niedrigem oder gar keinem Einkommen in Strafverfahren nicht auf ihren Anwalts- und Verfahrenskosten sitzen bleiben. Sie werden dann ganz oder teilweise vom Staat getragen.
Ja, das ist so und das ist auch gut so.
Da wird nun völlig zu Recht Abhilfe geschaffen, denn es kann doch auch nicht im Sinne der BILD sein, wenn ihre armen Leser ohne Verteidiger bleiben, während diejenigen, über die sie im Promiteil berichten, sich die teuersten Verteidiger des Landes leisten können, wenn sie eines Verbrechens verdächtigt werden.
Das glasklare Vergehen ist selten so glasklar, wie BILD-Redakteure das meinen und dass es eine glasklare Kirmesschlägerei gegeben haben soll, bei der die jeweiligen Tatbeiträge aller einzelnen Teilnehmer wirklich nachvollziehbar gewesen wären, habe ich bisher noch nie erlebt. Viele Beteiligte, reichlich Alkohol und diverse Blickwinkel lassen da den klaren Blick meistens trüben.
Und glaubt jemand, in einem wirklich glasklaren Fall würde ein Verteidiger, der seine Sinne beisammen hat, dem Verdächtigen von einem Geständnis abraten, weiß er doch um dessen strafmildernde Wirkung?
Dass die Länderjustizminister noch Klärungsbedarf haben, ist nichts Ungewöhnliches. Bisher liegt ja auch nur der Referentenentwurf vor. Aber dass das Recht der Pflichtverteidigung – einschließlich der Praxis der Beiordnung der Pflichtverteidiger ausgerechnet durch die Gerichte -erheblichen Änderungsbedarf aufzeigt, kann jeder Strafverteidiger bestätigen.
Überhaupt scheint die BILD hier einem unguten Trend gegen das Recht auf effektive Verteidigung zu folgen, wie ihn sowohl der Vorsitzende des deutschen Richterbundes als auch der Vorsitzende der DPolG vertreten. Strafverteidiger sind für diese Rechtsstaatler lästige Störenfriede, die den ansonsten glatten Lauf der Gerechtigkeit mit lästigen Fragen oder störenden Anträgen oder gar Rechtsmitteln behindern. Soll man doch einfach BILD fragen, wer schuldig ist und wer nicht. Das reicht doch.
Tatsächlich wird die Umsetzung des Referentenentwurfs zu weniger Fehlentscheidungen führen, weil die Verfahren von Beginn an von einem Verteidiger oder einer Verteidigerin begleitet werden. Das wäre positiv und nicht etwa negativ.
Dass Geständnisse, die unmittelbar nach der Tat von den Ermittlern „entgegengenommen“ werden – einem unschuldigen Mandanten, der starker Raucher war, bot man einmal nach Stunden in der Polizeizelle eine Schachtel Zigaretten an, wenn er denn endlich „sein Gewissen erleichtere“ – widerrufen werden können, müsste der von BILD befragte Ermittler eigentlich auch wissen.
Mit der frühzeitigen Beteiligung eines fähigen Pflichtverteidigers, der sich eben nicht nur als Geständnisbegleiter – ebenso wenig wie als grundsätzlicher Geständnisverhinderer – versteht, werden gerade die häufig am Rande der Legalität wandelnden Erstvernehmungen von Verdächtigen, verwertbarer werden, weil Zweifel an der korrekten Belehrung oder unzulässige Fragen gleich im Keim erstickt werden.
Mag auch sein, dass die BILD dadurch als Nebeneffekt weniger Informationen von ihren Quellen aus dem Umfeld der Polizei bekommt. Aber das dürfte die Republik locker verschmerzen.
Bleiben steigende Ausgaben für die Verteidigung. Die lassen sich nicht wegreden. Aber die sind auch verhältnismäßig niedrig. Gerade die Etats der Justizminister sollten schon seit Jahren erheblich aufgestockt werden, um eine vernünftig funktionierende Justiz zu gewährleisten. Und wenn Verfahren durch ein gutes Verteidigerhandeln gar nicht erst zur Anklage kommen, spart das ja auch Geld. Es ist überhaupt eines Rechtsstaats unwürdig, bei der Frage nach Schuld oder Unschuld auf das Geld zu schauen. Rechtsstaat gibt es nicht zum Nulltarif und der Umgang zum Recht muss für jeden Bürger unabhängig von seinem Geldbeutel gewährleistet sein. Wie der Kölner sagt, et koss watt et koss.
Wenn wie BILD schreibt, dass die Länder „negative Auswirkungen“ auf die Ermittlungsverfahren erwarten, dann frage ich mich erstens, welche Länder haben sich wie geäußert und zweitens, wieso soll ein Verteidiger sich negativ auf ein Ermittlungsverfahren auswirken? Ist es den Ländern lieber, wenn Fehler in den Ermittlungen, die ohne den Verteidiger gar nicht auffielen oder falsche Geständnisse, die dem Verdächtigen im Suff entlockt werden, zur Verurteilung von Unschuldigen führen? Das mag ich nicht glauben.