Warum mich der „Fall Relotius” so wütend macht

Für das Desaster beim SPIEGEL ist nicht der Hochstapler allein verantwortlich, auch seine Vorgesetzten sind es. Gastbeitrag von Julia Karnick


Ich bin wahnsinnig wütend über den „Fall Claas Relotius”, wie er von vielen genannt wird. Verharmlosend, wie ich finde.

Alles, was ich bisher dazu gelesen habe, hinterlässt bei mir den Eindruck: Ich habe das Arbeitsethos, den Qualitäts-Anspruch, die Gründlichkeit des SPIEGEL und wohl auch anderer Leitmedien heillos überschätzt.

Bis Mittwoch hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass man in Redaktionen wie dem SPIEGEL Jahre lang damit durchkommen könnte, sich Geschichten einfach auszudenken, ohne dass die Verantwortlichen es bemerken. Dass Interviews einfach gedruckt werden, ohne Tonbandaufnahmen zu fordern oder eine Autorisierung.

WO WAR DIE DOK?

Erstens, weil es doch diese legendäre SPIEGEL-Dokumentation gibt, die angeblich Wort für Wort prüft, ob das, was in SPIEGEL-Texten gesagt wird, auch (die Wahrheit) ist.

Zweitens: Selbst in Redaktionen, die über keine derartige „DOK“ verfügen, erscheint mir diese Art von Betrug über einen so langen Zeitraum geradezu als Ding der Unmöglichkeit. Zumindest dann, wenn es dort noch irgendein Redaktionsmitglied gibt, das sich ernsthaft dafür verantwortlich fühlt, Texte kritisch gegenzulesen – nämlich mit dem Willen, aus welchen Gründen auch immer in den Text geratene Fehler zu finden und auszumerzen.

Denn das Erfinden von Geschichten mag im digitalen Zeitalter leichter sein als im analogen, weil man im Netz alle Infos findet, die man braucht, um glaubwürdige Phantasiewelten zu erschaffen.

Zugleich müsste es im digitalen Zeitalter aber auch deutlich schwieriger sein als früher, mit solchen Phantasiewelten in Redaktionen durchzukommen und das auch noch dauerhaft.

GOOGLEN IST SO EINFACH

Es braucht – das weiß jeder Fünftklässler heutzutage – nur wenige Augenblicke, Namen, Positionen, Lebensläufe und alle möglichen anderen Infos zu googeln. Es gibt die Bildersuche. Orte lassen sich per Google Maps besichtigen. Und wenn es zum Beispiel zu einer angeblich in Deutschland lebenden Person keinen einzigen Eintrag gibt, dann ist das heutzutage so ungewöhnlich, dass man sich erst mal wundern sollte. Nicht zuletzt ist die Kommunikation mit Menschen und Institutionen viel schneller und einfacher geworden.

Wenn aber die Texte von Claas Relotius nicht ansatzweise so gründlich geprüft wurden, wie ich es von einer Redaktion mit dem Anspruch des SPIEGEL felsenfest erwartet hätte: Welchen Grund habe ich zu glauben, dass diese notorische Nachlässigkeit nicht auch bei Texten von anderen Autoren und Autorinnen möglich oder gar verbreitet ist?

Der Glaubwürdigkeitsschaden für den SPIEGEL und andere betroffene Redaktionen und damit für unsere ganze Gesellschaft ist nicht groß. Er ist gigantisch.

Zumal erste Stimmen von jungen Kolleginnen öffentlich werden, die behaupten: Es sei nicht unüblich in der Branche, dass Chefs von jungen Autorinnen und Autoren erwarten, Geschichten zu frisieren, um ihnen die aus ihrer Sicht nötige Rasanz zu verschaffen.

DER HOCHSTAPLER IST

NICHT DER EINZIGE VERANTWORTLICHE

Als Leserin und als Kollegin nehme ich die Relotius-Affäre nicht als bedauernswerten Einzelfall wahr, sondern als Symptom eines redaktionellen Systemfehlers, als Auswuchs eines strukturellen Versagens, an dem Viele beteiligt waren.

Es reicht deshalb meiner Meinung nicht, den Hochstapler zum alleinigen Hauptverantwortlichen zu machen – und ansonsten nur „noch mal genau hinzugucken, was wir da genau machen”, wie Ullrich Fichtner im Deutschlandfunk (DLF) angekündigt hat: Das hatte ich, wie gesagt, für selbstverständlich gehalten, dass der SPIEGEL ganz genau hinguckt, was genau er da täglich so macht. Und die „Schlupflöcher”, nach denenen zu suchen Fichtner angekündigt hat, die waren offenbar keine Löcher, sondern hatten eher das Ausmaß von Scheunentoren.

Verantwortlich für all das sind beim SPIEGEL mindestens auch die, unter deren Führung Claas Rotius mit seinen vielfach ausgedachten Texte kometenhaft Karriere machen konnte: Ullrich Fichtner und Matthias Geyer. Beide sollen zum 1. Januar 2019 in die Chefredaktion aufsteigen.

Ullrich Fichtner war bis Frühjahr 2016 Leiter des Spiegel-Gesellschaftsressorts und hat in dieser Funktion, wie er selbst in dem DLF-Interview sagte, Claas Relotius als Autor entdeckt und als festfreien Mitarbeiter zum SPIEGEL geholt: „Ich habe ihn damals beim Reporterpreis bei einer Preisverleihung kennengelernt und als Talent auch sofort bemerkt und mit ihm gesprochen und ihn dann auch als freien Mitarbeiter zum ‚Spiegel‘ geholt. Also insofern gibt es eine persönliche Verbindung.”

Falsch, es gibt eine persönliche Verantwortung.

Matthias Geyer, der das Ressort Gesellschaft – früher mit Fichtner zusammen und nach dessen Weggang alleine – leitete, hat Relotius fest angestellt. Auch er soll ab 2019 als „Blattmacher“ auf der Chefredaktions-Stellvertreterebene zum Top-Führungszirkel des SPIEGEL gehören.

Statt sich als Opfer eines irren Einzeltäters darzustellen und ab 2019 in die Chefredaktion aufzusteigen, müssten meiner Meinung nach beide, Fichtner und Geyer, ihren Hut nehmen, um den Schaden für den Ruf des Magazins und der ganzen Branche zu begrenzen.

Ist das nicht auch das, was in den Medien immer von Politikern gefordert wird, in deren Verantwortungsbereich etwas vergleichbar Skandalöses geschieht?

Juan Moreno, jener Kollege, der Relotius enttarnt hat, ist übrigens kein SPIEGEL-Redakteur. Es ist also nicht ganz richtig, wenn die Redaktion nun so tut, als sei die Aufdeckung durch einen der ihren geschehen: „Ich bin Pauschalist mit einem Vertrag, der jedes Jahr automatisch ausläuft.“, so Moreno in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

VERPASSTE SIEGE UND CHANCEN

Was, wie ich finde, auch thematisiert werden muss: Claas Relotius hat mit seinen Texten Journalisten-Preise en masse abgeräumt, unter anderem vier Mal den sehr renommierten Deutschen Reporterpreis. Ich kenne junge Kollegen, die nur knapp gegen ihn verloren haben – womöglich gerade deshalb, weil sie integre Journalisten sind und mit der Konsequenz, dass ihre eigene Karriere nicht so sensationell verlief wie die von Relotius.

Auch dafür, für die verpassten Siege und Chancen dieser jungen Kolleginnen und Kollegen, sind diejenigen verantwortlich, die im deutschen Qualitätsjournalismus das Sagen haben und dabei einem Betrüger auf den Leim gegangen sind: Wie werden sie diesen Schaden wiedergutmachen?

Julia Karnick

Julia Karnick arbeitet seit über zwanzig Jahren als Print-Journalistin und Autorin. Sie war acht Jahre lang Kolumnistin der Zeitschrift BRIGITTE, schrieb dann vier Jahre lang die Kolumne in der BRIGITTE WOMAN und hat außerdem ein lustigen Bestseller über den Bau ihres Hauses veröffentlicht. Wenn es um die Zustände in ihrer Branche geht, verliert sie ihren Humor allerdings immer öfter.

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