Späte Gerechtigkeit? KZ-Wächter vor Gericht
Der Angeklagte ist nicht mehr der Jüngste. Die Taten, derer er beschuldigt wird, liegen über 70 Jahre zurück. So viel man bisher weiß, hat Johann R. selbst nie einen Menschen getötet, geschweige denn mehrere hundert. Nun steht er mit 94 Jahren vor der Jugendkammer in Münster.
Der ehemalige SS-Mann Dr. Johann R. steht vor Gericht und die Öffentlichkeit erwartet mal wieder von dem Verfahren Großes. Dem Verfahren haben sich 17 Nebenkläger angeschlossen. Ehemalige KZ-Häftlinge. Menschen, die von den Nazis im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig entrechtet und misshandelt wurden. Die ansehen mussten, wie andere ermordet und wie Müll „entsorgt“ wurden. Die selber litten und nur knapp mit nichts als dem Leben davon gekommen sind. In dem KZ wurden rund 65000 Menschen ermordet, darunter ca. 50000 Juden, fast alle jüdischen Insassen. Die Erwartung der wenigen noch lebenden Überlebenden und der Angehörigen, dass dieses grauenhafte Unrecht von einem deutschen Gericht festgestellt und verurteilt wird, ist absolut nachvollziehbar. Ob dieses Verfahren das aber wirklich leisten kann, ist fraglich
Die bundesdeutsche Justiz hat sich Jahrzehnte lang in ihrem Umgang mit NS-Verbrechern bis auf die Knochen blamiert. Bei popeligen 36.393 Ermittlungsverfahren gegen 172.294 Beschuldigte wurden nur 16.740 angeklagt, von denen nur 6.656 rechtskräftig verurteilt wurden. Ohne den großen Fritz Bauer wären es vermutlich noch viel weniger gewesen. Es gab gerade in der Nachkriegszeit noch zu viele Nazis in der Justiz.
Neuer Anlauf
Nun also ein neuer Anlauf mit dem Angeklagten Johann R., der als junger Mann „Bubi“ gerufen wurde. Anklage wegen Beihilfe zum Mord an mehreren Hundert Menschen. Dass so eine Anklage nach so langer Zeit überhaupt noch möglich ist, hängt damit zusammen, dass die Verjährung für Mord im Jahre 1979 aufgehoben wurde.
§ 78 StGB – Verjährungsfrist
(1) …
(2) Verbrechen nach § 211 (Mord) verjähren nicht.
Und das gilt nicht nur für den Mord selbst, sondern darüber hinaus für alle Beteiligungsformen, also auch für die Beihilfe. Klingt vielleicht merkwürdig, ist aber so.
Unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit kann man schon daran zweifeln, dass das eine optimale Lösung ist. Denn diese Nichtverjährung gilt tatsächlich nur für Mord. Hätte sich der Angeklagte also vor über 70 Jahren an Totschlagsdelikten oder Massenvergewaltigungen selbst aktiv als Täter beteiligt, dann wären all diese scheußlichen Taten bereits nach 30 Jahren – also seit nunmehr rund 40 Jahren – verjährt. Dafür könnte er nicht mehr vor ein Gericht gestellt werden.
Er könnte sogar Bücher darüber schreiben oder damit in Talkshows hausieren gehen, ohne mit strafrechtlichen Schwierigkeiten rechnen zu müssen. Aus Sicht des Gesetzgebers ist eine Beihilfe zu einer Tat zwar grundsätzlich milder zu bestrafen als eine täterschaftlich begangene. Bei der Frage der Verjährung spielt das jedoch seltsamerweise keine Rolle. Im Klartext: Wer vor 30 Jahren ohne Mörder zu sein jemanden erschlagen hat, ist strafrechtlich besser dran, als derjenige, der einem Mörder zu dessen Tat Beihilfe geleistet hat, indem er ihn z.B. zum Tatort gefahren hat oder indem er Schmiere gestanden hat. Das mag merkwürdig erscheinen, es ist aber so.
Die Beihilfe
Die nächste Frage ist, was man denn getan haben muss, um wegen einer Beihilfe verurteilt zu werden. Das Gesetz ist da recht vage.
§ 27
Beihilfe
(1) Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat.
Es braucht erst einmal eine vorsätzlich begangene Haupttat eines anderen. Dass in den Vernichtungslagern im industriellen Umfang gemordet wurde, steht außer Frage. Das bestreiten zwar einige Ewiggestrige, der Angeklagte allerdings nicht. Er will allerdings davon nicht gewusst haben, als er dort tätig war. Das kann man zwar problematisieren, es wird ihm aber niemand glauben. Dass diese Morde vorsätzlich und rechtswidrig geschahen, ist ebenfalls offenkundig. Kein Mensch durfte jemals davon ausgehen, dass dieser widerliche Völkermord durch irgendetwas gerechtfertigt sein könnte.
Es kommt also darauf an, ob der Angeklagte den Haupttätern zu deren hundertfachen Verbrechen „Hilfe geleistet“ hat. Unter Hilfeleistung verstehen Juristen jeden Tatbeitrag, der die Haupttat „ermöglicht, erleichtert oder fördert“. Das ist der eigentliche Kern dieses Verfahrens.
Auf dem Wachturm
Johann R. wird durch die Anklage vorgeworfen, er habe als Wachmann durch die Absolvierung seines Wachdienstes, die Haupttaten gefördert und damit das systematische Töten unterstützt zu haben.
Bis zum Jahr 2010 wurden solche eher am Rande des eigentlichen Mordens liegende Tätigkeiten von den Staatsanwaltschaften und Gerichten nicht als Beihilfe verfolgt. Dies änderte sich erst mit dem Demjanjuk-Verfahren, bei dem dem Angeklagten Demjanjuk zwar auch keine konkrete Tat individuell zugeschrieben werden konnte, das Gericht aber bereits dessen Dienst in Sobibor 1943 als ausreichend für eine Verurteilung betrachtete. Zur Begründung führte es aus, dass Demjanjuk dort „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ gewesen sei. Dieses Urteil wurde allerdings nie rechtskräftig, da Demjanjuk starb, bevor über die von Verteidigung und Staatsanwaltschaft eingelegte Revision entschieden worden war.
1969 urteilte der BGH in einer Revision zum Frankfurter Auschwitz-Prozess, dass sich „nicht jeder, der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers Auschwitz eingegliedert“ gewesen und dort „irgendwie anlässlich dieses Programms tätig“ geworden sei, auch „objektiv an den Morden beteiligt habe und für alles Geschehene verantwortlich“ sei.
Erst mit der BGH-Entscheidung im Fall des SS-Mannes Oscar Gröning kam es zu einer entscheidenden Wende.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt hatte damals ein Verfahren gegen Gröning schon 1985 eingestellt und sich 2013 geweigert, ein Wiederaufnahmeverfahren gegen ihn zu eröffnen. Die Begründung lautete, die Kausalität seiner Tätigkeit sei für den Erfolg der Vernichtungsaktion nicht gegeben gewesen. Das lag auf der Linie der alten Rechtsprechung, die der BGH dann aber 2016 kippte.
In den Leitsätzen heißt es:
„Leitsätze
1. Beihilfe zum Mord durch Dienst im Konzentrationslager Auschwitz. (BGHSt)
2. Bereits durch die allgemeine Dienstausübung im Konzentrationslager „Auschwitz“ kann den Führungspersonen in Staat und SS i.S.d. § 27 StGB Hilfe dabei geleistet worden sein, die von ihnen geplanten und angeordneten Massentötungen umzusetzen. Das gilt jedenfalls dann, wenn konkrete Handlungsweisen mit unmittelbarem Bezug zu dem organisierten Tötungsgeschehen in Auschwitz (hier: Wachdienst an der „Rampe“ und Verwaltung der den Deportierten abgenommenen Gelder) im Rahmen eines konkret umgrenzten Sachverhaltskomplexes (hier sog. „Ungarn-Aktion“) festgestellt sind.
3. Hilfeleistung im Sinne des § 27 StGB ist – bei Erfolgsdelikten – grundsätzlich jede Handlung, welche die Herbeiführung des Taterfolges durch den Haupttäter objektiv fördert oder erleichtert; dass sie für den Eintritt dieses Erfolges in seinem konkreten Gepräge in irgendeiner Weise kausal wird, ist nicht erforderlich. Beihilfe kann schon im Vorbereitungsstadium der Tat geleistet werden, selbst zu einem Zeitpunkt, in dem der Haupttäter zur Tatbegehung noch nicht entschlossen ist; sie ist auch noch nach Vollendung der Tat bis zu deren Beendigung möglich, auch in der Form sog. psychischer, indem der Haupttäter ausdrücklich oder auch nur konkludent in seinem Willen zur Tatbegehung, sei es auch schon in seinem Tatentschluss, bestärkt wird. (Bearbeiter)
4. Wird die Tat aus einem Personenzusammenschluss – etwa einer Bande oder einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung – heraus begangen, so kann sie dem einzelnen Banden- oder Vereinigungsmitglied nicht allein aufgrund der von ihm getroffenen Bandenabrede oder seiner Zugehörigkeit zu der Vereinigung als eigene zugerechnet werden; es ist vielmehr hinsichtlich jeder Tat nach den allgemeinen Kriterien zu prüfen, ob sich das betreffende Mitglied daran als Mittäter (§ 25 Abs. 2 StGB), Anstifter (§ 26 StGB) oder Gehilfe (§ 27 StGB) beteiligt bzw. gegebenenfalls insoweit überhaupt keinen strafbaren Tatbeitrag geleistet hat. (Bearbeiter)
5. Bei Handlungen, die im Rahmen von oder im Zusammenhang mit staatlich organisierten Massenverbrechen vorgenommen werden, gelten im Ausgangspunkt die allgemeinen Grundsätze, wobei die Besonderheiten nicht außer Betracht bleiben, die sich bei derartigen Delikten in tatsächlicher Hinsicht ergeben. Im Einzelnen:
a) Bei einer Tatserie wie dem systematischen Völkermord an den europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland ist zu berücksichtigen, dass an jeder einzelnen bei dessen Verwirklichung begangenen Mordtat einerseits eine Vielzahl von Personen allein in politisch, verwaltungstechnisch oder militärischhierarchisch verantwortlicher Position ohne eigenhändige Ausführung einer Tötungshandlung beteiligt war, andererseits aber auch eine Mehrzahl von Personen in Befolgung hoheitlicher Anordnungen und im Rahmen einer hierarchischen Befehlskette unmittelbar an der Durchführung der einzelnen Tötungen mitwirkte. (Bearbeiter)
b) Bei der rechtlichen Bewertung von Handlungen eines auf unterer Hierarchieebene und ohne eigene Tatherrschaft in die organisatorische Abwicklung des massenhaften Tötungsgeschehens eingebundenen Beteiligten muss in den Blick genommen werden, dass zu jeder einzelnen Mordtat Mittäter auf mehreren Ebenen in unterschiedlichsten Funktionen sowie mit verschiedensten Tathandlungen zusammenwirkten und daher zu prüfen ist, ob die Handlungen des allenfalls als Tatgehilfe in Betracht kommenden Beteiligten die Tathandlung zumindest eines der an dem Mord täterschaftlich Mitwirkenden im Sinne des § 27 Abs. 1 StGB gefördert haben.“
Der Angeklagte mag sich wohl für ein kleines und unbedeutendes Rädchen der Vernichtungsmaschine halten, was er ja auch war, aber auf der anderen Seite sind es natürlich all diese kleinen Rädchen, die ineinandergreifen müssen, damit eine Vernichtungsmaschine in Gang bleibt. Sie sorgen für einen reibungslosen Ablauf.
Johann R. war SS-Sturmmann. Das war von 1933 bis 1945 der zweithöchste Rang der Dienstgradgruppe der Mannschaften der Schutzstaffel (SS). Die hatten mit Sicherheit nicht viel zu melden, aber immerhin. In der Hierarchie der SS war er damit nicht die kleinste Wurst.
Wie sieht es mit dem Vorsatz des Angeklagten aus? Wollte er tatsächlich beim Morden helfen? Und wie mit dem Bewusstsein, eine Straftat zu begehen? Konnte er überhaupt davon ausgehen, dass seine Tätigkeit eine strafbare Beihilfe ist, wenn selbst die bundesdeutsche Justiz noch Jahrzehnte danach in derartigen Fällen, die nicht unmittelbar mit dem Töten von Menschen zusammenhingen, davon ausging, dass das nicht strafbar sei? Wie hätte er das vorher wissen können? Nulla poena sine lege müsste auch da gelten.
Ein Gesetz muss so klar und bestimmt sein, dass jeder potenzielle Täter weiß, ob er sich bei einer bestimmten Handlung strafbar macht. Konnte Johann R. wirklich wissen, dass die Rechtsprechung den Beihilfeparagrafen 70 Jahre später anders auslegt als alle Zeiten zuvor? Wohl kaum.
Spätes Exempel
Ist es in Ordnung, wenn ein Verfahren nicht nur dazu dient, dem Angeklagten eine persönliche, strafrechtliche Schuld nachzuweisen, sondern auch dazu, nach ewigen Zeiten der skandalösen justiziellen Untätigkeit das Unrecht des nationalsozialistischen Mordens gerichtlich festzustellen? Ist das Verfahren ein spätes, vielleicht zu spätes Exempel?
Nun, mag man einwenden, was in den Vernichtungslagern geschah, war auch nicht fair. Aber da darf man nicht vergessen, dass der nationalsozialistische Staat durch und durch ein Unrechtsstaat war – und dass das jetzige Verfahren in einem Rechtsstaat abläuft. Da müssen dann auch rechtsstaatliche Grundsätze im Verfahren eingehalten werden. Ganz gleich, über welche Scheußlichkeit da verhandelt wird.
Dass gegen einen 94-jährigen Angeklagten vor einer Jugendkammer verhandelt wird, ist seinem Alter zur Tatzeit geschuldet. Bei den ihm vorgeworfenen Taten war er im Alter zwischen 18 und 20 Jahren, also Heranwachsender. Mag sein, dass die Kammer zur Anwendung von Jugendstrafrecht kommt, es kann aber auch sein, dass sie Erwachsenenstrafrecht anwendet. Im Zweifel muss sie aber Jugendstrafrecht anwenden. Die zu erwartende Strafe dürfte da eher eine symbolische sein. Resozialisieren muss man den Angeklagten nicht. Nach dem Krieg promovierte er als Betriebswirt und wurde Direktor einer Fachschule für Gartenbau.
Angesichts des Alters des Angeklagten ist zu befürchten, dass auch dieses Verfahren – wie viele andere – nicht rechtskräftig beendet werden wird.