Haftbefehl
Im Chemnitzer Tötungsfall wurde ein Haftbefehl erlassen, der dann von einem JVA-Beamten fotografiert und in die Öffentlichkeit gebracht wurde. Zur Begründung führte er an, er habe damit bewirken wollen, „dass die Spekulationen über einen möglichen Tatablauf ein Ende haben“. Eine ganz dumme Idee.
Tja, das wäre schön, wenn man durch die Veröffentlichung eines Haftbefehls Spekulationen über einen möglichen Tatablauf in der Öffentlichkeit beenden könnte. Dann wäre ich ja glatt dafür, das künftig zu erlauben. Aber so einfach ist das ja gar nicht. Und deshalb ist die Veröffentlichung von Unterlagen aus einem laufenden Verfahren auch zu Recht strafbar.
Momentaufnahme
Ein Haftbefehl ist kein rechtskräftiges Urteil.Er ist überhaupt kein Urteil. Ein Haftbefehl ist immer nur eine Momentaufnahme des aktuellen Ermittlungsstandes im laufenden Ermittlungsverfahren und deswegen nicht einmal im Ansatz geeignet, die öffentlichen Spekulationen zu beenden.
Zum Haftbefehl hatte ich bereits im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen Franco A., dem Bundeswehrsoldaten, der als syrischer Flüchtling durchkam folgendes geschrieben:
Die Voraussetzungen für den Erlass und die Aufrechterhaltung eines Haftbefehls sind in §112 StPO geregelt:
§ 112
Voraussetzungen der Untersuchungshaft; Haftgründe
(1) 1 Die Untersuchungshaft darf gegen den Beschuldigten angeordnet werden, wenn er der Tat dringend verdächtig ist und ein Haftgrund besteht. 2 Sie darf nicht angeordnet werden, wenn sie zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht.
(2) Ein Haftgrund besteht, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen
1. festgestellt wird, daß der Beschuldigte flüchtig ist oder sich verborgen hält,
2. bei Würdigung der Umstände des Einzelfalles die Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich dem Strafverfahren entziehen werde (Fluchtgefahr), oder
3. das Verhalten des Beschuldigten den dringenden Verdacht begründet, er werde
a) Beweismittel vernichten, verändern, beiseite schaffen, unterdrücken oder fälschen oder
b) auf Mitbeschuldigte, Zeugen oder Sachverständige in unlauterer Weise einwirken oder
c) andere zu solchem Verhalten veranlassen,
und wenn deshalb die Gefahr droht, daß die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (Verdunkelungsgefahr).
(3) Gegen den Beschuldigten, der einer Straftat nach § 6 Absatz 1 Nummer 1 oder § 13 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches oder § 129a Abs. 1 oder Abs. 2, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1, oder nach den §§ 211, 212, 226, 306b oder 306c des Strafgesetzbuches oder, soweit durch die Tat Leib oder Leben eines anderen gefährdet worden ist, nach § 308 Abs. 1 bis 3 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 nicht besteht.
Tatverdacht
Basis jedes Haftbefehls ist also zunächst einmal ein dringender Tatverdacht. Eine Definition des dringenden Tatverdachts hat der Gesetzgeber sich geschenkt. Rechtsprechung und Lehre haben da verschiedene Umschreibungen ausgekaspert, wonach nach dem vorliegenden vorläufigen Ermittlungsergebnis in der Gesamtheit eine „erhebliche“, eine „hohe“ oder eine „große Wahrscheinlichkeit“ dafür besteht, dass der Betroffene Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist. Wann eine Wahrscheinlichkeit nun groß, hoch, dick oder dünn genug ist, weiß der Geier bzw. das entscheidet das Gericht jeweils im Einzelfall.
Das ist keine einmalige Beurteilung, sondern – wie alles – stets im Fluss. Besteht ganz am Anfang eines Verfahrens aufgrund einzelner Indizien vielleicht noch ein dicker, fetter, dringender Tatverdacht, dann kann der im Laufe der Ermittlungen durchaus zu einem mageren Tatverdacht mutieren. Dann ist der Haftbefehl aufzuheben. Letztlich beurteilt das Gericht dabei die Wahrscheinlichkeit, dass es aufgrund des jeweiligen Ermittlungsergebnisses zu einer Verurteilung des Beschuldigten kommen könnte. Erscheint das eher unwahrscheinlich oder gar ausgeschlossen, dann muss man den Beschuldigten entlassen.
Haftgrund
Neben dem dringenden Tatverdacht bedarf es zum Erlass eines Haftbefehls aber auch noch eines Haftgrundes. Jedenfalls in der Regel. Diese Haftgründe sind Flucht, Fluchtgefahr, Verdunklungsgefahr und Wiederholungsgefahr.
Der Haftbefehl dient nicht als vorweggenommene Strafe, sondern zur Sicherung der Hauptverhandlung bzw. in besonderen Fälle dem Schutz der Bevölkerung vor weiteren Straftaten. So kann eine Fluchtgefahr sich z.B. aus der Höhe der zu erwartenden Strafe ergeben. Je höher die Straferwartung und die Mobilität des Verdächtigen, um so wahrscheinlicher ist, dass er sich verpissen wird, um sich der Verurteilung zu entziehen. Wer Familie, Eigentum und soziale Bindungen, aber keinerlei Kontakte ins Ausland hat, wird regelmäßig eher weniger abhauen wollen, als der einsame Wolf mit einem dicken Konto und Freunden in aller Welt. So denkt man jedenfalls bei der Justiz, was sicher ein dafür Grund ist, dass bei ansonsten gleicher Sachlage „alleinreisende junge Männer“ schneller in U-Haft sitzen, als besorgte Besitzbürger.“
Im vorliegenden Fall eines Tötungsdeliktes wie in Chemnitz greift Absatz 3, sodass ein Haftgrund entbehrlich ist.
Auch wenn es manchem schwerfällt, sollte jeder sich bewusst machen, dass mit dem Erlass eines Haftbefehles keine abschließende Entscheidung darüber getroffen wird, dass der Tatverdächtige sich auch wirklich einer Straftat schuldig gemacht hat.
Keine einfache Rechnung
Es ist halt nicht die einfache Rechnung Toter+Messer+Täter=Mord. Schon der Haftbefehl geht zunächst einmal nicht von einem Mord, sondern „nur“ von einem Totschlag aus. Auch darüber empören sich nun wieder die, die nicht bereit sind, sich mit den juristischen Unterschieden zu beschäftigen. Wer mag, kann das hier noch einmal nachlesen.
Und auch der im Haftbefehl enthaltene dringende Tatverdacht des Totschlags wird durch die Verkündung des Haftbefehls noch lange nicht Gewissheit.
Über die genauen Tatumstände im Chemnitzer Fall ist bisher so gut wie nichts bekannt. Ob Auslöser tatsächlich ein Streit um Zigaretten war, weiß man nicht. Um was es bei der verbalen Auseinandersetzung, von der zu lesen war, im Einzelnen ging, Fehlanzeige. In welchem Zustand der Täter war, ist ebenfalls nicht bekannt. Möglicherweise sollen Drogen eine Rolle gespielt haben. Fünf Mal soll der Tatverdächtige Yousif Ibrahim A. auf das Opfer eingestochen haben. Das ist nicht wenig, es gab aber auch schon Taten, bei denen deutlich mehr zugestochen wurde.
Im Laufe des weiteren Verfahrens kann sich noch einiges bewegen. Die Frage des Motivs muss ebenso geklärt werden, wie der genaue Ablauf der Tat. Die Schuldfähigkeit des Täters muss geklärt werden. Die Behörden stehen da noch ganz am Anfang. Es kann also sein, dass es am Ende doch kein Totschlag, sondern vielleicht doch noch ein Mord, oder aber auch eine gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge war, wobei letzteres bei gezielten Stichen in den Brustkorb derzeit eher unwahrscheinlich scheint. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass der Täter wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen wird, z.B. weil er im Drogenrausch die Folgen seines Tuns nicht mehr beurteilen konnte oder in einen Blutrausch geraten ist. Dann käme er zwar nicht n den Strafvollzug, aber wahrscheinlich in eine psychiatrische Einrichtung. Man weiß das alles nicht.
Mit der Veröffentlichung des Haftbefehls hat sich der JVA-Beamte, dem nach seiner Suspendierung durch das sächsische Justizministerium bereits eine Stelle vom baden-württembergischen AfD-Landtagsabgeordneten Stefan Räpple angeboten wurde, keinen Gefallen getan. Was er getan hat, ist eine Straftat nach § 353d und womöglich noch § 353b StGB und wird ihm eine Strafe einbringen. In der rechten Szene ist er jetzt schon ein Held. Räpple schrieb an ihn auf seiner Facebookseite:
Sie sind ein Held und genau so, wie alle meiner genialen Mitarbeiter Helden auf ihrem Gebiet sind, kann ich Sie und Ihre Expertise sehr gut in meinem Team brauchen.
Welche Expertise der von einem Beamten erwartet, der seine Dienstpflichten gröblich verletzt hat und geheime Dokumente durchsticht, kann ich nicht sagen. Aber wer weiß schon, welche kriminellen Qualitäten bei der AfD so alles zum Heldentum und zum Landtagsjob taugen. Vielleicht kann Hütchenmaik da auch noch was werden.
Trauer-m-ärsche
Heute wird es sechs Demonstrationen in Chemnitz geben. Heute werden demokratisch gewählte Politiker den Tod eines jungen Mannes, dessen Sympathien ausweislich seiner Facebookseite eher auf der Seite der Antifaschisten und der Flüchtlinge lagen, dazu nutzen, den Hass auf Flüchtlinge und Ausländer und das „Merkel-muss-weg“-Feuer erneut zu schüren. Mit Trauer und Gedenken hat das nichts zu tun und jeder Bürger, der noch einen Funken Pietät und Anstand im Leib hat, sollte diesen „Trauer-m-ärschen“ fernbleiben.
Bleibt zu hoffen, dass die sächsische Polizei mit Unterstützung der angereisten Bundespolizisten jede, aber auch wirklich jede Straftat aus der Menge verfolgen – das Heben des rechten Armes ist kein überliefertes Trauerritual aus Sachsen, sondern eine Straftat – und die Täter umgehend dingfest machen. Gerade die, die immer nach einem starken Staat und der Härte des Gesetzes rufen, sollten einmal spüren, dass dieser Staat existiert und sich das Gewaltmonopol nicht aus der Hand nehmen lässt. Bei linken Demos kommt ja auch der Knüppel ganz schnell aus dem Sack. Aber vielleicht ist die Präsenz der Polizei heute auch einmal so beeindruckend, dass die Arme unten und die Reihen nur fest geschlossen bleiben. Eine erneute Niederlage der Polizei wäre ein fatales Zeichen an die Szene.