Patriotismus 4.0 – brauchen wir den?

Patriotismus ist ein Experiment, das in Deutschland immer schiefgeht und deshalb so überflüssig wie eine Zahnwurzelentzündung, meint Kolumnist Henning Hirsch


Die WM ist vorbei, die Fahnen wurden eingerollt, die dreifarbigen Präservative von den Autorückspiegeln gepellt, das Deutschland-Make-up verschwindet in der untersten Schublade der Badezimmerkommode. Der Spuk ist vorbei. Auf ein Neues zur EM 2020.

Seit dem Sommermärchen 2006 kennen wir nun das Phänomen des Party-Patriotismus. Die Nati spielt – bis 2016 recht ansehnlich, dieses Mal ziemlich schlecht –, und die Menschen landauf, landab, völlig egal, ob sie von Fußball Ahnung haben oder nicht, geraten für einige Wochen in einen schwarz-rot-goldenen Rausch. Public Viewing, Fanmeilen, TV-Werbung: alles kommt plötzlich patriotisch daher. Ob die Mannschaft mitreißend oder mittelmäßig kickt, sie im 4-4-2- oder 4-2-3-1-System aufläuft, Hector oder Plattenhardt hinten links verteidigen: alles egal, solange das Team gewinnt und eine Runde weiterkommt. Im Anschluss gibt’s einen Autokorso und ein Besäufnis mit den Kumpels in der Eckkneipe.

Ich denke abwechselnd: gut, dass mich dieses Virus nicht befallen hat oder: Boh, was bin ich schon alt und griesgrämig, dass ich mich nicht mehr so ausgelassen über ein Riesendusel-Last-Minute-Tor gegen Schweden freuen kann.

Ist das also der neue deutsche Patriotismus? Im Abstand von 24 Monaten ein Flaggen- und Wimpelmeer, Bitburger trinken, grölen, abfeiern und am Ende entweder über den Titel jubeln oder verkatert die Scherben aufkehren? Falls ja: Ist zwar nicht meins; allerdings auf den ersten Blick nicht weiter gefährlich anmutend.

Die Römer haben ihn erfunden?

Um den deutschen Patriotismus 4.0 zu würdigen, kann ich Ihnen einen kleinen Ausflug in die Historie leider nicht ersparen. Ich werde mich kurz fassen. Versprochen!

Wo dieses merkwürdige Gefühl zum ersten Mal ein menschliches Herz schneller schlagen ließ, kann mit abschließender Sicherheit nicht bestimmt werden. Übersetzen wir den Begriff mit „Liebe zum Vaterland“, setzt es ein solches eigentlich zwingend voraus. Weshalb sich die Gelehrten darüber streiten, ob bereits die alten Römer – weil die ewig hungrige Wölfin ja ein Stadtstaat mit hinzu erobertem riesigen Weltreich, aber kein Land im modernen Sinne war – dem Patriotismus frönten. Da aber von den Römern erbauliche Sprüche wie „Dulce et decorum est pro patria mori“ überliefert sind, sie keinerlei Berührungsängste mit unbedingtem Glauben an den Staat, strenger Gesetzlichkeit und militärischer Unterordnung zeigten, will ich sie in meiner kleinen und ganz und gar nicht wissenschaftlichen Kolumne als Erfinder des Patriotismus ansehen. In der zweiten Hälfte des Textes benötige ich sie ohnehin noch als wichtige Bezugsgröße; weshalb es für mich praktisch ist, so zu verfahren.

Die drei deutschen Patriotismus-Experimente endeten blutig

Im nach-napoleonischen Deutschland, das allerdings noch gar kein Deutschland, aber auch kein Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation mehr, sondern ein bunter Flickenteppich kleiner bis hin zu winzigen Fürsten- und Herzogtümer war – von Hohenzollern und Habsburg mal abgesehen –, regte sich die damals noch zarte Pflanze des Nationalgefühls zum ersten Mal während der Märzrevolution 1848, als sich Teile des Bürgertums nach einem demokratisch verfassten Nationalstaat – in Abgrenzung zum real existierenden Feudalismus – sehnten. Das war eine kurze Episode, die bereits im Sommer 1849 blutig, weil von preußischen und österreichischen Truppen gewaltsam niedergeschlagen, endete.

Die Neuauflage, die unsere Ururgroßelten im Nachgang zur Gründung des Zweiten Reichs im Januar 1871 erlebten, kam schon nicht mehr so bescheiden und friedlich daher. Zu „Von der Maas bis an die Memel“ gesellte sich nun: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Die Liebe zur eigenen Nation bedeutete im Umkehrschluss, dass man die Nachbarn nicht als Nachbarn, sondern als potenzielle Feinde wahrnahm. Bündnisse wurden geschmiedet, bei Bedarf auch mal gewechselt, ständige Wachsamkeit war notwendig, um nicht von einem Stärkeren gefressen zu werden. Als der Lotse Bismarck 1890 von Bord ging (genaugenommen: gegangen wurde), agierten seine Nachfolger nicht immer glücklich und häufig ohne Augenmaß. Das Reich strebte nach kontinentaler Hegemonie, sah sich bereits als Weltmacht, und die deutsche Außenpolitik verirrte sich dabei im Spannungsfeld zwischen Ost und West. Im Spätsommer 1914 waren die europäischen Mächte allesamt derart hochgerüstet, sich einander spinnefeind und nicht mehr willens, Deeskalation mittels Verhandlungen zu betreiben, dass die Urkatatastrophe des – an Katastrophen nicht armen – 20sten Jahrhunderts ihren Lauf nahm. Besoffen von Patriotismus und der Gewissheit, dass nur ein kurzer Waffengang bevorstünde, brach die deutsche Jugend singend in Richtung Schlachtfelder auf, verblutete in Flandern, an der Somme und in Tannenberg.

Bei meinem Großvater väterlicherseits erwischte es bereits im Herbst und Winter 14 die drei älteren Brüder, Der Erste saß in einem Zeppelin, als ihn die Briten über dem Kanal abschossen, der Zweite ritt an der Marne in den ausgestreckten Säbel eines Rifkabylen hinein, während der Dritte bei Gumbinnen seinen letzten Atem aushauchte. Er selbst meldete sich 17jährig freiwillig zur Armee, kämpfte in fauligen Sümpfen irgendwo im Niemandsland zwischen Bulgarien und Makedonien gegen die Engländer, den einen Tag eine Wiese vor, den nächsten Tag dieselbe Wiese retour, handelte sich dort einen zehn Meter langen Bandwurm und Malaria ein und kehrte 1918 mehr tot als lebendig in sein Elternhaus zurück. Der Krieg hatte ihn hart gemacht. Wie so viele aus seiner Generation hielt er ne Menge von dienen und Pflichtgefühl. Jammerei war ihm ein Graus. Eine Träne in seinem Auge sah ich bloß einmal – als ich ihn an einem glutheißen Augusttag 1985 als ältester Enkel mit meinem hellblauen VW-Käfer nach Verdun chauffierte, wo wir auf einem riesigen Soldatenfriedhof mit tausenden Kreuzen vor dem Grab eines seiner Brüder standen. Drei Monate später starb mein Großvater. Der Roman Im Westen nichts Neues, den ich ihm ein paar Jahre zuvor zu Weihnachten geschenkt hatte, stand unberührt in seinem Bücherschrank.

Die Unternehmung Patriotismus 2.0 endete mit zwanzig Millionen Toten. Der Kaiser wurde abgedankt und zog sich ins holländische Exil zum Holzhacken zurück.

Der dritte Aufguss bescherte uns den größten Führer aller Zeiten, ein tausendjähriges Reich, Rassismus, Antisemitismus, Brutalität und staatlich organisierte Bestialität bisher ungekannten Ausmaßes und noch mehr Leichen als WK1. Damit war das Konzept Patriotismus an sein vorläufiges Ende gelangt. Niemand, der in den 50er, 60er und 70er Jahren seine fünf Sinne beisammen hatte, wollte die mühsam verschlossene Büchse der Pandora wieder öffnen. Patriotismus und Nationalismus waren in Deutschland zu eng miteinander verwoben, die Trennlinie nicht scharf genug, als dass man das Experiment freiwillig ein weiteres Mal wiederholen wollte. Für mich war Patriotismus während meiner gesamten Schulzeit (1968-81) kein Thema gewesen. Ich war Kölner, liebte den FC und die blonde Birgit aus der Klasse unter mir, jeder wohlproportionierte Frauenarsch faszinierte mich mehr als Schwarz-Rot-Gold. Die Bundesrepublik war ein kleines Land mit der beschaulichen Hauptstadt Bonn, die Staatsfahne wurde an manchen Feiertagen gehisst und flatterte in ein paar Schrebergärten. Die Nati spielte überaus erfolgreich; aber kein Kicker wäre auf die Idee gekommen, die Hymne laut mitzusingen. Man blickte ernst oder schloss die Augen, sobald die melancholische Melodie erklang. Europa lautete die Vision, Deutschland ein verstaubtes Relikt aus der Vergangenheit. Hin und wieder Gesprächsthema mit dem o.g. Großvater, der WK1 knapp überlebt hatte.

Neu entdeckte Heimatduselei

Da aber der Mensch wohl eine Heimat braucht, auf die er stolz sein kann, die wir in der kleinen Bundesrepublik anscheinend nicht besaßen, klopfte der Patriotismus Mitte der 80er von unten an den Sargdeckel, wollte wieder auferstehen aus dem Müllhaufen der Geschichte, auf den wir ihn 1949 geworfen hatten. 1986 entbrannte im Rahmen der als Historikerstreit bekannt gewordenen geschichtspolitischen Kontroverse, die in den Feuilletons der großen Tageszeitungen geführt wurde, eine hitzige Debatte über die Frage, ob wir als Deutsche ein neues Nationalbewusstsein benötigen. Die Fraktion um Nolte, Stürmer und Hillgruber bejahte das, während Habermas prophetisch davor warnte, dieses alleine durch Abschütteln der jüngsten Vergangenheit entwickeln zu wollen.

Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker versuchte sich an einer positiven Deutung des bis dahin übel beleumundeten Begriffs:

Patriotismus ist Liebe zu den Seinen; Nationalismus ist Hass auf die anderen.
Staatsakt, Vierzig Jahre Grundgesetz, Beethovenhalle, Bonn, 24.5.1989

Verfassungspatriotismus: Lösung oder Placebo?

Ein schlauer Mann namens Sternberger erfand in etwa zeitgleich zur o.g. Diskussion den Verfassungspatriotismus. Was ist denn das schon wieder, wollen Sie von mir wissen. Klingt irgendwie blutleer, schieben Sie noch hinterher. Voilà, hier ist die Definition:

Identifikation des Bürgers mit den Werten und Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates. Über den Verfassungspatriotismus können sich die universalen Prinzipien der Menschenrechte mit nationalpatriotischen Elementen verbinden.

Hört sich an wie Doppelkorn ohne Alkohol und wirkt sicher auch ähnlich. Also bloß bei politischen Esoterikern und Liebhabern von Vanilletee. Wir sind stolz auf unser Grundgesetz und speziell auf die darin enthaltenen (universellen) Menschenrechte. Mal abgesehen davon, dass ich – mit Ausnahme meines früheren Geschichtslehrers aus der Oberprima – niemanden kenne, der das Grundgesetz mehr als einmal im Leben in die Hand genommen hat, und 95% der Bevölkerung keinen blassen Dunst davon haben, was in den ersten zehn Artikeln – von den nachfolgenden ganz zu schweigen – überhaupt drinsteht, birgt die Allgemeingültigkeit für den aufrechten Vaterländler die Gefahr, dass er die Menschenrechte in der Konsequenz nicht nur sich und seinen Landsleuten, sondern ebenfalls Fremden – z.B. Flüchtlingen – zugestehen muss. Hier bisse sich der Patriotismus jedoch in den eigenen Hintern, wird obsolet, denn die Ausdehnung auf alle Menschen widerspricht diametral dem Vaterlandsgedanken. Verfassungspatriotismus ist mithin ein theoretisches Konstrukt, anwendbar von maximal fünf Prozent erleuchteten Philanthropen, aber ganz sicher nicht massentauglich.

Das Volk, einmal vom Bazillus des Nationalen infiziert, will natürlich mehr: Stolz, Ruhm, Spektakel, Einzigartigkeit, Abgrenzung gegenüber Zuwanderern, um die eigene Wesensart nicht zu verwässern. Hinfort mit den dunklen Stellen der Vergangenheit, die Zeit von 33 bis 45 ein Vogelschiss, was haben wir Spätergeborenen überhaupt mit den Taten unserer Großeltern zu tun? Siege müssen her, zuerst im Sport, und später schau’n wir mal, was uns dazu noch einfällt. Weltoffen ist nett, aber bitte nicht zu viel davon. Das Erscheinungsbild auf unseren Straßen sollte schon sauber und gepflegt aussehen. Am Mittwoch wird das Treppenhaus geputzt und am Samstag das Auto gewaschen. Wer kein Schweinefleisch isst, Alkohol verschmäht und Jungs die Vorhaut abschneidet, hat in unserem schönen Land nichts zu suchen. Wir brauchen dringend eine Kanon für eine verbindliche Leitkultur, rufen Sie. Was soll da drin stehen? Nun schweigen Sie, weil Ihnen außer Bratwurst und Bitburger auch nichts Gescheites einfällt. Ja ja, Goethe und Schiller waren große Dichter und Denker. Wissen wir doch. Aber die beiden Nationalheiligen liegen nun auch schon seit zweihundert Jahren unter der Erde.

Patriotismus ist kein Chauvinismus sagen Sie? Unsere Nachbarn machen es genauso. Warum darf ich nicht dasselbe tun wie der Franzose und der Brite, fragen Sie mich? Weil die beiden keine Weltkriege angezettelt haben, und wir ja nicht alles eins zu eins nachahmen müssen, antworte ich. Oder, um es mit einem Zitat von Maxim Biller zu sagen:

Wer über Deutschland räsoniert, wer es intellektuell bestimmen und somit auch feiern und konstituieren will, wird jedes Mal als Brandstifter und Mörder enden.

Muss man Patriot sein, um seine Heimat zu lieben?

Der Hirsch ist ein übellauniger Spielverderber und hasst Deutschland, flüstern Sie nun Ihrem Nachbarn – der mit den fünf schwarz-rot-goldenen Wimpeln am VW-Passat – zu. Das stimmt zur Hälfte. Übellaunig: geschenkt. Deutschland hassen: nein. Übermäßig lieben tue ich es allerdings auch nicht. Ich mag die Gegend, in der ich wohne, recht gerne. Hin und wieder stellt sich in romantischen Momenten sogar eine Ahnung von Heimat ein, wenn ich auf den Kölner Dom oder das Siebengebirge blicke. Aber (1): ich könnte auch jederzeit woanders leben und würde mich dort nach kurzer Eingewöhnungsphase ebenfalls wohl fühlen. Aber (2): Heimat ist was Regionales, kein die gesamte Nation umspannender Gedanke. Kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Oberbayer, den es beruflich in die Lausitz verschlägt, dort Heimatgefühle entwickelt.

An dieser Stelle bemerke ich, dass ich bereits zwei Stunden an dieser Kolumne sitze und immer noch kein Ende in Sicht ist. Ich werde deshalb ein bisschen mehr Geschwindigkeit in den Text reinbringen. Was Patriotismus ist, und wo seine historischen Keimzellen zu verorten sind, dürfte ja nun jeder Leser, so er mir überhaupt bis hierher gefolgt ist, verstanden haben.

Von Big Macs und altrömischer virtus

Ich will nochmal zurückkehren zu den altrömischen Wurzeln der Vaterlandsliebe. Und in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass Patriotismus – wie die meisten Dinge, die einem kindliche Freude bereiten – zwei Seiten aufweist: Die blankgewienerte, strahlende. Partyfeiern, stolz sein, sich in der großen Welt endlich verstanden und gleichberechtigt fühlen, naiv glauben, dass wir im Konzert der Großmächte mitspielen dürfen, wir wieder wer und wichtig sind. Dann drehen wir die Münze um und betrachten die verwitterte, mit blutroter Patina überzogene Kehrseite, auf die in altertümlicher Schrift der bereits zu Anfang zitierte Spruch eingraviert steht: „Dulce et decorum est pro patria mori“. Oh weh!
Ein wahrer Patriot fährt halt nicht nur hupend nach einem Fußballsieg durch die Stadt und beschränkt sich darauf, eine Flagge im Vorgarten aufzustellen und laut die Hymne mitzusingen. Das reicht nicht. Im Verteidigungsfall eilt ein Patriot freudig zu den Waffen und kämpft für sein Vaterland. Meine beiden Großväter wussten das noch und handelten entsprechend. Ob der heutigen Spaßpatriotismus-Generation klar ist, dass man als Patriot im Ernstfall auch sterben kann?

Fernau macht in diesem Zusammenhang in seinem unterhaltsamen Buch Cäsar lässt grüßen – die Geschichte der Römer auf die Virtus aufmerksam. Dieses mythenbehaftete Wort lässt sich übersetzen mit: Tugend, Stolz, Mannhaftigkeit, Selbstdisziplin, ständige Identifizierung des einzelnen mit dem Staat. Und er beklagt bereits Anfang der 70er, dass es diesen Menschenschlag in Westeuropa nicht mehr gibt. Für ihn sind wir verweichlicht. Das wollen Sie nicht glauben?  Folgen Sie mir bitte an einem Hochsommernachmittag in eine Fußgängerzone in einer x-beliebigen deutschen Stadt. Was sehen Sie dort?

Zu fünfzig Prozent übergewichtige, kurzatmige, geschmacklos gekleidete, immerzu auf das Smartphone starrende Bürger beiderlei Geschlechts, über sämtliche Altersgruppen verteilt. Alle im Konsumrausch und auf ständiger Nahrungssuche. Sagen Sie mal einem von denen: »Heute gibt es nichts zu essen.« Er/ sie wird Sie zuerst fassungslos anschauen und dann in Tränen ausbrechen. Die alten Römer konnten locker drei Tage ohne Big Macs, Bounty-Eis und Cherry Coke auskommen, sie schliefen auf dem harten Boden, benötigten für ihren Stuhlgang keine beheizten Klobrillen und kein Dulcolax, und Sex funktionierte bei ihnen jederzeit ohne Viagra. Sobald der Senat sie zu Wurfspieß und Kurzschwert rief, ließen sie alles stehen und liegen und zogen in die Schlacht. Sie gewannen oft, verloren jedoch auch häufig. Es gab immer viele Tote zu betrauern. Man opferte sich und seine Söhne gerne fürs Vaterland.

Das ist kein Plädoyer für den altrömischen Patriotismus; verstehen Sie mich jetzt bloß nicht falsch. Die Wölfin war grausam, verschlagen und gierig. Aber: die Bürger – zumindest gilt das für die Phase der Republik – waren so erzogen worden, dass Krieg, Entbehrungen und Tod auf sie keinen größeren Schrecken ausübten als der Verlust der SIM-Karte für den modernen Kevin-Normalverbraucher. Unsere komplett individualisierte und verzärtelte Gesellschaft ist derart weit entfernt von diesem Aspekt des Patriotismus, dass es beinahe schon lächerlich wirkt, ihn nun ein viertes Mal aus seinem Grab wieder auferstehen lassen zu wollen. Erkundigen Sie sich mal bei jungen Leuten, ob die freiwillig Wehr- oder Zivildienst leisten möchten. Als Reaktion werden Sie verständnisloses Kopfschütteln und ein, »Nimm dir ne Wurst vom Grill«, ernten.

Deutschlands Zukunft liegt in Europa

Vaterlands-Heroismus wirkt sexy auf junge Nationen und Mel Gibson in Der Patriot. Für die alte Dame Bundesrepublik ist Patriotismus hingegen ein zu flotter Tanz, der nicht zu ihr passt und bei dem sie Gefahr läuft, sich gründlich zu blamieren.

Patriotismus 4.0 ist so erstrebenswert wie ein Tripper oder eine Zahnwurzelentzündung. Braucht kein Mensch. Deutschland sollte sich auf das konzentrieren, was es von 1955 bis 2000 war: Motor der europäischen Bewegung und Stimme der politischen Vernunft in einer an den Rändern bereits zerfasernden EU. Die Vision für uns Deutsche besteht weiterhin im geeinten Europa und nicht in einem Starker-Nationalstaat-Revival.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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