TAMAM – Es reicht

Ekrem Kus über den türkischen Wahlkampf und das Phänomen Tamam, das Erdogan zum Verhängnis werden könnte.


Jugend, seid ihr bereit zum Sterben?

Recep Tayyip Erdoğan, beim Parteitag seiner Parteijugend in Istanbul.

 …und was machen wir aus dem riesigen Palast? Ich werde daraus einen Hort der Wissenschaft für junge Leute machen. Ich selbst ziehe wieder in das alte Präsidentenschloss um

Muharrem Ince, sein Herausforderer von der türkischen Sozialdemokratischen Partei (CHP).

Foto: Muharrem İnce

So unterschiedlich sind die beiden Charaktere, die um das Amt des Präsidenten der Türkei konkurrieren werden. Der eine, Recep Tayyip Erdoğan, geboren und aufgewachsen im Istanbuler Bezirk Kasımpaşa, als Sohn aus dem einfachsten Verhältnissen, aber streng religiös konservativ.

Sein Herausforderer Muharrem Ince kommt hingegen aus Yalova, einer Stadt auf der gegenüberliegenden Seite des Marmarameeres. Ince war der Sohn eines einfachen LKW Fahrers und einer Bäuerin und hütete in seiner Kindheit auch die Schafe des Hauses. Er jedoch studierte auf der Uludağ Universität Lehramt und wurde Physiklehrer.
Ince hat also ein Universitätsdiplom, das laut der türkischen Verfassung, unverzichtbarer Bestandteil für die Bewerbung um den Amt des Präsidenten ist.

Diplomierte

Alle anderen Bewerber/-innen, fast alle, haben ebenfalls einen Hochschuldiplom:
Muharrem Ince (CHP) = Uludağ Universität
Meral Aksener (Iyi Partei) = Universität Istanbul
Temel Karamollaoğlu (Saadet Partei) = The University of Manchester
Selehattin Demirtaş (HDP) = Juristische Fakultät Ankara
Erdoğan’s Diplom scheint ein Staatsgeheimnis zu sein. Ebenso seine Kommilitonen, seine Fotos aus der Studienzeit und seine Erinnerungen.
Muharrem Ince, der Kandidat der Sozialdemokraten hat versprochen, bei einer der nächsten Wahlkundgebungen 5 seiner früheren Komilitonen auf die Bühne zu holen. Das wird im Land als Verhöhnung gegenüber Erdoğan gesehen, der sein Diplom immer noch nicht finden kann. Das ist ja auch nicht leicht in einem Palast mit 1000 Zimmern.

Gemeinsam mit Chancen

Die Kandidaten der Oppositionsparteien verstehen sich mittlerweile bestens, schmieden vorab Wahlkoalitionen und gratulieren sich gegenseitig. Muharrem Ince hat bereits angekündigt, den seit fast 13 Monaten inhaftierten und aus der Haft kandidierenden Leader der HDP, im Gefängnis zu besuchen.  Das kommt in dem, in den letzten 16 Jahren geschundenen Land, sehr gut an. Das Volk ist die martialischen Kraftausdrücke richtig satt. Es sehnt sich nach Frieden und Harmonie und scheinbar hat es seinen Glauben an die regierende AKP verloren.  Erdoğan hat in einer Fraktionssitzung angekündigt, wenn die Türken „Tamam“ (in diesem Fall: es reicht) sagen, würde er gehen. Seitdem haben 442.000 Türken „Tamam“ getwittert. „Tamam“ wird wohl der „Spruch dieser Wahl 2018“ werden.

Es reicht

„Es reicht“ in der Tat. Die Ungleichheit in allen Bereichen des Lebens ist unerträglich geworden. Während Erdoğan seine Wahlkampfauftritte im eigens für ihn gebauten Luxusjet des Präsidialamtes besucht, werden Kandidaten der Oppositionsparteien nicht mal in den Medien erwähnt. Flugs hatte er dem AKP-nahen Investor Demirören befohlen, die mächtige „Doğan Medya“ zu kaufen. Somit beherrschen Erdoğan-Nahe Gruppen, über 90% Medien. Der Führer der HDP, Selahattin Demirtaş etwa, muss seine Statements über seine Anwälte aus dem Gefängnis herausbringen und verlesen lassen. Die Wahlen sollten eigentlich im Herbst 2019 stattfinden. Der gewiefte Wahlkämpfer Erdoğan jedoch sah seine Felle davon schwimmen und verlegte die Wahlen vor. Die Opposition hat gerade mal 2 Monate Zeit sich vorzubereiten. Die türkische Lira verliert an Wert gegenüber USD und Euro. Die Inflation ist auf Rekordhöhe. Sogar der frühere Wirtschaftsminister sagte gestern „Ich glaube der Motor stottert“. Erdoğan will sich auf der Sympathiewelle über den Syrieneinsatz, in Präsidialamt und -zeitalter beamen. Denn, normale, gleichberechtigte Wahlen kann man das längst nicht nennen. So wurden für die ca. 60 Mio. Wähler/-innen, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, 550 Mio Stimmzettel ausgedruckt. Gesetzlich wären nur 130 Mio. möglich gewesen. Die türkische Wahlkommission hat überraschend die Stempelpflicht für Wahlzettel aufgehoben.

Und in den letzten Tagen auch die notarielle Beglaubigung von Hochschuldiplomen der Kandidaten. Das ist Erdoğan’s Demokratie- und Gleichheitsverständnis.

Auf und nieder

Nach Aussagen von Yaşar Aydın, Journalist der oppositionellen „BirGün“ Zeitung, verliert Erdoğan sogar in den eigenen Reihen den nötigen Respekt und viele Abgeordnete würden, während seiner Reden, mit ihrem Smartphone spielen. Vor zwei Tagen ließ er noch, während einer Rede alle Zuhörer im Saal aufstehen und wieder setzen. Eine Machtdemonstration, ja sogar eine Erniedrigung der Teilnehmer. Ein „Tamam“ wäre auch für seine Anhänger und Abgeordnete durchaus angebracht.

Muharrem Ince wartet bereits seit ca. 10 Jahren auf seine Chance. Er wollte schon Parteichef werden, bekam aber nicht die notwendige Stimmenmehrheit. Und er brennt darauf das Land zu verändern. Mit seinem enormen Enthusiasmus und seiner Redegewalt könnte er seine Chance für eine Rundumerneuerung nutzen. Entweder für das ganze Land, oder wenigstens für seine Partei, die seit Jahrzehnten auf Talfahrt ist.

Pläne für den Sieg

Schon schmiedet er Pläne für seinen eventuellen Wahlsieg. Er hat versprochen die parlamentarische Demokratie wiederherzustellen und nahm schon gleich nach seiner Nominierung sein Parteiabzeichen ab und steckte sich die türkische Fahne auf seine Jacke. Ein Zeichen der Unabhängigkeit und das „Versprechen der Präsident aller Türken“ zu werden. Er ist einer aus dem Volk. Wenn man mit ihm in seiner Heimatstadt Yolava durch den Wochenmarkt schlendert, kann man durchaus seine Cousine antreffen, die am eigenen Marktstand auf Kunden wartet.

Privat ist er ein zugänglicher Mensch mit „normaler“ Lebensweise. Als sein Sohn heiratete, wurde es eine gängige Dorfhochzeit der traditionellen Art. Freilich ist er ein strammer Kemalist, aber dennoch ein Modernisierer. So hat er keine Berührungsängste mit der pro-kurdischen HDP.

Meral Akşener

Ein weiterer aussichtsreicher Kandidat ist die ehemalige Innenministerin Meral Akşener. Akşener kommt aus der Nationalen MHP Partei, hat sich mit dem Parteivorsitzenden Devlet Bahçeli überworfen und eine eigene Partei gegründet. Akşener ist allerdings keine eingefleischte MHP Politikerin, sie kam aus der konservativen Partei der ehemaligen Ministerpräsidentin Tansu Çiller, deren Innenministerin sie war. Die Parteigründung verlief erstaunlich erfolgreich, trotz, oder vielleicht wegen der erheblichen Steine, die man dieser Partei in den Weg legte. Sie nahm einfach die Steine auf und baute daraus ihren Weg in die türkische Politik. Was wurde nicht versucht, sie zu behindern. Sie musste lange kämpfen einen Saal zu mieten. Hotels fürchteten den Zorn aus dem Präsidialpalast. Ihr wurden Wasser und Strom während ihrer Reden abgedreht. Graue Wölfe provozierten Schlägereien an den Versammlungsorten. Gestern erst griffen Graue Wölfe, den Wahlstand der „İyi Partei“ (Gute Partei), wie sie sich nennen, an und verletzten fünf Personen, eine davon schwer. Trotz dieser Schwierigkeiten hat Meral Akşener schon innerhalb von wenigen Stunden die erforderlichen 100.000 Unterschrift, für eine Bewerbung zur Kandidatur erhalten. Davor haben Erdoğan und sein Bündnispartner Devlet Bahçeli von der MHP große Angst. Sie wird ihnen die Stimmen der Nationalen und der Konservativen abjagen.

Selahattin Demirtaş

Selahattin Demirtaş vom HDP hat, wie erwähnt, ebenso seine Kandidatur, aus dem Gefängnis heraus, eingereicht. Er hat eine gute Chance, erhebliche Stimmen dazu zu gewinnen, da er den Menschen glaubhaft seine Opferrolle kommunizieren wird. Denn es gibt bislang keine Anklage gegen Demirtaş und seine Festsetzung ist sicherlich eine Farce. Wenn er schuldig ist, warum darf er kandidieren? Denn, nach dem türkischen Gesetz dürfen verurteilte Menschen nicht kandidieren. Wenn er nicht verurteilt ist, warum sitzt er im Gefängnis?
Die Türkei hat sich unter Erdoğan in eine Sackgasse manövriert.

Tamam. Es reicht.

Ekrem Kus

Ekrem Kuş ist 1961 in Ankara geboren und aufgewachsen. Seit 1970 lebte er in Konstanz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Berufspiloten und eine weitere zum Industriekaufmann. 16 Jahre war er in Deutschland als Unternehmensberater tätig. Seit 2009 lebte er wieder in der Türkei und war dort als Unternehmer tätig. Er vertritt deutsche und schweizer Unternehmen in der Türkei. Kuş ist geschieden und wohnt nun wieder in Deutschland.

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