Tabubruch?
Ist es wirklich ein Tabubruch, wenn man öffentlich von „unkontrollierter Masseneinwanderung“ spricht, fragt Henning Hirsch
»Hast du das von dem Tellkamp gelesen?«, fragt Jupp.
»Wer ist das?« Ich fülle gerade einen Tippschein für den kommenden Bundesligaspieltag aus.
»Der Schriftsteller aus Dresden, der … «
»Ach, der.«
»Was hältst du davon, dass er jetzt eine Erklärung zur illegalen Masseneinwanderung abgegeben hat?«
»Keine Ahnung. Ich muss mich hier echt konzentrieren. Wird Köln in Hoffenheim gewinnen oder nicht?«
…
Was ist eigentlich ein Tabu?
»Über Tabuthemen darf nicht offen geredet werden, sonst läufst du Gefahr, dass der (linke) Mainstream dich zerfetzt«, hört man in letzter Zeit oft. Und zwar nicht mehr bloß aus dem Mund der AfD-Funktionäre und von deren Anhängern, sondern ebenfalls von Intellektuellen, die einen faireren Umgang mit den Sorgen der Bürger anmahnen. Dagegen ist erstmal nichts einzuwenden. Auch ich habe manchmal Sorgen und bin dann froh, wenn jemand die sich anhört. Zum Beispiel: wird meine kleine Rente in ein paar Jahren ausreichen, um meinen aktuellen Lebensstandard auch nur zur Hälfte aufrecht zu erhalten, was hilft schnell bei Hexenschuss, steigt der FC im Mai in die zweite Liga ab? Aber um so profane Ängste geht es Tellkamp und seinen Mitstreitern natürlich nicht. Sie warnen vor illegaler Masseneinwanderung und der Tabuisierung des Themas.
Was ist überhaupt ein Tabu? Sigmund Freud beschreibt es so:
Das Tabu (-verbot) entbehrt jeder Begründung, ist unbekannter Herkunft, für uns unverständlich, erscheint es jedem selbstverständlich, der unter seiner Herrschaft lebt.
(in: Totem und Tabu, 1913)
Oder andersherum ausgedrückt: Ein Tabu ist etwas Verbotenes, etwas Unausgesprochenes, gar Unaussprechliches. Etwas, über das man sich – falls überhaupt – nur im kleinen Kreis und hinter vorgehaltener Hand unterhält.
Hier ein paar Beispiele für Tabus: Pornos (alle schauen sie, aber niemand will offen zugeben, dass er es tut), die Vielehe (unsere christliche Prägung zwingt selbst Atheisten zur Monogamie), Sex mit Minderjährigen, (bis vor kurzem noch) offen gelebte Homosexualität, die Forderung nach einer flächendeckenden Höchstgeschwindigkeit auf deutschen Straßen, die Relativierung oder gar Leugnung des Holocausts, der Waffenbesitz in den USA, das deutsche Reinheitsgebot und die Ausschließlichkeit der Verwendung von Hartweizen bei der Herstellung italienischer Pasta.
Gefolgt von Kostproben für Tabubrüche: in der frühen Neuzeit zu behaupten, dass die Erde um die Sonne kreist (Kopernikus und Galileo), die Monarchie abschaffen wollen (Lenin, Trotzki), Anfang des 20sten Jahrhunderts das allgemeine Frauenwahlrecht einfordern (Emmeline Pankhurst), unter McCarthy zu sagen, dass jetzt am Sozialismus nicht alles schlecht ist (Joseph Losey, Carl Foreman, Charles Chaplin, Arthur Miller), den Roman „Die Geschichte der O“ zu Papier zu bringen (Anne Desclos aka Pauline Réage), in den 70er Jahren nackt durch deutsche Innenstädte laufen, Rushdies „Satanische Verse“.
Die oben genannten Tabubrecher waren sofort bedroht von Berufsverbot, Gefängnisstrafen oder gar dem Tod. Weil’s halt richtige – und mutige – Tabubrecher waren.
Nicht alles, wo Tabu draufsteht, ist tatsächlich eines
Zurück zu Tellkamp und seinem Illegale-Masseneinwanderungstabu. Auch über diese Sorge kann man selbstverständlich diskutieren. Warum nicht? Also wollen wir es hier mal tun. Aber wenn ich es mir recht überlege: wir reden doch seit gut zwei Jahren über kaum was anderes als Flüchtlinge und den Islam. Und zwar jeden Tag, in jeder Zeitung und auf jedem Fernsehkanal. Es ist ja nun nicht so, dass der Dresdner Autor der Erste wäre, der die Brisanz des Themas entdeckt und offen anspricht. Das haben vor ihm schon zig tausend andere getan, bis hin zu Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht, das allerdings bis heute keine einzige dieser Eingaben als triftig akzeptiert hat und deshalb alle zurückwies.
Was also meinen Tellkamp und Dobrindt – um zwei der aktuellen Wortführer der konservativen Revolution herauszupicken –, wenn sie vor der Tabuisierung der Islamfrage warnen, sich selbst sogar zu Tabubrechern hochstilisieren? Denn, dass sie uns ihre Meinung nicht mitteilen dürften, ist offenkundiger Unsinn. Sie tun es und zwar sehr viel öfter, als ich persönlich sie lesen und hören möchte. Und ihre Aussagen werden von der Presse auch nicht totgeschwiegen, sondern – ganz im Gegenteil – eifrig publiziert. Andernfalls gelangte ich Durchschnittsrheinländer ja überhaupt nicht in Kenntnis der Ansichten von Herrn Tellkamp, der mir vorher ein völlig Unbekannter war. Ich soll mehr Romane lesen, sagen Sie? Tue ich, aber halt nicht die von Herrn Tellkamp. Dass also vom Mainstream abweichende Meinungen unter den Tisch fallen oder gar Zensur herrscht, ist ein derart hanebüchener Vorwurf, dass es sich für mich nicht lohnt, an dieser Stelle ernsthaft darauf einzugehen.
Die Mär vom (linken) Mainstream
Wer oder was ist eigentlich der (linke) Mainstream, den die Rechten so verachten?
Bei 300 Tageszeitungen, Dutzenden Politmagazinen, jeder Menge TV-Sender, die unterschiedlichen politischen Richtungen angehören, kann von einer staatlich gelenkten Einheitspresse nun wirklich keine Rede sein. Was der Spiegel nicht haben will, veröffentlicht dann eben der Focus, was der FAZ zu links erscheint, wird in der Süddeutschen abgedruckt, wer nicht von ARD-Maischberger eingeladen wird, sitzt zwei Tage später bei ZDF-Lanz etc etc. Dass die AfD nicht zu Worte käme: ein dummes Gerücht. Derart häufig, wie ich Gauland, Weidel, Storch in den Talkshows erblicke, stellt sich bei mir bereits seit Monaten ein Gefühl der ungesunden Übersättigung durch zu viel hellblaues Blabla ein.
Zwischenfazit 1: den (linken) Mainstream gibt es nicht. Er ist ein von den Konservativen konstruiertes Phantom zum Zwecke der generellen Diskreditierung von Andersmeinungen
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Was ist dran am Vorwurf der Lückenpresse?
Schwieriger, weil für Außenstehende kaum beweisbar, ist die Klärung des Vorwurfs, dass Vorkommnisse unter den Tisch gekehrt werden – die sogenannte Lückenpresse –, wir also vorsätzlich im Irrglauben belassen werden, die Spitze sei bereits der Eisberg. Oder, um einen Satz des früheren Bundesinnenministers zu zitieren:
Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern
Unterstellt, es gäbe tatsächlich solche Verschleierungsversuche (moslemischer) Straftaten: (a) wer soll die angeordnet haben? (b) halten alle Beteiligte 24/7 dicht? (c) weshalb sollte die Presse, sobald sie Wind davon bekommt, darüber nicht berichten? Als ob sich die Bildzeitung so eine Schlagzeile entgehen ließe.
Ich will gar nicht kategorisch ausschließen, dass manche Organisationen religiöse Konflikte zwischen Mitarbeitern, Studenten, Schülern etc. lieber intern regeln, als die an die große Glocke zu hängen. Aber was, außer der Befriedigung unserer Neugier, wäre gewonnen, wenn sie es täten?
Dass Kapitalverbrechen verschwiegen werden, glaubt außer notorischen Verschwörungsjunkies keiner ernsthaft. Oder mittlerweile doch?
Die bei Tabubruch eventuell drohenden Konsequenzen
Interessanter ist es, sich mit den von den rechten Rebellen befürchteten Konsequenzen ihres publizistischen Tuns zu beschäftigen. Die da lauten:
(1) „Ich werde harten Gegenwind ernten.“ Klar, werden sie das. Passiert allerdings ebenfalls einem Linken, der die Verstaatlichung des Bankenwesens fordert oder einem Fußballspieler, der seinen Trainer disst. Wird auch mir im Anschluss an diese Kolumne widerfahren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit bekomme ich 50x zu lesen, dass ich entweder naiv, völlig ahnungslos oder ein Islamproblem-Schönredner oder alles drei zusammen bin. Kann ich mit leben. Jeder, der sich in der Öffentlichkeit äußert, sollte sich vorher prüfen, ob er Kritik an seiner Kritik erträgt. Wer das nicht kann: besser die Klappe halten. Man muss nicht in jedes einem hingehaltene Mikrophon reinplappern.
(2) „Man wird mich als Nazi beschimpfen.“ Das ist fürwahr eine Unsitte: die Keule wird zu schnell und zu oft geschwungen. Allerdings zuvorderst im privaten Gespräch und in den sozialen Netzwerken. In den seriösen Medien liest man den Begriff eher selten. Nicht jeder, der einen anderslautenden Standpunkt einnimmt, ist deshalb gleich ein Faschist. Manche sind bloß besorgt, stockkonservativ oder reaktionär. Die rechte Skala weist – wie die linke – Abstufungen auf. Mir wurde auch schon einige Male „Linksfaschist“ um die Ohren gehauen. Ich zucke dann mit den Schultern und scrolle zum nächsten Kommentar weiter.
(3) „Ich werde Nachteile zu erwarten haben.“ Welche konkret könnten das sein? Dass ein konservativer Tabubrecher ins Gefängnis wanderte, wäre mir neu. Am wahrscheinlichsten wären mithin Berufsverbote. Aktuelles Beispiel sei die Distanzierung Suhrkamps von den Äußerungen Tellkamps, behaupten nicht wenige Kommentatoren in Facebook. Ob es klug war, das zu tun, kann man durchaus diskutieren. Was aber definitiv nicht vorliegt, ist ein Berufsverbot. Denn Suhrkamp als privatwirtschaftlichem Unternehmen steht es selbstverständlich zu, Bücher zu publizieren oder Manuskripte – aus welchem Grund auch immer – abzulehnen. Nennt man: Vertragsfreiheit. Zudem bleibt abzuwarten, ob Suhrkamp einen seiner Starautoren tatsächlich entsorgt, oder es nicht vielmehr bei der kleinen Abmahnung belässt. Sollte sich das Berliner Traditionshaus von Tellkmap trennen, müsste der sich eben einen neuen Verlag suchen. Zwar etwas mühsam, jedoch weit entfernt von einem Berufsverbot. Aber auch hier gilt das weiter oben Gesagte: wenn’s blöde läuft, kann jeder, der sich öffentlich äußert, dafür abgestraft werden. Erkundigt euch mal bei Fußballtrainern, wie schnell die fliegen, wenn sie was sagen, was der Vereinsspitze nicht in den Kram passt. Das ist fürwahr kein Phänomen, das sich auf rechte Rebellen eingrenzen lässt.
Zwischenfazit 2 – Konsequenzen: alles Lichtjahre entfernt von dem, was den weiter oben genannten richtigen Tabubrechern drohte.
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Tabubrecher heute: vor allem realitätsleugnende Geschichtenerzähler
So falsch es also ist, von EINEM (linken) Mainstream zu sprechen, so verkehrt ist es, die Flüchtlingsfrage als Tabu zu geißeln, das es zu überwinden gilt. Beides trifft nicht zu. Die Presselandschaft bleibt bunt und der publizistische Umgang mit den beiden großen – und zusammenhängenden – Themen Migration und Islam wird seit Anbeginn von vielen Pro- und Contraargumenten geprägt.
Wer hingegen glaubt, die Verlautbarung, „Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird“, sei eine Heldentat, hält es sicher ebenfalls für mutig, wenn man in der Öffentlichkeit vor zu viel Zucker in Nutella warnt oder dem britischen Außenminister einen Friseurbesuch empfiehlt. Nein, all das ist weder draufgängerisch noch gar ein Überschreiten tabuisierter Grenzlinien! Es sind Sätze, die schon tausend Mal vorher ausgesprochen wurden, ohne dass irgendeine Sanktion erfolgte. Rebellentum ist wirklich was anderes als die in ihrer politischen Schlichtheit erschreckende „Gemeinsame Erklärung“ vom 15. März.
Wer ein Tabu bricht, das gar nicht besteht, ist eher ein realitätsleugnender Geschichtenerzähler als ein (konservativer) Revolutionär. Ob uns seine Meinung gefällt oder nicht: sie wird vervielfältigt und in jeden deutschen Haushalt transportiert. So dass nun auch ich – Express- und Bukowskileser – weiß, dass Tellkamp den Roman „Der Turm“ verfasst hat. Das ist Werbung, über die er sich eigentlich freuen sollte.