MeToo und das Problem der Einzelfallgerechtigkeit

In dieser Kolumne beschäftigt sich Ulf Kubanke mit dem strukturellen Problem der unbewiesenen Denunziation am momentan prominentesten Beispiel. Dabei geht es ihm weder darum, #MeToo noch Opfer sexueller Gewalt zu relativieren, sondern darum, die Bewegung von ihren bisweilen tönernen Füßen auf ein festes Fundament zu stellen, Verschwörungstheorien zu verhindern und das überfällige Sichtbarmachen von Opfern in die ethischen Grundsätze unserer humanistischen Gesellschaft ein zu binden – quasi die Weiterentwicklung des Prototyps.


The reasons all have run away. But the feeling never did.
(Connor Oberst/Bright Eyes in „Lua“)

Fast ein jedes Ding hat seine zwei Seiten; ein jedes Schwert seine zwei Schneiden. Bei MeToo und ähnlichen Instrumenten ist es nicht anders. „Bravo!“ kann man nur ausrufen für den überfälligen Verdienst, Opfern sexueller Übergriffe eine Stimme zu geben. Denn ab jenem Moment, der dem Tatopfer die Scham nimmt und den Mut zur Artikulaton impft, schwindet oft peu a peu simultan das fatale, traumatisierende Gefühl absoluter Machtlosigkeit bzgl. der erlittenen Ungerechtigkeit. Als willkommener und jeglichem Erkenntisgewinn zuträglicher Seiteneffekt offenbarte sich ein Bild institutionalisieter, hierarchisierender und oft auch ritualisierter Machtstrukturen, deren Mechanismen nunmehr schlüssig diagnostisiert, analysiert und schlussendlich bekämpft werden können.

Daraus ergibt sich für etliche Gesellschaften – auch für unsere – die praktische Chance, unser Denken und Handeln ein weiteres Stückchen von Höhlenmenschen und Egoshooter hin zum empathischen, reiferen Wesen zu entwickeln. Um diesen Acker möglichst steinfrei zu kultivieren, ist es jedoch notwendig, mit dem Instrument und den sich hieraus ergebenden Mechanismen nicht zu schnell zufrieden zu sein. Bei Auto und Flugzeug haben wir uns ja auch nicht mit Doppeldecker und T-Modell begnügt, sondern die Grundidee stetig fortentwickelt.

Meine These: So richtig gut ist ein öffentllicher Mechanismus nur dann, wenn er möglichst keine neuen Opfer produziert und selbst immun gegen etwaigen Missbrauch des Instrumentariums „öffentliche Meinung“ wird. Hiervon ausgehend ergibt sich aus meiner Sicht folgendes Bild:

1. Das Problem

Jegliche Unsicherheit – von der rechtlichen bis zur moralisch-sozialen – bedeutet notwendigerweise auch immer Unfreiheit. Der gut gemeinte Ansatz klappt insofern leider nur, sofern man voraussetzt, dass jegliche anklagende Wortmeldung ausnahmlos bereits die Verifikation als Opfer verkörpert. Man muss kein Jurist oder Philosoph sein, zu erkennen, dass letzteres kriminologisch natürlich großer Unsinn ist. Nicht umsonst existiert der § 164 StGB in Form der sog. „Falschen Verdächtigung“.

Mangelnde Einzelfallgerechtigkeit und eine Rückkehr zum Marktplatzpranger ist das sich hieraus ergebende Problem; mithin automatisch ein humanistischer Rückschritt in jenen Fällen, die der per Facebook, Twitter oder Medien erfolgten Anschuldigung keinerlei untermauernde Beweise oder Indizien folgen lassen.
Ohne solche Hinweise ist es keine Aufklärung, sondern eine Rückkehr zur Inquisition. Letzteres meine ich nicht etwa polemisch. Denn die Inquisition ist das Gegenteil zu unseren reifen Gesellschaften, weil sie den Angeklagten solange als schuldig behandelte, bis dieser oder ein Gottesurteil seine Unschuld bewies.

2. Die Gefahr:

Man wäre so gern Monte Christo, endet aber lediglich als Torquemada.

3. Die Frage:

Wie kann man ein, überfälliges Sichtbarmachen von Opfern sexueller Gewalt erreichen und das Ansinnen aus dem Kontext inhumaner Vorverurteilung herausbrechen, damit es medial wie sozial nicht von einzelnen Tätern und dem Schlepptau einer manipulierten, willfährigen und meist nicht gerade differenzierungsfreudigen Social-Media-Masse als Werkzeug missbraucht wird?

4. Der kriminologische Mangel

Somit liegt der Hase an folgendem Punkt im Pfeffer: Es gibt eben nicht nur die eindeutigen Fälle wie mutmaßlich Cosby, Wedel oder Weinstein. Wäre alles so einfach deutbar, bräuchten wir weder Polizei, noch Gerichte oder forensische Untersuchungen etc. Stattdessen genügte die simple Glaubensfrage, entlehnt aus einer Zeit, in der man die Erde für eine Scheibe hielt.
Was hätte MeToos Dynamik wohl mit Kachelmann gemacht?
Mit Grausen erinnern wir uns an die damalige mediale Vorverurteilungskampagne mit teils prominenter, höchst manipulativer Beteiligung.

Was wäre mit Connor Oberst (von Bright Eyes) passiert?
Wir erinnern uns: Der ebenso verdiente wie sensible Musiker sah sich nach unbewiesenen, ins Blaue hinein gebrüllten Beschuldigungen der Vergewaltigung einem öffentlichen Zuneigungsverlust und Pranger ausgesetzt, der sich späterhin als falsch herausstellte. Die Öffentlichkeit saß hier einer bewussten Lüge auf. So etwas kann sogar hartgesottene Charaktere traumatisieren und labile Menschen gen Suizid treiben.

Was mit anderen Personen, deren Unschuld sich erst späterhin – nach erfolgter Schädigung – herausstellen könnte?

Was ist mit Fällen a la Björk vs. Lars von Trier oder Michael Gira von den Swans?
Ersterer Sachverhalt band die Öffentlichkeit ein, ohne Zeugen etc zu präsentieren, so das nun die Frage im Raum steht: berechtigter Sturm oder doch nur die kleinliche Auseinandersetzung zweier in herzlichem Hass verbundener Showbiz-Giganten?
Im Fall Gira folgte ebenso nichts nach dem Öffentlichkeitsalarm. Es bleibt die Unsicherheit: Übergriff eines Rockstars oder enttäuschte Ex-Liebhaberin!

Was passiert gerade im unsäglichen Fall übelster Vorverurteilung a la Woody Allen?
Letzterer ist womöglich das traurigste Paradebeispiel, wie unangenehm gut potentieller Rufmord als Mechanismus funktionieren kann samt Manipulation der öffentlichen Meinung, sobald nur ein paar Krokotränen im TV auftauchen. Wer hört dort noch auf die juristische Faktenlage und Gegenansichten wie jene von seriösen Augenzeugen a la Moses Farrow, die bei unvoreingenommener Recherche womöglich deutlich glaubwürdiger anmuten oder zumindest ebenso plausibel als mutmaßlich von Mia Farrow gebrainwashter Rachefeldzug?

Doch kaum jemand hört noch zu. Kaum jemand interessiert sich für Sachlichkeit, Beweise etc. So weicht die Analyse einem sich verselbständigenden, moralpanischen Impetus, der niemals konstruktiv sein kann. Die Bilder von Meinungsmachern wie Femens Aktion in der Elbphilharmonie sind medial eben weit stärker als jede Unaufgeregtheit oder Unschuldsvermutung in diesem exemplarischen Fall. Genau aus diesen Gründen taugt er zur Verallgemeinerung.
Sein Ergebnis: Ein gräßliches In Dubio Contra Reum bei „Aussage gegen Aussage“? Leider ja! Eine Situation, wie man sie aus dunkelsten Zeitaltern kennt und längst für philosophisch überwunden hielt.

Zwischenergebnis zum Status Quo:

Es zeigt sich mithin, dass unsere demokratischen, rechtstaatlichen, ethischen und humanistischen Grundsätze wie etwa „Man höre auch die andere Seite“ in Zeiten unseres unkultivierten Wutbürgertums völlig außer Kraft gesetzt werden, weil die öffentliche Reaktion mittlerweile oft lynchmobbend, emotional, postfaktisch und moralpanisch ausfällt. Emotionolisierung ersetzt Rationalität und Beweisführung. Allemal kein guter Tausch und in der Tat ein inquisitorisches Rechtsverständnis, welches jegliche entlastende Argumentation weitestgehend negiert und kraft medialer Symbolik komplett nivelliert..

Mein Plädoyer:

Zweifelsfrei geklärt werden kann fast alles immer nur im Rahmen eines rechtlichen Verfahrens und/oder per seriöser detektivischer/journalistischer Recherche. Alle Verkündung ins Blaue hinein birgt Gefahren von Irrtümern, die für Betroffene tödlich oder zumindest ruinös enden können. Es irritiert mich, dass man derlei Selbstverständlichkeiten anno 2018 überhaupt einfordern muss.
Schuldig qua behauptung?
In Dubio Contra Reum?
Nein! Da gruselt sich der Jurist und der Humanist gleichermaßen in mir.
Nicht minder gruseln beide Seelen in meiner Brust sich jedoch auch vor einer möglichen Schlussfolgerung gen „Maulkorb“.
Denn im Grunde ist die Lösung so einfach wie offenkundig.

Selbstverständlich (s.o.) soll man zwecks Verarbeitung der Öffentlichkeit das eigene Missbrauchserlebnis schildern, sich Luft machen und zu Gehör bringen. Hat man Beweise, nennt man Namen. Hat man keine, nennt man den Tathergang ohne Namen Dritter zu nennen und die Öffentlichkeit zur Tatwaffe zu machen. Und schon wirkt die Einzelfallgerechtigkeit augenblicklich nicht mehr als Einbahnstrasse, sondern in beide Richtungen.
Soviel Minimalkonsens muss gesellschaftlich sein. Sonst endet die Dynamik zuende gedacht in der totalen Aushebelung rechtsstaatlicher wie ethischer Verhaltensmuster zugunsten von Selbstjustiz und Verschwörungstheorien. Und an beidem hatte die Menscheitsgeschichte mehr als genug zu knabbern.

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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