Kochen mit Hartz 4

Henning Hirsch hat leckere Hartz 4-Kochrezepte recherchiert und dabei nebenher erfahren, dass chronisch Arme in Deutschland bis zu elf Jahre kürzer leben als ihre normal verdienenden Nachbarn


»Ich werde einen Selbstversuch starten«, kündigt Heinz an, als wir am Montagabend in der Sky-Sportsbar das Auswärtsspiel des FC in Bremen anschauen.
»Hast du dich zu nem ambulanten Pharmatest überreden lassen? Elefantenviagra für hoffnungslos Erektionsgestörte?«, fragt Jupp, der angefressen ist, weil Köln 1 zu 2 zurückliegt.
»Ob man sich für 4.80€ einen Monat lang gesund ernähren kann. Denn das bezweifelt ihr zwei Kommunisten ja. Und ich werde euch demonstrieren, dass es funktioniert. Ganz bequem sogar.«
»Das ist in etwa so beweiskräftig, wie sich im Januar zehn Minuten lang mit blankem Arsch ans Ufer des Baikalsees zu setzen, um dann zu schreien: SO kalt, wie ihr ständig behauptet, ist es in Sibirien überhaupt nicht«, meint Jupp dazu.
»Wobei Heinz ein Monat Fasten nicht schaden würde. Machen viele in der Zeit vor Ostern«, sage ich.

Was geht alles für 4.80 Euro?

Natürlich kann man sich von den im Hartz 4-Regelsatz für Lebensmittel vorgesehenen 4.80 Euro ernähren. Ohne dabei zu verhungern. Ob dauerhaft gesund, sei jetzt mal dahingestellt. Aber für nen knappen Heiermann irgendwie satt werden, klappt. Haben Jupp und ich auch nie in Zweifel gezogen. Ich komme an manchen Tagen mit weniger aus. Was aber an meinen speziellen Ess- bzw. Nicht-Essgewohnheiten liegt. Mir reichen manchmal ein paar Butterbrote, um mich für den ganzen Tag gekräftigt zu fühlen. Eine „Gabe“, die ich von meiner Mutter geerbt habe. Die aß so gut wie nichts. Aber für alle anderen – beispielsweise mein Vater –, die an regelmäßige dreimalige Nahrungsaufnahme gewöhnt sind, wird’s schon eng mit den 4.80€. Das von meinem Vater heißgeliebte Stück Kuchen vom Bäcker gegenüber  für den kleinen Hunger am Nachmittag dürfte bei diesem bescheidenen Budget entfallen. Vom 21 Uhr Glas Rotwein, um besser einzuschlafen, brauchen wir gar nicht erst zu reden. Jetzt gibt es Spezialisten, die einem auf den Zehntelcent genau vorrechnen, was man sich mit 4.80€ alles Leckeres leisten kann. Im Hartz 4-Forum von chefkoch.de findet man diese Tipps:

selbstgemachte Pizza (da lassen sich hervorragend reste vom Vortag verwerten)
Fischstäbchen mit Kartoffelpürree und Mischgemüse
Ofenkartoffeln mit Kräuterquark
Spagetti mit Tomatensoße
Reibekuchen + Apfelmus
Zwiebelkuchen
Bechamelkartoffeln
Senfeier mit Kartoffeln
Kartoffel- oder Nudelauflauf
Leber mit Apfel und Zwiebeln
Sahnemöhren mit Hackfleisch und Reis
Königsberger Klopse
Möhrenularsch (wenig Fleisch, dafür viele Möhren)

oder:

extrem preiswert sind alle Sorten Eintopf mit (trockenen und selbst eingeweichten) Hülsenfrüchten, das schmeckt auch ohne Fleisch bzw.nur mit etwas Speck, und da kann es auch schon etwas schicker sein … wenn man z.B. Waldkönigins duftendes Rote-Linsen-Süppchen etwas vereinfacht …  Gemüseeintöpfe mit Frischgemüse der Saison, vorgestern haben wir für kleinstes Geld einen großen Topf Caldo verde gekocht, Materialkosten knapp 2 Euro, ergab 6-8 Portionen (Rezept in meinem Profil), einen Teil haben wir eingefroren, den Rest mal mit, mal ohen Wurst gegegssen.

oder:

Linsen-/Erbsensuppe
Kartoffeln mit Nudeln (ähnlich wie Kartoffelsuppe nur noch mit zusätzlichen Spätzle drin)
Apfelschmarrn (CK)
Würstchengulasch
gebratene Leberkäs Scheiben mit Püree und gebratenen Zwiebelringen

Es folgen hunderte weiterer Rezeptvorschläge für den schmalen Geldbeutel.

Welche Produkte einzukochen oder einzuwecken sind, was man in großen Mengen kauft und einfriert, welche Tafeln besser sind als andere, wo Sonderangebotaktionen locken: für alles gibt es Tipps. Das Leben als Dauerschnäppchenjagd nach Dosenravioli, Hollandtomaten und abgepacktem Schnittkäse. Mit Geduld und etwas Glück ergattert man hin und wieder ein Stück Entrecôte kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums. Ich persönlich würde jedoch sowohl am Einkochen und Einwecken scheitern, und Sonderangebotaktionen, wo ich auf hunderte von Kaufmordlust getriebene Menschen treffe, meide ich wie der Abstinenzler den Duty Free Shop mit den Billigspirituosen. Okay, für den Hartz 4er gelten andere Regeln. Nicht so richtig beantwortet, wird zudem die Frage, wie man sich von 4.80€ 3x täglich ernährt, und welche Getränke man dafür bekommt. Aber: geschenkt. Das ist ja schon wieder SEHR kritisch von mir nachgefragt. Wussten Sie übrigens, dass die Lebenserwartung chronisch armer Menschen bei uns in Mitteleuropa acht (Frauen) bis elf (Männer) Jahre geringer ausfällt als bei Normalverdienern? »Irgendwann sterben wir alle«, sagen Sie dazu? Stimmt natürlich auch wieder.

Hartz 4 ist staatlich verordnete Armut

Hartz 4 ist Armut. Zwar keine lebensbedrohende Armut wie in der Dritten Welt , aber Armut. Man kann als Marktliberaler mit den Schultern zucken und denken: ein bisschen Armut ist eben immer. Kein System ist vollkommen. Sehe ich zwar anders. Denn auch relative Armut kann die davon Betroffenen gegenüber der wohlhabenderen Mehrheit ausgrenzen und benachteiligen. Aber wenn ich nun auch noch anfinge, die Nachteile dieser Form von Armut aufzuzählen, entwickelte sich die Kolumne zu einer Seminararbeit. Was keiner (inkl. Verfasser) will. Was aber überhaupt nicht geht, ist es, diesen Menschen von oben herab arrogante Ratschläge erteilen zu wollen. À la Sarrazin: Wenn die Heizkostenrechnung zu hoch ausfällt, dann mehrere Pullover anziehen oder: Kalt duschen ist eh gesünder. »So was tun nur unanständige Zeitgenossen, die kein Herz haben«, hätte meine Großmutter väterlicherseits gesagt. Die war zwar nie arm gewesen, kannte jedoch aus der Nachkriegszeit das Gefühl des Hungers und der im Winter ständig unterkühlten Wohnung und wäre nie im Traum auf die Idee gekommen, darüber Witze oder blöde Bemerkungen zu machen.

Über vier Millionen Menschen beziehen ALG 2, knapp zwei Millionen Kinder müssen hinzugezählt werden. Viele davon dauerhaft. Das ist – auch statistisch gesehen – jetzt keine vernachlässigbare Größenordnung. Und beim Dauerhaft beginnt das eigentliche Problem. Denn ALG 2 war ja gemäß Erfinder Peter Hartz – was ist übrigens aus dem geworden? – als kurzfristige Überbrückungsfinanzierung zwischen zwei Jobs gedacht gewesen. Zumindest wurde das bei der Einführung dieses Regelwerks von den Verantwortlichen behauptet. Den Bezugszeitraum von ALG 1 verkürzte man deshalb auf zwölf Monate. Der aus der Simon’schen Anreiz-Beitrags-Theorie ausgeliehene Gedanke lautet: Wer wenig Gratiskohle erhält, wird seinen Hintern schnell in Richtung neues Beschäftigungsverhältnis schwingen. Bloß nicht aufgrund von zu viel Alimentation zu Hause auf dem Sofa rumgammeln.

Wer in staatlich verordneter Armut lebt, will die Zeitdauer dieses miserablen Zustands möglichst kurz halten. Das leuchtet theoretisch ein. Selbst Kommunisten wie Jupp und mir. Wobei Jupp seit Jahrzehnten sein Kreuz bei der CDU setzt. Allerdings spielt die Realität bei diesem vordergründig logischen Gedankengang leider nicht immer mit. Die Vermittlungsquoten der Jobcenter sind unterirdisch. Nun können die Sachbearbeiter jedoch nur bedingt was für die bescheidene Erfolgsbilanz.  Es ist halt eine Mission impossible, Menschen Jobs besorgen zu wollen, die es für sie gar nicht gibt. Und so zwangen die JCs ihre Kunden (netter Euphemismus) von Beginn an zur Aufnahme von Tätigkeiten, für die diese Personen absolut überqualifiziert sind. Ich erinnere mich an den insolventen Fachanwalt für Familienrecht, den man in eine Behindertenwerkstatt setzte, wo er Billigelektronikbauteile zusammenlöten sollte. Der frustrierte Mann investierte daraufhin seine Hartz 4-Kohle in Schnaps, ließ sich ein Jahr später arbeitsunfähig schreiben und wechselte von ALG 2 in die Sozialhilfe. War damit raus aus der Statistik. So kann man einen Fall natürlich auch als erledigt abhaken. Beliebt sind ebenfalls Fortbildungen oder Kurse wie: „Vom professionellen Lebenslauf zum hoffnungsvollen Bewerbungsgespräch“ (dauert, inkl. hübschem Portraitbild vom Fotografen vier Wochen). Warum nicht? Ich hatte mal einen türkischstämmigen Nachbarn – doch, doch, er sprach fließend Deutsch, mochte Erdogan überhaupt nicht, und die Tochter trug kein Kopftuch. Muss man heute ja alles dazuschreiben -, der als gelernter Heizungsinstallateur in sage und schreibe fünf Umschulungsmaßnahmen gesteckt wurde, in deren Anschluss man ihn jedes Mal in bezuschusste Arbeitsverhältnisse zwangsvermittelte. Sobald die Förderung auslief, wurde er noch am selben Tag entlassen. Schließlich heuerte er bei seinem Cousin in einem Dönergrill an. und seine Frau putzt. Ob das besser ist, als gar nicht zu arbeiten? Fragen Sie Herrn Spahn. Der ist jetzt der neue Armutsexperte im Kabinett Merkel IV. Vielleicht wird er uns ja demnächst – wie weiland Thilo Sarrazin – mit einem ALG 2-Kochbuch beglücken. Dem Ghostwriter bei einem 150-Euro-Arbeitsabendessen in einem Berliner Szenelokal in die Feder diktiert.

Würden Sie zu Ihrem neuen Job auch pendeln? Falls ja: wie weit? Wären Sie bereit, umzuziehen? Solche Fragen werden den ALG 2-Beziehern gestellt. Pendeln ohne Auto und ohne Jobticket ist mühsam und vor allem teuer. Für einen auf sechs Monate befristeten 1.500€-Job umziehen? Wer denkt sich sowas aus? Keiner der Sachbearbeiter würde das tun. Aber für die Kunden gelten eben andere Regeln (habe ich weiter oben schon gesagt. Weiß ich).

Die Zeche für Managementfehler zahlt oft der Staat

Hartzer, Minilöhner, Aufstocker, und wie das moderne Industrie-& Dienstleistungs-Prekariat sonst noch heißt, sind Menschen, die von der Wirtschaft betriebs- oder krankheitsbedingt ausgespuckt wurden. Externalisierung interner Kosten nennt man das, wenn schlechte Entscheidungen des Managements zu Massenentlassungen führen, deren Finanzierung dann vom Steuerzahler aufzubringen ist. Vom ethischen Blickwinkel aus ganz kritisch zu beurteilen sind Beschäftigungsverhältnisse, bei denen den Angestellten Hungerlöhne gezahlt werden. Und das tun manche Unternehmen mittlerweile flächendeckend und mit System. Von bedauerlichen Einzelfällen kann längst keine Rede mehr sein. Ich halt’s da mit Franklin D. Roosevelt, der bereits 1933 wusste:

Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Land kein Recht mehr haben, weiter ihre Geschäfte zu betreiben.

Es ist höchste Zeit für eine Radikalreform

Es bringt meiner Meinung nach wenig bis gar nichts, Placebos wie 5-Euro-Erhöhungen des Regelsatzes oder ein paar kleine Befreiungen und Ausnahmetatbestände beim stets drohenden Sanktionsmechanismus anzubieten. Das ganze System gehört auf den Intensiv-Prüfstand. Besser noch: Es sollte schleunigst durch was Neues ersetzt werden.

Falls die Wirtschaft ü50-Arbeitslose – um nur eine Gruppe exemplarisch herauszupicken – nicht mehr absorbiert, muss gehandelt werden. Das Hinüberschieben früherer Dozenten, Unternehmer und Freiberufler In ausbeuterische Paketdienste oder Call-Center-Jobs kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Das Prinzip des freien Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt ist nicht sakrosankt. Sobald dauerhafte Friktionen auftreten, ist der Staat verpflichtet, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und kann nicht einzig auf hilflose JC-Sachbearbeiter und dubiose Zeitarbeitsfirmen vertrauen. In einer länger anhaltenden Krisenperiode darf der öffentliche Dienst nummerisch auch mal wieder wachsen, anstatt sich ständig „gesund“ zu schrumpfen.

Ich behaupte: 98% der ALG 2-Bezieher wären SOFORT arbeitsbereit, wenn man ihnen zu ihrer Ausbildung passende, menschenwürdige Jobs anböte. Die Mär vom faulen, in Jogginghosen zu Hause auf dem Sofa rumlümmelnden, trinkenden und rauchenden Hartzer ist erstunken und erlogen. Viele sind mittlerweile desillusioniert bis hin zu verzweifelt. Das umschreibt die traurige Wahrheit schon eher.

Um zum Schluss der Kolumne auf das 4.80€-Experiment zurückzukommen: Heinz hat es doch nicht angetreten. Jupps Einwand mit der geringen Beweiskraft fiel bei ihm auf fruchtbaren Boden, und er war insgeheim froh, sich nicht einen Monat lang kasteien zu müssen. Alleine Heinz‘ Frühstück kostet mehr, als den ALG 2-Beziehern für den gesamten Tag zusteht. Und es wäre Heinz auch sicher schwergefallen, auf seinen abendlichen Viertelliter Montepulciano d’Abruzzo zu verzichten.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

More Posts - Website

Follow Me:
Facebook

Schreibe einen Kommentar zu Udo Theiss Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert