Ach du großer Gott!

Im vierten Teil seiner Bach & Sachgeschichten nimmt Clemens Haas uns mit in die Klangwelten der Kirchenmusik. Und selbst da bringt er Trifonov unter.


Als Kolumnist für klassische Musik führt man ja ein Nischendasein: In einer von einer flackrigen Laterne, die von der Stadtverwaltung seit Jahrzehnten nicht repariert wird, beleuchteten Seitengasse, in der Regel unbeachtet vom Publikumsverkehr auf der Hauptstraße, manchmal bespuckt, an sonnigen Tagen manchmal auch wohlwollend belächelt von ansonsten freundlich desinteressierten Passanten.

Ich möchte dafür aber bitte kein Mitleid, mir gefällt´s hier nämlich, vielen Dank. Ich habe zwar rein gar nichts gegen Harmonie – ich bin sogar ein bißchen harmoniesüchtig – aber Dauerharmonie würde mich wahnsinnig machen, das ist Alpenschlager, das läßt sich nur mit sehr vielen Obstlern ertragen. Es muß sich da schon was reiben zwischendurch, also musikalisch, und wenn sich dann beispielsweise so ein verminderter Akkord auflöst, ist das ein klein wenig wie ein Versöhnungsf… äh …fest.

 

Unpopulärer als Klasssik

Um also erst einmal eine spannungsgeladene Dissonanz zwischen uns zu erzeugen, damit es dann hinterher wieder um so schöner wird, habe ich lange überlegt, was NOCH unpopulärer sein könnte als klassische Musik an sich. Das war jetzt ein wenig geflunkert (in der Liebe ist alles erlaubt), denn da mußte ich gar nicht lange nachdenken: Kirchenmusik! Na, klingt das nicht herrlich unfunky nach Talaren und Muff von tausend Jahren? Wenn man sich ein wenig Mühe gibt, kann man auch den Geruch von Scheiterhaufen und dem Angstschweiß mißbrauchter Chorknaben vernehmen. Aber seien Sie schlau, seien Sie wie ich: Lösen Sie sich von solchen negativen Assoziationen. Für die kann die Musik ja nichts.

Ich kann Ihre Vorbehalte aber durchaus verstehen und nachvollziehen: Mir ging es ja in meinen jugendlichen Sturm- und Drangjahren genau so, da wollte ich mit Kirche und damit in Sippenhaft auch Kirchenmusik nichts zu tun haben.

Dabei begann die Beziehung zwischen der Kirche, der Kirchenmusik und mir zunächst höchst harmonisch. Zuverlässige Quellen (meine Eltern) berichten, dass ich als Kind kaum aus Kirchen rauszukriegen war, weil da eben so viel Musik gespielt wurde. Mein erster Berufswunsch soll auch nicht Feuerwehrmann oder Astronaut gewesen sein, sondern Pfarrer („Der harte Hund“ möge bitte sein hämisches Kichern unterdrücken). Sehr praktisch dabei war, daß ich es bis zur nächsten Kirche nicht sehr weit hatte, denn wir wohnten IN einer Kirche. Ich vermute – wirklich erinnern kann ich mich an so frühe Kindheit nicht – daß es mir zunächst gar nicht mal um „Kunstmusik“ ging, sondern um ganz profane Gemeindegesänge mit Orgelbegleitung im Gottesdienst. Für diese These spricht, daß mich auch heute noch so ein Gemeindegesang ordentlich rütteln kann. Das letzte mal bei einem Gottesdienst war ich – so ganz versöhnt sind die Kirche und ich noch nicht, ich bin als Agnostiker vor ein paar Jahren ausgetreten – bei der Firmung eines meiner Neffen (in dieser Kirche), da wurde am Schluß „Großer Gott wir loben dich“ gesungen. Ein wundervolles Lied. Das war mächtig. Und nein, ich schämte und schäme mich meiner Tränen nicht.

Ein wundervolles Lied

Es war gar nicht so leicht, von diesem Lied eine halbwegs anständige Aufnahme auf youtube zu finden. Ich vermute, daß die Organisten, sobald eine Kamera oder ein Mikrophon dabei ist, mal zeigen müssen, was sie so alles auf der Pfanne haben, statt einfach ihren verdammten Job zu machen. Erstaunlicherweise war die unprätentiöseste und schlichteste Aufnahme ausgerechnet von der Trauerfeier für Otto von Habsburg.

 

Über Orgelmusik wäre gegebenenfalls noch mal gesondert zu sprechen. Da die Orgel nun mal praktisch ausschließlich in Kirchen zu finden ist, wird sie natürlich als nahezu untrennbar von sakraler Musik wahrgenommen, mit all den oben angerissenen mitunter negativen Assoziationen. Das ist natürlich (inzwischen) grober Unfug, der aber tief sitzt. Bei einem Konzert meines Vaters (der über 50 Jahre nebenberuflich Organist in der Kirche da oben war) hat mal ein Zuhörer lautstark seine Mißbilligung kundgebend die Kirche verlassen, weil Papa es gewagt hatte, ein weltliches Werk mit heiterem Charakter (Variationen über „Kommt ein Vogel geflogen“) zu Gehör zu bringen. Es erfüllt mich immer wieder mit tiefer Ehrfurcht, zu welcher Idiotie Gott den Menschen befähigt hat.

1000 Jahre zurück

Darum flüchten wir mal schnell knapp 1000 Jahre zurück in der Zeit. Einer der Megahits der sakralen Musik ist die Antiphon „Salve Regina“, deren Text aus der Feder von Hermann dem Lahmen (oder Hermannus Contractus, also eigentlich Hermann der Krüppel) stammt, einem Universalgelehrten nach Art eines Stephen Hawking des Mittelalters und Mönch des Klosters Insel Reichenau, ebenjenes, das Sie da oben auf dem Bild sehen. Hermann war quasi einer meiner Vormieter. Manchmal wird der Text zwar auch Petrus von Monsoro, Ademar von Le Puy-en-Velay oder Bernhard von Clairvaux (nicht zu verwechseln mit Pernhart dem Chönen) zugeschrieben, aber das betrachte ich als Lokalpatriot natürlich als schändliche Ketzerei und vernehme vor meiner inneren Nase den süßen Duft von Scheiterhaufen am Morgen. Die heute gebräuchlichste Melodie dazu ist allerdings deutlich frischer, die ist von Henri Dumont aus der Mitte des 17. Jahrhunderts.

 

Sie können sich vielleicht vorstellen, daß es für den kleinen Clemens ganz besonders geil war, wenn an hohen Feiertagen die versammelte Gemeinde in der brechend vollen Kirche am Ende inbrünstig sang „O CLEMENS! O pia, o dulcis virgo Maria“. Damit war für mich das Wesentliche gesagt, mehr Latein brauchte ich nicht, und darum habe ich anders als „Der harte Hund“ kein grosses Latrinum gemacht.

Ok, ohne entsprechenden biographischen Hintergrund mag sich der Reiz solcher Musik vielleicht nicht jedem unmittelbar erschließen, auch wenn etwa Michael Cretu mit der frevlerischen Verhohnepiepelung einstimmigen Mönchsgesangs erstaunlich viel Geld verdient hat. Vielleicht also doch.

Deutlich zugänglicher dürfte dennoch unser nächstes Hörbeispiel sein, ebenfalls ein absoluter Megahit: Das Stabat Mater von Giovanni Battista Pergolesi, das im 18. Jahrhundert das meistgedruckte Werk überhaupt war, und das auch J. S. Bach Himself wohl so beeindruckt hat, dass der es gecovert hat (für Interessierte: Psalm 51 BWV 1083). Das Stabat Mater war Pergolesis letztes Werk, er starb 1736 mit gerade mal 26 Jahren.

 

 

Ist das nicht sagenhaft und atemberaubend schön?

Und weil ich gerade schon einmal beiläufig J. S. Bach erwähnt habe: An Bach kommt man natürlich auf gar keinen Fall vorbei, wenn es um Kirchenmusik geht. Aber sowohl die h-moll Messe – die nicht nur die Krönung der Kirchenmusik oder auch der gesamten Musik ist, sondern die Krönung allen menschlichen Schaffens – als auch andere seiner geistlichen Werke waren schon in den letzten beiden Episoden der Bach- und Sachgeschichten dran, das soll hier genügen, ich habe heute leider keinen Bach für Sie. Sie dürfen die alten Links aber trotzdem sehr sehr gerne noch mal hören. Aber zu Bach und Kirchenmusik wenigstens noch eine kleine Anekdote, die ich an ganz anderer Stelle schon einmal erwähnt hatte (die hat mir der Kollege erzählt, der in Episode 1 beim Trifonov-Experiment heulte und der im Straßburger Münsterchor singt): Es gibt tatsächlich Leute, die nicht wünschen, daß man Bach in einer katholischen Kirche aufführt, denn Bach sei ja schließlich Protestant gewesen. Und außerdem sei 1 katholische Kirche wie etwa das Straßburger Münster einfach zu groß für Bachsche Musik, vong Akustik her. Danke oh Herr, dass Du uns so reich beschenket hast mit Idiotie.

Heilige Dreifaltigkeit

Wir kommen also gleich zum zweiten der drei Schutzheiligen der abendländischen Musik: Wolfgang Amadeus Mozart. Wobei „Schutzheilige“ noch untertrieben ist, eigentlich sind sie die Heilige Dreifaltigkeit der Musik: Bach als Gottvater, Mozart als Heiliger Geist und Beethoven als menschgewordener Sohn. Kannten Sie übrigens den hier: „Wenn die Engel für Gott spielen, so spielen sie Bach, füreinander spielen sie Mozart.“?

Von Mozart habe ich für Sie die Krönungsmesse ausgewählt. Zu dieser Messe habe ich wieder einen engen biographischen Bezug. An hohen Feiertagen spielen im Reichenauer Münster traditionell Münsterchor und -orchester, die aus Gemeindemitgliedern bestehen, ich saß da immer neben meinem Vater an der Orgel, um die Noten umzublättern. Am allergeilsten fand ich da schon immer die Krönungsmesse, und wenn ich die heute höre (wie jetzt gerade wieder aus diesem Anlaß), vernehme ich sofort den spezifischen Geruch des Münsters in meiner inneren Nase, eine Melange aus Weihrauch und alten Gemäuern, und wenn ich meine innere Nase ein wenig wandern lasse, gesellen sich noch der Duft von Kaffee und frischgebackenem Zopf hinzu, den es sonntags gab.

Für den Genuß einer Messe ist es hilfreich, den Text zu kennen. Den finden Sie etwa hier, auch gleich (falls Sie, wie ich und anders als „Der harte Hund“, kein großes Latrinum haben) mit einer deutschen Übersetzung.

Hier also die Krönungsmesse von Mozart, dirigiert von der tollen Laurence Equilbey (die hatte auch in Episode 3 den Accentus Chor dirigiert bei Knut Nystedts „Immortal Bach“, treue Leser erinnern sich).

 

 

Ein kleines persönliches Highlight für mich ist immer wieder (ab ca. 10:15) der Karnevalstusch im Credo („wolle mer ihn reilasse?“) nach „et homo factus est“ (und ist Mensch geworden). Und wo wir gerade an dieser Stelle sind: Danach dann gleich die schmerzerfüllte Chromatik mit verminderten Akkorden und schließlich dem anklagenden Aufschrei bei „crucifixus etiam pro nobis sub Pontio Pilato“ (Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus), danach „passus et sepultus est“ (hat gelitten und ist begraben worden), mit gleich dreimal „passus“, denn… Na? Richtig: Denn Jesus war drei Tage tot, Sie dürfen sich einen Keks nehmen. Beim dritten „passus“ dann schon mal ein kleiner Hoffnungsschimmer, wenn Mozart ganz kurz Dur durchschimmern lässt – dieses subtile Spiel mit Moll und Dur beherrscht Mozart wie kein Zweiter – aber dann doch gleich wieder düsteres Moll bei „et sepultus est“, und bei der Wiederholung von „sepultus (est)“ stirbt die Musik mit resignierenden Seufzern fast völlig ab und kommt zum Stillstand – fast. Denn am dritten Tag ist Jesus auferstanden „et resurrexit tertia die“, was die Musik mit Glanz und Gloria und Pauken und Trompeten abfeiert. Die Auferstehung Christi ist natürlich der Zentralpunkt des christlichen Glaubens, also geht Mozart zurück zum Anfangsmotiv des Credo („Credo in unum Deum“/Wir glauben an den einen Gott), unisono vom Chor gesungen auf einer einzigen Note, denn es gibt ja nur den einen Gott. Und so weiter. Ich liebe das Ding.

Gehen wir noch mal zurück in Bachs Zeit und zugleich in unsere eigene (also immerhin 1992). Ein weiterer Megahit der Kirchenmusik ist zweifellos Händels Messias mit dem ultraberühmten Hallelujah. Gibt es jemanden, der das nicht kennt? Quincy Jones hat dieses Werk mit schwarzen Musikern neu interpretiert als „Soulful Celebration“. Wir hören daraus aber nicht das Hallelujah, sondern das „But who may abide the day of His coming“ mit der grandiosen Patti Austin.

 

Ist das nicht klasse? Ich liebe Gospel, und ich liebe überhaupt schwarze Musik. Ich finde, der Beitrag der Afroamerikaner (oder wie man das korrekt nennt, ich hoffe, ich habe mich nicht in die Nesseln gesetzt) zur abendländischen Musik ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Ein bitterer Beigeschmack dabei ist, dass wir diesen Beitrag wohl auch der Sklaverei zu „verdanken“ haben. Könnte ich auf die Geschichte der Sklaverei verzichten? Aber so was von! Könnte ich auf schwarze abendländische Musik verzichten? Bitte nicht! Gibt es doch so etwas wie Richtiges im Falschen? Schwere Frage, dazu noch auf stark vermintem Gelände, und gehört ja auch nicht zum Thema. Schnell weiter!

Wir bleiben aber in unserer Zeit. 2004 schuf der estnische Komponist Arvo Pärt (inzwischen österreichischer Staatsbürger) das Werk „Da pacem Domine“ als Auftragskomposition für ein Friedenskonzert in Barcelona, kurz nach den Zuganschlägen von Madrid im Gedenken an die Opfer.

 

 

Das ist ein Gebet. Eine Meditation. Mal zum richtig runterkommen.

Daß es bei sakraler Musik ziemlich oft um den Tod geht und/oder an das Gedenken an die Toten, liegt nun mal in der Natur der Sache. So auch bei Franz Schuberts „Litanei auf das Fest Aller Seelen“, hier in der Klaviertranskription von Franz Liszt. Das doppelte Franzchen.

Ruh´n in Frieden alle Seelen,
Die vollbracht ein banges Quälen,
Die vollendet süßen Traum,
Lebenssatt, geboren kaum,
Aus der Welt hinüberschieden:
Alle Seelen ruh´n in Frieden!

 

 

https://www.youtube.com/watch?v=rJp-BtqWMQk&spfreload=10

Zauberhaft. Das Werk, die Transkription und die Interpretation von Yekwon Sunwoo.

Der Göttliche

So, damit hab ich schon mal, zumindest was das Instrument betrifft, halbwegs elegant übergeleitet zu unserem obligatorischen Trifonov-Moment. Das war gar nicht so leicht, ich finde nämlich nichts, wo Trifonov ein geistliches Werk spielt. Aber erstens war/ist Trifonovs Papa Komponist für Kirchenmusik (nachdem er Punkrocker war). Zweitens spielt Daniil hier ein Liebeslied von Schumann – wieder in einer Transkription von Franz Liszt – und „Deus caritas est“, Gott ist Liebe, wie Wir-Sind-Papst-Ratzinger in seiner ersten Enzyklika schrieb. Drittens kommen im Liedtext von Friedrich Rückert genug Worte vor (Seele, Himmel, Grab, Ruh´/Frieden), die einen religiösen Kontext nicht so ganz verleugnen können.

Du meine Seele, du mein Herz,
du meine Wonn‘, o du mein Schmerz,
Du meine Welt, in der ich lebe,
Mein Himmel du, darein ich schwebe,
o du mein Grab, in das hinab
Ich ewig meinen Kummer gab.

Du bist die Ruh, du bist der Frieden,
Du bist vom Himmel mir beschieden,
Daß du mich liebst, macht mich mir wert,
Dein Blick hat mich vor mir verklärt,
Du hebst dich liebend über mich,
mein guter Geist, mein beßres Ich!

Und viertens spielt Trifonov wie immer: Göttlich.

 

Clemens Haas

Clemens Haas, geb. 1968, hat Mathematik und Philosophie durchaus studiert mit eifrigem Bemühn, dann aber doch zurück gefunden zur ersten Liebe, Klavier und Tonmeisterei und dieses Studium dann auch abgeschlossen. Er arbeitet als freier Toningenieur und Komponist für ÖR und private Rundfunk- und Fernsehanstalten und für die Werbeindustrie.

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