Der Prinz und das Lächeln der Krokodile – Eine Festschrift zum 60. Geburtstag von Peter Murphy

In seiner „Hörmal“-Kolumne setzt Ulf Kubanke dem großen Musiker und Ausnahmesänger Peter Murphy ein Denkmal zu dessen 60. Geburtstag. Dabei erläutert er sowohl dessen musikgeschichtlich essentielles Wirken mit Bauhaus als auch weitere Projekte und die beeindruckende, stilistisch vielseitige Solokarriere.


Teil eins: Die Person Peter Murphy

Man nennt Peter Murphy den „Gothfather“ oder auch „Godfather of Gothic“. Da ist viel Wahres dran. Mit Bauhaus und dem Übersong „Bela Lugosi’s Dead“ prägte er ab Ende der 70er das damals neue Postpunkgenre ästhetisch wie musikalisch. Gleichzeitig verstellt die liebevolle Bezeichnung jedoch ein wenig den Blick auf seine ebenso imposante wie vielseitige Solokarriere. Grund genug, das herausragende Songwriting und vielfältige Wirken dieses Ausnahmesängers einmal näher unter die Lupe zu nehmen.

Egal ob mit Bauhaus oder allein: Peter Murphys schillernder Werdegang zeichnet sich in knapp 40 Jahren durch folgende Eigenschaften aus. Als jüngster Spross einer kinderreichen englischen Familie aus Northhamptonshire lernte er frühzeitig, sich durchzusetzen. Eine Fähigkeit, die ihm im Haifischbecken Showgeschäft zugute kommen sollte. Daneben vereint der Charismatiker in seiner Person den klassischen english Gentleman, hochgebildet und mit perfekten Manieren ausgestattet. Besonders sein freundliches Wesen und der staubtrockene urbritische Humor machen jede Show zu einem Ereignis.

Murphys einzigartige Bühnenpersönlichkeit birgt den Schlüssel zur Frage, wie er sich vier Dekaden lang in der Musiklandschaft behaupten konnte. Sein Geheimnis liegt darin, Kunstfigur und reale Person facettenreich zu verbinden. Die theaterhafte Gestik und Mimik schaut er sich bei alten Filmhelden der Stummfilmära ab. Mit dieser Technik samt einmaliger Stimme transportiert Mr „Indigo Eyes“ on Stage einen Cocktail aus drei Charakteren. Da ist zum einen der freundliche Macker, der sich gern selbst als einen der alletzten Fixsterne unter den Rockstars bezeichnet („Ich bin eine unfassbar strahlende Ikone.“). Die Breitbeinigkeit dieser Inszenierung federt er charmant durch offensichtliche Übertreibung und eine hohe Dosis Selbstironie ab. Es ist die Weiterentwicklung des „I Am The Greatest“-Models Mohamed Alis. Der Boxer ist Murphys Vorbild seit früher Jugend und kehrte die Egomasche ebenfalls lediglich unter Gesichtspunkten des Showbiz hervor. Als dritte Ebene garniert Murphy seine Konzerte mit der Aura des weisen, sehr spirituellen Mannes. Eine Nuance, die er sich schon aufgrund etlicher philosophischer und allegorischer Songtexte leisten kann.

Ähnlich souverän wandelt Murphy als Botschafter zwischen Kulturen und Religionen. Seit über einem Vierteljahrhundert lebt er mit seiner Frau Beyhan (Direktorin des Modern Dance Theaters) in Istanbul; seit dreißig Jahren bekennt er sich zum Sufismus. Letzterer ist eine auf den Poeten Rumi zurückgehende, aufgeklärte, pazifistische und rein spirituelle Form des Islam. Die kunstaffine, liberale Richtung versteht ihre Gottesfigur als Synonym für „Liebe“ und hat nichts gemein mit den harschen Vorstellungen strikter Richtungen. Durch den ungezwungenen Umgang mit dem eigenen Bekenntnis gelingt Murphy genau jener Spagat, an dem verhärmt-konservative Konvertiten wie etwa Cat Stevens alias Yusuf Islam zeitlebens so offenkundig scheitern.

Teil zwei: Die Kunst Peter Murphys

Belas langer Schatten – Die Bauhaus-Jahre:

Zwischen 1979 und 1983 entwerfen Bauhaus eine Subkultur, die sich ganz bewusst von der rohen, simplifizierten Energie des Punk abhebt. Lord Byron, Edgar Allan Poe oder William Blake stehen ihnen weit näher als Sex Pistols und „No Future“. Neben The Cure oder Joy Division – und noch vor den Sisters Of Mercy und Fields Of The Nephilim – erfinden und prägen sie den Gothic Rock. Spätere Bands wie etwa Nine Inch Nails hätte es ohne deren Wirken nie gegeben. Die musikalische Vielseitigkeit des Quartetts ist entsprechend erstaunlich. Neben schroffem Strobo-Rock („Double Dare“, „In The Flat Field“) gibt es finstere, hypnotische Chanson-Balladen („The Three Shadows Part Two“, „The Spy In The Cab“, „Hollow Hills“), melodische Ohrwürmer („Terror Couple Kill Colonel“, „Passion Of Lovers“, „She’s In Parties) oder tanzbaren groovy Dub wie „Kick In The Eye“. Interne Querelen führten trotz hoher Qualität mehrfach zur Auflösung der Band. Murphy dazu: „Nicht immer ist es hilfreich, wenn man sich persönlich sehr, sehr nah steht und dann gemeinsam arbeiten möchte.“

Ultimativer Klassiker und ewiger Begleiter seines musikalischen Pfades ist das grandiose “Bela Lugosi’s Dead”. Hieran kommt niemand vorbei. Bereits Mitte 1979 als 12-Inch-Single herausgebracht, markiert er Geburt und Visitenkarte für die keimende Gothic-Kultur. Ausgerechnet dieses so flächendeckend mit Murphy assoziierte Lied geht maßgeblich auf Bassist David J. Haskins zurück. Das bedrohliche Bass/Percussion”Gitarre-Arrangement klingt fast vier Jahrzehnte später genau so beängstigend wie am ersten Tage. Bela mag (un)tot sein. Dieser Track ist höchst vital.

Bauhaus trifft Japan – Das übersehene Nebenprojekt Dalis Car:

Zwischen Bauhaus und der Solokarriere liegt 1984 der entdeckungswürdige Missing Link Dalis Car. Weniger echte Band, mehr spontane Kollaboration zwischen Murphy und dem Japan-Bassisten Mick Karn (der kurz vorher bereits Gary Numans hervorragendes Album “Dancing” mit seinem Frettless Spiel entscheidend prägte) charten beide im Vereinigten Königreich mit dem lupenreinen New Wave-Album “The Waking Hour”.

Außerhalb Großbrittanniens stieß Dalis Car jedoch auf überschaubare Resonanz. Fast 30 Jahre später gab es eine Neuauflage der Zusammenarbeit. Leider verstarb Karn 2011, so dass Murphy die zweite Platte “InGladAloneness” allein beenden musste. Sein Nachruf auf den toten Freund in Form des anrührend gesungenen “If You Go Away” ist eine der herzzereißendsten und besten Brel-Interpretationen überhaupt.

Songwriter auf Weltniveau – Die Solo-Platten:

Die Qualitätsdichte von Peter Murphys Soloplatten gehört songwriterisch zweifellos zur Weltspitze. Tatsächlich gibt es kein einziges schlechtes oder mittelmäßiges Album. Sie allesamt bieten edlen Pop mit Tiefgang und knorke Rock, eingebettet in große Melodien und prägnante Hooklines. Egal ob “Love Hysteria”, “Deep”, “Holy Smoke”, “Cascade”, das brillante “Ninth” oder das unterschätzte “Unshattered”: Man kann wahllos jeden Longplayer herausgreifen und als Einstiegsalbum in den Murphy-Kosmos nutzen. Obwohl er sich stilistisch komplett vom Szeneplaneten Gothic emanzipiert, bleiben ihm alte Fans treu. Zahllose neue kamen hinzu.
Als besonderes Schmankerl empfehle ich „Dust“, ein hochgradig intensives wie entspannendes Klangerlebnis, in dem er westliche Melodik, orientalische Strukturen und poetische Texte mischt. Anspieltipp: „Your Face“:


Die Welthits – “All Night Long” und “Cuts You Up”:

Mit den beiden Welthits “All Night Long” (1988) und “Cuts You Up” (1990) verläßt Murphy endgültig das Terrain des reinen Szenestars und wird globaler Rock- und Popstar. Beide Lieder zeichnen sich durch starke Melodien in zeitlosen Arrangements aus. Während “All Night Long” sich besonders in Osteuropa/Eurasien zum Kultsong mit flächendeckendem Airplay mausert, räumt “Cuts You Up” im Westen total ab. Sieben Wochen lang verteidigt es die Pole Position der US-Charts und erhielt den Ehrentitel “Modern Rock Song Of The Year”.
Hier zunächst das künstlerisch wie ästhetisch sehr gelungene Video zu „All Night Long“:

Und hier „Cuts You Up“

Im Club der Krokodile – Verwandtschaft David Bowie und Iggy Pop

“Er lächelt wie ein Reptil.” sang David Bowie einst über Iggy Pop. Murphy, der beide persönlich kennenlernte, gehört als dritter in den Kroko-Club. Keiner interpretiert Stücke des Thin White Duke oder der Stooges/Pop so kongenial und brüderlich wie Peter Murphy. Der Verwandtschaftsgrad läuft dabei sowohl über das Timbre wie auch über das Naturell etlicher Songs. Nummern wie Bowies “Cat People” (nur in der Single/Maxi-Version; nicht in der groben LP-Variante), Iggys “Cry For Love” und Peters “Deep Ocean, Vast Sea” teilen unüberhörbar einen gemeinsamen kompositorischen wie gesanglichen Stambaum. Schon seine verrauchte Tavernen-Version von „Fun Time“ (Cabaret Mix) ist ein Hinhörer.

Doch spätestens sobald Murphy Bowies “Bewlay Brothers” als abgespeckte Akustikballade und Epitaph anstimmt, bleibt kein Auge trocken.

Der Prinz und die Dame im Schatten – auf der Suche nach dem perfekten Rocksong:

Alle paar Jahre schreibt Murphy kontinuierlich mustergültigee Rocktracks zu ausnahmslos überdurchschnittlichen Lyrics. Rund, kompakt und melodisch bietet er auf jeder LP ein paar solcher Klopper, die keine Kategoriesierung analog Hardrock, Melodic-Rock etc. benötigen. Sie bestechen vielmehr durch abgehangenes Songwriting ganz alter Schule, welches in der vorgefundenen Klasse nur ganz wenige Musiker weltweit beherrschen. Ihr wollt das perfekte Trio? Gern! Einfach mal hintereinander “Blind Sublime”, “The Sweetest Drop” und “The Prince and Old Lady Shade” hören. Besonders Letzteres sorgt mit den effektiv anschwellenden Gitarren, den an Saint-Exupérys “Der Kleine Prinz” gemahnenden Zeilen und dem in der Mitte kniefallwürdigen Beschwörungs-Lamento (“…saw the light in a little child….”) für Gänsehaut.
Wer sich danach so richtig angefixt fühlt macht einfach weiter mit “Compassion” und “Holy Clown” vom noch immer aktuellen 2014er Album Lion.


Spuren in der Popkultur – Von Hollywood und Comicbooks:

Obwohl Murphys Erfolg in allererster Linie auf Substanz und Könnertum beruht, hat sein anmutiges Aussehen sicherlich nicht geschadet. Und das weiß er auch. Die berühmtesten hohen Wangenknochen seit Marlene Dietrich haben längst entsprechende Spuren in der Popkultur hinterlassen. So steht sein Konterfei u.A. Pate für James O’Barrs Eric Draven in “The Crow” oder Neil Gaimans “The Sandman”. Auch Hollywood klopfte bereits an. In Tony Scotts „Begierde“/“The Hunger” (mit Catherine Deneuve, Susan Sarandon, David Bowie) trat er in der Eröffnungsszene mit “Bela” auf. Für “Twilight” spielte er die zwar kleine, aber wichtige Rolle des Urvampirs “The Cold One”.

Große Gefühle. große Texte:

Egal auf welche Musikrichtung man stehen mag: Vollkommen unabhängig der eigenen Vorlieben erobern Peters Balladen jeden. Deren Musik wirkt als gefühlvolle Oase in der Dürre einer oft kaltherzigen Welt. Murphys ebenso lyrische wie philosophische Qualitäten kann er hier vollends ausspielen. Mindestens drei Lieder von hier in alle Ewigkeit hat er in diesem Segment verfasst. Wie verdammt gut muss man als Musiker sein, einen Killer wie “Big Love Of A Tiny Fool” als B-Seite zu verramschen bzw. lediglich auf dem Akustik-Gig “Alive And Just for Love” zu bringen? Es grenzt an Größenwahn. Doch er kann es sich tatsächlich leisten. Denn es geht noch intensiver.

Auf Platz Zwei folgt „Marlene Dietrich’s Favourite Poem“. Murphy war gebannt von der Rezitation Marlenes in Maximilian Schells gleichnamigem Filmportrait von 1984. Kurzerhand übersetzt er es und macht daraus ein Kleinod.

Die ultimative Goldmedaille geht gleichwohl an „A Strange Kind Of Love“. Aus einem zarten Kokon akustischer Gitarren entspinnt diese Stimme – so erhellend wie ein Sonnenaufgang, so vertraut wie ein alter Baum im Garten – den wohl besten Murphy-Text überhaupt. Seine Worte bilden eine klare Absage gen Hass und verkünden jenen immerwährenden Kampf allen Lichts gegen das Dunkel, in dem es keinen Kompromiss oder Mittelweg geben kann. „There is no middle ground for us to walk or to take. Instead we tumble down either side, left or right, to love or to hate.“

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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