Niklas P. ist tot

Vor dem Bonner Landgericht endete das Verfahren gegen den heute 21-jährigen Walid S. mit einem Freispruch. Ein Verfahren, das viele Fragen aufwirft.


Die Boulevardpresse hatte ihren Täter. Die asozialen Netzwerke ebenfalls. Die übliche Mischung aus ungesundem Menschenverstand und alltäglichem Rassismus beschleunigt die Urteilsfindung derjenigen, die es schon immer gewusst haben. Walid S. wurde in der mittlerweile leider schon normal gewordenen Weise dämonisiert und vorverurteilt. In der mündlichen Urteilsbegründung sagte der Vorsitzende Volker Kunkel, ein in der Regel eher ruhiger und sachlicher Richter, sehr deutliche Worte:

Das Verfahren wurde instrumentalisiert. Personen aus Kirche, Politik und Medien haben sich in Szene gesetzt.

und

Wir können nicht beweisen, dass er geschlagen hat. Wir können nicht beweisen, dass er am Tatort war.

Es ist ein Elend, dass über solche Strafverfahren bereits in den Medien nicht mit der gebotenen Zurückhaltung berichtet wird. Ja, es ist ja richtig, dass die Unschuldsvermutung für die Justiz und weder für die Presse noch für Otto Normalverbraucher gilt. Für die Presse sollte aber wenigstens der Pressekodex gelten.

Richtlinie 13.1 – Vorverurteilung – Folgeberichterstattung
Die Berichterstattung über Ermittlungs- und Gerichtsverfahren dient der sorgfältigen Unterrichtung der Öffentlichkeit über Straftaten, deren Verfolgung und richterlichen Bewertung. Bis zu einer gerichtlichen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung, auch im Falle eines Geständnisses. Auch wenn eine Täterschaft für die Öffentlichkeit offenkundig ist, darf der Betroffene bis zu einem Gerichtsurteil nicht als Schuldiger im Sinne eines Urteilsspruchs hingestellt werden.

Vorverurteilende Darstellungen und Behauptungen verstoßen gegen den verfassungsrechtlichen Schutz der Menschenwürde, der uneingeschränkt auch für Straftäter gilt.
Ziel der Berichterstattung darf in einem Rechtsstaat nicht eine soziale Zusatzbestrafung Verurteilter mit Hilfe eines „Medien-Prangers“ sein. Daher ist zwischen Verdacht und erwiesener Schuld in der Sprache der Berichterstattung deutlich zu unterscheiden.
Hat die Presse über eine noch nicht rechtskräftige Verurteilung eines namentlich erwähnten oder für einen größeren Leserkreis erkennbaren Betroffenen berichtet, soll sie auch über einen rechtskräftig abschließenden Freispruch bzw. über eine deutliche Minderung des Strafvorwurfs berichten, sofern berechtigte Interessen des Betroffenen dem nicht entgegenstehen. Diese Empfehlung gilt sinngemäß auch für die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens.
Kritik und Kommentar zu einem Verfahren sollen sich erkennbar vom Prozessbericht unterscheiden.

Ganz offenkundig werden – womöglich unter dem Druck des „Lügen-“ und „Lückenpresse“ rufenden Teils der Bevölkerung, für die bereits Sekunden nach einer solchen Tat zwingend feststeht, dass es jedenfalls ein Fremder war, der die Tat begangen hat – diese Grundsätze leichtfertig aufgegeben, wenn es der Auflage oder der Clickzahl dient. Eine Verrohung der Diskussion ist die Folge.

Hauptsache Stimmung

Statt ihrem Informationsauftrag nachzukommen, heizten die Medien in diesem Verfahren, die Stimmung gegen Walid S. und Menschen mit Migrationshintergrund im allgemeinen weiter an.

Niklas B. 20-Jähriger mit Migrationshintergrund hat Niklas P. totgetreten

titelte z.B. die WZ.

Und das war nur eine der unerträglichen Titelzeilen, die jegliches Verständnis vom Wesen eines Strafverfahrens vermissen lassen. Ein Verdächtiger wird verdächtigt, ein Angeklagter wegen eines Tatverdachts angeklagt. Bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens steht gar nichts fest. Schon gar nicht, ob der Angeklagte der Täter ist. Punkt. Oder besser noch Ausrufezeichen! Natürlich nur eins.

Auch jetzt werden wieder Stimmen laut, der „Täter“ habe lachend das Gericht verlassen. Begreifen diese Menschen nicht, dass der freigesprochene Mann nicht der Täter ist. Warum sollte er nach einem Freispruch nicht lachen? Würden Sie weinen, wenn Sie von einem solchen Vorwurf freigesprochen würden?

Wenn Frauke Petry folgendes zum Besten gibt

dann reitet sie einen verdammt stinkenden Gaul. Und das schlimme ist ja, dass sie das weiß und es trotzdem tut.

Keine Niederlage des Rechtsstaats

Das Urteil, das auf Antrag der Staatsanwaltschaft erfolgte, ist keine Niederlage des Rechtsstaats und kein Offenbarungseid. Es ist ganz im Gegenteil die Bestätigung des Rechtsstaats. Hier wird nicht derjenige verurteilt, von dessen Schuld besorgte und aufgehetzte Bürger überzeugt sind, sondern nur derjenige, dem diese Schuld auch gerichtsfest nachgewiesen werden kann. Die Kammer hat sich von der Meute nicht vor sich her treiben lassen, sondern gewissenhaft ihre Arbeit getan. Gleiches gilt für den sachlichen und kompetenten Verteidiger.

Frühe Fokussierung

Der Angeklagte hatte von Anfang an bestritten, überhaupt am Tatort gewesen zu sein. Das wurde offenbar vorschnell als Lüge eingestuft, weil einige Zeugen meinten, ihn auf Fotos erkannt zu haben. Dabei scheint das genau so gewesen zu sein. Dass es der Staatsanwaltschaft erst während der Hauptverhandlung aufgefallen ist, dass der Zeuge Hakim D. dem früheren Angeklagten außerordentlich ähnlich sieht, ist möglicherweise auf eine frühzeitige Fokussierung der Ermittler auf Walid S. zurückzuführen. In diesem Punkt waren sich sogar der Anwalt der als Nebenklägerin auftretenden Mutter, RA Thomas Düber, und der Verteidiger des Angeklagten, RA Martin Kretschmer, einig.

RA Düber:

 Die Staatsanwaltschaft hat andere Ermittlungsansätze zu schnell außer Acht gelassen“

RA Kretschmer:

Eine andere Täterschaft war irgendwann gar nicht mehr gewollt.

Das erlebt man leider in Ermittlungsverfahren immer wieder und auch wenn Staatsanwalt Geßler jeden Druck von Seiten des Ministeriums oder der Generalstaatsanwaltschaft bestritt, wird er doch kaum bestreiten können, dass bei einem derartigen Verfahren, das die Bevölkerung nachvollziehbar emotional aufbringt, ein gewisser Erfolgsdruck nicht von der Hand gewiesen werden kann. Und wenn man dann noch einen so wunderbar ins Klischee passenden Schläger wie Walid S. als Tatverdächtigen präsentieren kann, dann will man auch vielleicht unbewusst schon gar nichts anderes mehr ermitteln. In solchen Fällen wäre zur Vermeidung von Fehlanklagen eine Supervision wünschenswert, bevor die Ermittlungen abgeschlossen werden.

Das Schweigen der Zeugen

Ein weiteres Phänomen in Strafverfahren ist eine zunehmende Schweigsamkeit von Zeugen. Auch wenn Zeugen ohnehin schon die schlechtesten aller verfügbaren Beweismittel sind, sind sie für den Versuch der prozessualen Wahrheitsfindung für das Gericht immens wichtig. Neben all den natürlichen Fehlerquellen von Zeugenaussagen, wie der Problematik der Identifikation von Verdächtigen aufgrund von Fotos oder der Vermengung von tatsächlicher Erinnerung mit Erkenntnissen auf Zweitquellen, wie Gelaber aus sozialen Netzwerken oder der Presse, scheint mir die Bedrohung von Prozessbeteiligten – in Arnsdorf nennt man das vielleicht Zivilcourage oder Solidarität – ein probates Mittel zur Manipulation von Verfahren.

In Bonn wurden etwa 50 Zeugen gehört. Aber kaum eine Aussage konnte dem Gericht bei der Wahrheitsfindung weiter helfen. Zeugen wurden bedroht, Zeugen wurden zusammengeschlagen. Diese Art der Prozessbeeinflussung von außen scheint zuzunehmen. Dass dabei die Tatbestände der Nötigung und der Verleitung zur Falschaussage erfüllt sind, wird die betreffenden Täter wenig stören, da die dort zu erwartenden Strafen recht gering sind. Für eine Nötigung gibt es maximal 3 Jahre, in besonders schweren Fällen bis zu 5 Jahre, für die Verleitung zur Falschaussage nur 6 Monate, falls es einem nicht gelingt, einen Zeugen zum Meineid zu nötigen. Da gäbe es dann bis zu 2 Jahre.

Mein Vorschlag zur Gesetzesverschärfung – hätten Sie jetzt nicht gedacht, dass so was von mir kommt – wäre, die besonders schweren Fälle der Nötigung um das Regelbeispiel der Zeugenbeeinflussung zu erweitern. Gleiches sollte auch geschehen, wenn andere Prozessbeteiligte, als Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Nebenklägervertreter bedroht werden.

Durch diese Bedrohungen wird ja nicht nur die bedrohte Person in Angst und Schrecken versetzt, sondern auch das Gericht an der Wahrheitsfindung und damit an einem gerechten Urteil gehindert. Zeuge zu sein ist eh kein Vergnügen, sondern staatsbürgerliche Pflicht. Deshalb hat auch der Staat die Zeugen wirksam – und dieses wirksam muss betont werden – zu schützen. Dies geschieht nicht in hinreichendem Maße und ich kann daher jeden Zeugen gut verstehen, der lieber die Klappe hält, als sein Leben oder das seiner Familie zu riskieren.

Gleichwohl geht das Bonner Urteil in Ordnung. Auch wenn die Mutter des getöteten Niklas über den Ausgang des Verfahrens enttäuscht ist, es hätte ihr auch nicht geholfen, wenn statt desjenigen, der den Tod ihres Jungen verschuldet hat, ein Unschuldiger verurteilt worden wäre.

Auch wenn die Staatsanwaltschaft und auch die anderen Verfahrensbeteiligten nicht glauben, dass das große Schweigen der Zeugen enden wird, es sollte einen Versuch wert sein, all diesen unter Gewährung von effektivem Zeugenschutz noch einmal auf den Zahn zu fühlen.

Denn, dass es einen Täter gibt, ist ebenso klar, wie die Tatsache, dass der noch frei herumläuft. Diesen Täter mit rechtsstaatlichen Mitteln zu überführen und zu verurteilen, sind wir Niklas und seiner Mutter schuldig.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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