Erdoğan und die Dialektik der Aufklärung

In deutschen Fernsehtalkshows demaskieren ausgerechnet AKP-Funktionäre den liberalen Scheincharakter des deutschen Staates. Mit mehr als Parolen vermag die deutsche Politik da kaum Paroli zu bieten, da ihr selbst natürlich nicht an Aufklärung über die deutschen Verhältnisse gelegen ist. Ihre türkischen Kollegen hingegen liefern erstaunliche Formen staatlicher Selbstreflexion – freilich in reaktionärer Absicht.


Political Correctness mal anders. Die deutsche Öffentlichkeit definiert Sprachpolitik urplötzlich als diplomatische Priorität. Das Unsagbare: Das N-Wort. Freilich nicht jenes Rassistische, welches man sich an deutschen Stammtischen nicht wegnehmen lassen will, sondern das mit „azi“ dahinter. Angesichts von Unterdrückung, Verfolgung und Vertreibung in der Türkei hat die Bundeskanzlerin eigentlich nur die eine Hauptforderung an Recep Tayyip Erdoğan, er möge mit den Nazi-Vergleichen gegen den deutschen Staat aufhören.

Bei „SternTV“ setzte Moderator Steffen Hallaschka pflichtbewusst dem eingeladenen AKP Politiker Ozan Ceyhun die Pistole auf die Brust: Als ein in Deutschland aufgewachsener türkischer Staatsbürger, der ja den deutschen Liberalismus genossen und die Vorzüge einer derart offenen Gesellschaft kennengelernt habe, müsse sich dieser doch von derlei Vergleichen distanzieren. Ceyhun verweigerte die Rolle des undankbaren Gastes, die ihm hier zugeschoben wurde, und lenkte die Debatte zurück dahin, wo sie hingehörte: Auf das Feld der Politik.

Und hier fällt es den in deutsche Talkshowstudios eingeladenen Vertretern der AKP immer wieder erstaunlich leicht, die Vorwürfe aus Deutschland zu parieren. Und zwar, in dem sie einfach ehrlich sind. Ceyhun schilderte also die Situation, in welcher der türkische Staatschef die betreffenden Worte sprach: In Bezug auf hanebüchend begründete Auftrittsverbote offizieller Repräsentanten des türkischen Staates, die ihre Position im laufenden Wahlkampf um das Referendum zur Verfassungsänderung in der Türkei vertreten wollten.

Die ordnungamtlichen Begründungen für die Veranstaltungsabsagen hätte kein deutsches Medium durchgehen lassen, wären sie in der Türkei verlautbart wurden. Und es ist auf der objektiven und formalen Ebene, auf der deutsche Politik und Medien zu argumentieren vorgeben, in der Tat nicht nachvollziehbar, warum solche Verbote in dieser konzentrierten Form kurz nacheinander nur Veranstaltungen der AKP, nicht aber ihrer politischen Konkurrenten traf. Die Absagen konnten in der Türkei nur als willkürlich und diskriminierend empfunden werden. Dass dies in der Qualität noch keine Nazi-Methoden sind, ist eine richtige Feststellung – die aber sonst der deutschen Öffentlichkeit gerne als Haarspalterei erscheint, solange andere Staaten mit derlei Vergleichen bedacht werden.

Kritische Theorie für eine unkritische Öffentlichkeit

Dabei sollten Vergleiche mit Staat & Gesellschaft im Nationalsozialismus kein Tabu darstellen, sondern rational als Schablone gegen Missstände und Fehlentwicklungen genutzt werden. Eben dies war Projekt der 68er Rebellion und der Kritischen Theorie. Sie untersuchten die autoritären und reaktionären Strukturen in modernen Industriegesellschaften als Grundlagen für Faschismus und insbesondere dessen deutsche Variante, den Nationalsozialismus – und rebellierten dagegen. Die Resultate waren eindeutig. Der Autoritäre Charakter, die Identifikation der Einzelnen mit dem nationalen Kollektiv sowie der Antisemitismus waren Bestandteil nationalstaatlicher Ideologie und begründeten vielfach deren Strukturen, vor und nach 1933. Hier ging es um eine Kritik am Nationalstaat als Konsequenz aus der Barbarei von Auschwitz.

Die Absurdität der postmodernen Zeit könnte kaum besser veranschaulicht werden als durch die Tatsache, dass in deutschen Talkshows – die mit ihrem Warencharakter selbst natürlich bereits nichts anderes als Produkte der Kulturindustrie sind – nun in spiegelverkehrter Absicht zur Kritischen Theorie ausgerechnet AKP Mitglieder eine derartige Staatskritik entfalten. Sie personifizieren dabei sogleich die Dialektik der Aufklärung, als seien sie Darsteller in einem allegorischen Theaterstück: Ihre Kritik zielt auf die Bejahung des autoritären Charakters, der dem Nationalstaat per se innewohnt, wie sie in ihrer Argumentation beweisen.

Mustafa Yeneroğlu ist mittlerweile der Bad Boy in der öffentlich-rechtlichen Erzählung über die Türkei. Ob Markus Söder oder Aydan Özoğuz, bisher scheiterten alle Repräsentanten des deutschen Parlamentarismus kläglich an seiner Taktik, die Vorwürfe der deutschen Kollegen in Bezug auf konkrete Beispiele für deutsche Rechtstaatlichkeit zu spiegeln. Berufsverbote, flächendeckende Razzien gegen linke Organisationen, Rasterfahndung, staatliche Datensammelwut, hysterische Freund-Feind-Diskurse, rechtstaatlich höchst zweifelhafte Verfahren wegen Terrorismus-Vorwürfen – zu all dem ließ sich die Bunderepublik hinreißen, weil eine Untergrundgruppe in 28 Jahren 33 Menschen ermordete. Ein versuchter Staatsstreich, bei dem das Parlament beschossen, hunderte Menschen ums Leben kommen und versucht wird, das Staatsoberhaupt umzubringen, ist in der Tat ein ganz anderes Kaliber. Markus Söder wischte diesen Hinweis Yeneroğlus bei Maybrit Illner schnell weg, denn inhaltlich fiel ihm dazu schlichtweg gar nichts ein.

Hüben wie Drüben: Unsagbarkeiten

Kollektiv ignorierte die Runde dann auch Yeneroğlus Einlassung zu den beunruhigenden Todesfällen von NSU-Zeugen, paradigmatisch für das Genre der Polittalkshows in Deutschland überhaupt. Die Umstände des NSU-Terrors, die Verstrickung und Verschleierung durch diverse Landesbehörden des Verfassungsschutzes und die politische Linie, diese Behörden damit durchkommen zu lassen, hat nicht zu einem allgemeinen Aufschrei geführt, nicht dazu, den deutschen Staat und seine Politik grundsätzlich zu hinterfragen. Das Schweigen über das reihenweise Sterben von Zeugen im NSU-Komplex unter höchst merkwürdigen Umständen müsste gerade jener Öffentlichkeit, die derzeit über die Umsetzung autoritärer Politik durch die türkische Justiz so entsetzt erscheint, eigentlich Anlass zur konzertierten Gegenwehr geben.

Doch eben hier erstarren Medien & Politik in Ehrfurcht vor dem Antlitz des Staates. Ihm strukturelle Verstrickung in Mord und Terror vorzuwerfen erscheint ihnen als ähnlich Unsagbares wie ihren saudischen Kollegen die Gotteslästerung. Dass es einen ranghohen Vertreter der AKP braucht, um dieses Thema in die öffentlich-rechtlichen Quasselformate zu bringen, spricht Bände. Der Hinweis auf den NSU bekommt durch einen türkischen Staatsbürger in Anbetracht der Hauptopfergruppe des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ nochmal eine besondere Qualität. Was Yeneroğlu daraufhin tut ist Folgendes: Er fordert Akzeptanz dafür ein, dass in der Türkei grundsätzlich ebenso vor dem Anspruch des Staates als unhinterfragbarer Souverän gebuckelt wird.

Und hier kommt die Affäre um den Journalisten Deniz Yücel ins Spiel. Yücel hat die wichtigste deutschsprachige Chronik des Taksim-Aufstandes verfasst („Taksim ist überall. Die Gezi Bewegung und die Zukunft der Türkei“). Bereits damals mussten sich linke Aktivistinnen und Aktivisten in Deutschland, die sich solidarisch mit der Bewegung in der Türkei erklärten, verwundert die Augen reiben: Eine Platzbesetzung, durchgesetzt mit Barrikaden und militanten Aktionen gegen die Polizei, getragen von einer bunten Mischung von Menschen, die sich nicht gegenüber noch der linksradikalsten Organisation oder der militantesten kurdischen Gruppe abgrenzen wollte, wurde in der deutschen Presse mit Sympathie überschüttet. Vor allem aber wurde das Vorgehen der Polizei kritisiert. Zum Vergleich: Beim G8 Gipfel 2007 in Heiligendamm reagierte der deutsche Staat auf in der Masse weit weniger militante Aktionen mit bewussten Falschmeldung, in der Aktion enttarnten Agents Provocateurs, Hundezwingern als Sammelgefängnis, dem ungesetzlichen Einsatz der Bundeswehr im Inneren, bundesweiten Razzien gegen linke Projekte, einem großflächigen Demonstrationsverbot, Zäunen u.v.m..

In der Folge wurde auch der Stadtsoziologe Andrej Holm monatelang unter Terrorverdacht gestellt und samt seiner Familie überwacht: Telefone wurden abgehört, Bewegungsprotokolle erstellt. Ein Eingriff in die Privatsphäre, der in einem Rechtstaat nur vorgenommen wird, wenn die Beweislast erdrückend und die Gefährdungssituation groß ist, so sollte man annehmen. In der Realität fußte der Verdacht des LKA Berlin und der Bundesanwaltschaft im Wesentlichen aber darauf, dass Holm in seinen Forschungen von Gentrifizierung sprach – und die sogenannten „Militante Gruppe“, die in Berlin Luxusautos und Polizeiwagen in Brand setzte, in ihren Bekennerschriften ebenfalls diesen Ausdruck benutzte.

Die Anschuldigungen gegen Deniz Yücel nun sind von der gleichen Qualität: Er machte seine Arbeit, wozu auch das Sprechen mit und Schreiben über vom türkischen Staat als Terroristen bezeichnete politische Akteure gehört. Nicht von der gleichen Qualität ist selbstredend die Behandlung Yücels durch den türkischen Staat. Aber hier sei doch der Zweifel angemeldet, ob ein deutscher Staat, der in einer Situation wie der der politisch kaum relevanten G8 Proteste bereits derartige Methoden anwendet, der auf eine Gruppe wie die RAF mit derart weitreichenden Notstandsverordnungen reagierte, in einer vergleichbaren Situation wie der eines Militärputsches und des Krieges mit einer aufständigen Bevölkerung irgendwie anders handeln würde.

Siegeszug des globalen Rechtspopulismus

Genau dies ist das Argument Yeneroğlus. Damit gibt der AKP Mann offen zu, dass er Autoritarismus und Demagogie normalisieren will, dass die Politik der AKP auf diesen politischen Methoden fußt. Demagogie ist der bürgerlichen, parlamentarischen Demokratie inhärent. Dies wird nun ausgesprochen – nicht als Kritik, nicht als Teil einer fortschrittlichen Aufklärung mit dem Ziel, diese Zustände zu überwinden. Sondern durch die AKP, die in der Türkei Diskriminierung gegen Kurden und nicht-Sunniten, die Einschränkung der Pressefreiheit, die ungehemmte Verwendung des Rechtstaates als innenpolitisches Instrument und den Einsatz des Militärs und seiner kriegerischen Methoden als polizeiliche Maßnahme normalisieren möchte. Das Projekt einer Hegemonie von Rechts findet nach Russland nun in der Türkei die nächste Stufe seiner Realisierung.

Marcus Munzlinger

1983 geboren in Berlin, aufgewachsen in Schleswig-Holstein und Hamburg. Studium der Romanischen Philologie mit Schwerpunkt Spanische Literaturwissenschaften im Hauptfach Magister an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit den Nebenfächer Soziologie und Pädagogik. Vorstandsarbeit bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung Schleswig-Holstein und Ausschussarbeit in der Jugendbildung der Rosa-Luxemburg-Bundesstiftung in Berlin. Redaktionsarbeit bei der Gewerkschaftszeitung Direkte Aktion in den Ressorts Kultur & Globales. Seit 2014 Mitarbeiter im Programmteam des Kulturzentrums Pavillon in Hannover im Bereich Gesellschaft & Politik. Daneben freie journalistische Arbeit mit Veröffentlichungen in der Jungle World, ak – analyse & kritik und Straßen aus Zucker.

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