Freiheit und Sozialpolitik. Gedanken zu einem kritischen Verhältnis

Kann ein Empfänger von Sozialleistungen ein freier Bürger sein? Wie passt die Bevormundung des Sozialstaates zur freiheitlichen Demokratie? Was muss sich ändern, damit aus Bedürftigen souveräne freie Menschen werden? Ein Plädoyer für ein bedingungsloses Bürgergeld.


Wer die letzten zwei bis drei Jahre die bundesdeutsche Wirklichkeit beobachtete, wer die Statistiken der Einkommensverteilung und wer die Kommentare zu den Armutserscheinungen im deutschen Blätterwald zur Kenntnis genommen hat, den kann das Problem der Armut in unserer Gesellschaft nicht mehr los lassen.

Und zwar nicht nur deshalb, weil viele sozial engagierten Vereine und Menschen die Lage der Verlierer in unserem Land so eindringlich schildern können – sondern auch, weil am Ende immer wieder nur ein Appell steht, der die Umverteilung von oben nach unten fordert. Aus vielerlei Sichten kann diese Umverteilung mit vollem Recht angemahnt werden – aber sie findet nicht statt oder nur sehr unvollkommen. Und wenn sie denn stattfände – wem wäre damit wirklich geholfen?

Jenseits der Umverteilungsrhetorik

Doch jenseits der Umverteilungsrhetorik müssen wir eine wichtige Frage ansprechen, nämlich die nach dem Stolz jener Menschen, deren Zukunft keine mehr ist, deren Armut sich in den Generationen fortpflanzt und die sich selber aufgegeben haben.

Menschen ohne Zukunft haben eine eigene Gangart – es ist erwiesen, dass Arbeitslose in ihrem Geh-Tempo deutlich langsamer werden, je länger sie ausgegrenzt bleiben. Wenn sie nur noch sitzen, ist die Hoffnung nicht mehr messbar. Ich weiß wovon ich rede – ich wohnte in Gaarden, in der Mitte eines Kieler Problembezirks, wie das heute heißt.

Ich muss gestehen, dass mir dort die Armut mit der einhergehenden Verwahrlosung sehr nahe kam, manchmal unerträglich wurde und mich zuweilen erschüttert. Aber ich bin auch ratlos, weil ich die Appelle nicht mehr hören kann und will, die Appelle derer, die Wein trinken und Wasser predigen ebenso wie ich die Tränen jener Menschen nicht mehr sehen kann und will, die auf die Linsen eilig herbeigerufener Kameras tropfen.

Vielleicht liegt das Problem darin, dass sich die Verteilungssystematik generell aus denselben Ursprüngen speist, wie einst der Obrigkeitsstaat unten und oben definierte? Sind die Armen von heute nicht ebenso Objekte der Politik geblieben wie sie es immer waren?

Sozialpolitik des Dritten Reichs

In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 1. September 2004 beschrieb Götz Aly die Sozialpolitik im Dritten Reich. Das war ziemlich beängstigend. In diesem Artikel wurde Adolf Hitler als klassischer Stimmungspolitiker beschrieben, der sich fast stündlich fragte, wie er die deutsche Mehrheitsbevölkerung zufrieden stellen konnte.

Er errichtete einen Umverteilungsstaat par excellence.

  • Das Ehegattensplitting stammt aus dem Jahre 1934.
  • Die Kilometerpauschale findet sich in demselben Steuerreformgesetz mit der Begründung: „Es ist der Grundsatz des Nationalsozialismus, die Bevölkerung im eigenen Heim und in der freien Natur anzusiedeln…“.
  • Seit dem Jahr 1941 sind die deutschen Rentner automatisch krankenversichert und nicht länger auf die öffentliche Fürsorge angewiesen.
  • Unter Hitler wurde die Zahl der Urlaubstage verdoppelt.
  • Die Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit waren in Deutschland bis zum 2. Oktober 1940 steuerpflichtig, dann wurden sie steuerfrei gestellt. Der Reichsfinanzminister stimmte dem zu, „vorausgesetzt, dass der Krieg im Jahr 1940 zu Ende geht.“ Von Hitler ist die diabolische Freude überliefert, dass diese soziale Wohltat einen „starken Eindruck“ gemacht hätte, trotz des „gigantischen Krieges“, wie er meinte.

Doch damit nicht genug. Mieterkündigungsschutzgesetz, Pfändungsschutzgesetz, hunderte andere fein austarierte Gesetze sicherten das sozialpolitische Appeasement ab. Die Nazi-Regierung legte ein irres Tempo vor. Mehrmals ist in Goebbels Tagebuch zu lesen: „Am ganzen Tag ein tolles Tempo.“ Dazu ist es vielleicht nicht uninteressant, dass die ganze Nazi-Riege erschreckend jung war, – jünger als fast alle unter uns -, und deshalb die Sozialisationsinstanz „Anpassung“ übersprungen hatte. Zum Tag der Machtergreifung war Göring mit 40 Jahren vergleichsweise alt, Goebbels war 35, Himmler 31, Heydrich 28, Speer 27, Eichmann 26, Mengele 21. Diese Herren betrieben die nachpubertäre Identitätssuche im Vollgefühl der Omnipotenz. Ihr Tempo riss die Deutschen mit. Bis zum Tag der Befreiung am 8. Mai 1945 gab es keine direkten Kriegssteuern. Die deutschen Soldatenfrauen erhielten das Doppelte an Familienunterhalt wie ihre amerikanischen Leidensgefährtinnen. Vom Lohnabstandsgebot hatte man sich schon während des Krieges verabschiedet.

Mit dem Tempo des Handelns hielt Hitler das soziale Gefüge atemlos zusammen. In ihrer Mehrheit gerieten die Deutschen in einen Taumel von Hochgeschwindigkeit. Niemand hatte den Fuß auf der Bremse. Geschwindigkeit ist nicht selten ein Synonym für Gedankenlosigkeit. Leute, die das Leben für eine Rennbahn halten, kennen wir ja alle.

Sozialstaat funktioniert nicht nur in der Demokratie

Der Sozialstaat funktioniert keineswegs nur in einer Demokratie. Keine andere Politik eignet sich besser, die Legitimität einer Herrschaft und einer Herrschaftsform zu belegen als die Sozialpolitik – egal ob Monarchie, Diktatur oder Demokratie.

Aber das provoziert eine wichtige Frage: Wo verlaufen heute, in unserer demokratischen Ordnung, die Linien zwischen individueller Autonomie und staatlichem Lenkungsinteresse? Wo ist die Grenze zwischen Freiheit und Staatlichkeit, zwischen Fürsorge und Bevormundung, zwischen Kontrolle und Zuwendung, zwischen Wächteramt und Wachposten?

Wir müssen nach dem Denkansatz fragen, nach dem wir in unseren Breiten bereits mehrmals die Freiheit gegen soziale Sicherheit eingetauscht haben und warum sich die Freiheit bei uns so kühl anfasst.

In den letzten Jahren ist eine neue Dimension hinzugekommen, um die uns der einsame inoffizieller Mitarbeiter der Stasi beneidet hätte. Ich spreche von der geheimnisvollen Parallelwelt buchstäblich im Äther. Das geisterhafte Sprechen über Callcenter direkt auf meine Couch hat auch die Sozialpolitik eingeholt. Wer einmal die Familienkasse erreichen wollte, kann ein Lied davon singen.

Telekommunikation ignoriert die Würde der Abstände

Die Telekommunikation erlaubt es uns heute, die Würde der Abstände zu ignorieren (so Sloterdijk). Wir können uns jetzt aus der Ferne so unglücklich machen, wie dies früher nur direkten Nachbarn vorbehalten war. Man kann heute in Mexiko einem Mitarbeiter in Kiel ohne Probleme per SMS kündigen.

Elektronische Gesundheitskarte, Chipkarte beim Arbeitsamt, Kameraschwenk über der Suppenküche, Onlinebanking oder Datenerfassung Hartz 4 werden zu Steckdosen in ein undurchschaubares Datenkontrollsystem. Der Sozialstaat hat durch sein immanentes und permanentes kontrollierendes Interesse der Datengier erst den entscheidenden Schub gegeben.

Wir haben noch nicht einmal eine ethische Diskussion über die neue Kommunikationskultur begonnen. Wir brauchen uns nur einen winzigen Augenblick vorzustellen, unsere Demokratie geriete ins Wanken und diktatorische Machthaber würden unsere Verkabelung für ihre Zwecke nutzen. Der Überwachungsstaat wäre noch eine der harmlosesten Etiketten.

Schreckensmonster Staat

Bei dem englischen Staatsdenker Hobbes ist der Staat ein Schreckensmonster, der berühmte Leviathan, erschienen 1651. Eine solche Vorstellung hat noch wahrnehmbare Spuren im angelsächsischen Raum hinterlassen. Denn nur dort konnte sich eine spürbare Staatsferne und Staatsskepsis des Bürgers etablieren.

Hannah Arendt, hat den vielzitierten und umstrittenen Satz gesagt: Der Sinn der Politik ist Freiheit.

Diesem Satz haftet ohne Zweifel eine Radikalität an, die zumindest Sozialpolitiker in Rage bringen kann. Die Sozialpolitik steht in einem spannenden Gegensatz zum liberalen Freiheitsbegriff, wie er etwa im 18. Jahrhundert durch Wilhelm von Humboldt formuliert wurde.

In gewisser Weise hat der Staat seit der Aufklärung als Projektionsfläche für die menschliche Sehnsucht nach Geborgenheit den Himmel abgelöst, der sich als eschatologisches Heilsversprechen angeboten hatte.

Interessant ist eine Parallele zu dem Buch „Jesus von Nazareth“ von Joseph Ratzinger, alias Benedict XVI., in dem er die Versuchungen Jesu auf dem Berge interpretiert. Jesus wird vom Satan in Aussicht gestellt, eine wohlhabende, begüterte, gerechte und schöne Welt zu beherrschen und Jesus weist das als Teufelszeug von sich. Irdische Heilsversprechen führen direkt in die Barbarei. Ratzinger hat in seinem Buch den Vergleich mit dem Kommunismus als die letzte untergegangene Heilsideologie nicht gescheut.

In der europäischen Geschichte gehört es noch nicht lange zum Allgemeingut, dass der Staat seinen Bürgern die Sorgen über die großen Lebensrisiken abnehmen muss. Der erwähnte Wilhelm von Humboldt hat in seiner Schrift: „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (erschienen 1792) den Staat in sehr enge Schranken verwiesen. Ehe, Kindererziehung, Religion, Familie – sprich alles, was auch nur im Entferntesten mit dem menschlichen Glück zu tun hat, verweist er ins Private. Ein Ministerium für Familie wäre Wilhelm von Humboldt vollkommen absurd vorgekommen.

Diese gedankliche Rücksichtslosigkeit Humboldts gab dem preußischen Philosophen die nötige Distanz zur Tagespolitik, aber auch zum staatlichen Wohltätigkeitsanspruch. Wie auch Mirabeau, so fordert er dazu auf, den Regierenden allemal zu misstrauen. Denn die „Besessenheit Gutes zu tun“ sei die verhängnisvolle Krankheit des Regierens. Wir kennen auch diese wild gestikulierende Suche nach der nächsten Menschengruppe, die man öffentlichwirksam beglücken kann. „Hinter dem Schleier wohltätiger Absichten und Glückseligkeit fördernder Politik verbirgt sich nichts anderes als das Ziel puren Machterhalts.“ So Humboldt vor ungefähr 200 Jahren. Nach ihm scheut sich der Bürger vor der unterwerfenden Abhängigkeit, die ihm Freiheit entzieht.

Wie frei kann sich eigentlich ein Mensch fühlen, der arbeitslos geworden ist und plötzlich seine Wohnungsgröße vor eifrigen Beamten begründen muss?

Beleidigung der menschlichen Würde

Humboldt resümiert: „Dem Staat die Verfügungsgewalt über das persönliche Glück zu gestatten, ist eine Beleidigung der menschlichen Würde.“

Die Geschichte des Wohlfahrtsstaates hat Wilhelm von Humboldt übergangen. Dem Ideal der Aufklärung, sich aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien, ist zumindest die Wohlfahrt nicht gefolgt. So wurde auch das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert des Staates – mit allen seinen Widersprüchen und seinen heißen und kalten Katastrophen.

In diesem Jahrhundert der politischen Extreme waren Rechte wie Linke unterschiedslos der Überzeugung, der Staat müsse nicht nur stark sondern auch üppig ausgestattet sein, um seine Bürgern zu bedienen. Rechts wie links gab es auf das freie Unternehmertum – den Kapitalismus – nur reflexartige Abwehr.

Es verfestigte sich das Vorurteil gegenüber dem freien Unternehmer, wie wir es heute noch in Kriminalfilmen regelmäßig erleben. Der Bösewicht ist der Unternehmer, der sich die Hände nicht schmutzig macht beim Auftragsmord an einer fehlgeleiteten ins Milieu gedrängten hübschen Prostituierten. Neuerdings übernimmt die Rolle des fiesen Kapitalisten mehr und mehr der smarte Bürgermeisterkandidat. Eine interessante Entwicklung, der ich nach den Jahren meiner politischen Nähe nur mit müder Vehemenz widerspreche.

Innehalten ist ein Wert an sich

Ungeachtet der zahllosen differenzierten, kleinteiligen und aktuellen Fragestellungen, die die moderne Sozialpolitik täglich bearbeitet, lohnt sich ein Blick in solche Grundsätzlichkeiten. Denn innehalten im mühevollen Tun ist ein Wert an sich, der unterschätzt wird – vor allem dann, wenn wesentliche Fragen durch das Alltagsgeschäft verdrängt werden. Die klassischen Konfliktlösungssysteme Ruhe, Nachdenklichkeit, Gelassenheit und Tempominderung werden der Karriere fördernden Hektik, Schnelligkeit, Beflissenheit, Unterwerfung und Ideensprudelei geopfert.

In einem Interview mit Anne Will hatte Angela Merkel einst bekannt, „sie sei es als Naturwissenschaftlerin gewöhnt, Dinge durch Nachdenken zu lösen.“ Ein endlich mal erlösender Satz aus der Politik. Die Bundeskanzlerin weiter: „Es gibt Menschen, die denken mit Bergen von Vermerken und es gibt Menschen, die denken mit dem Kopf.“

Zu den wesentlichen Fragen zähle ich jene, die uns selbst in Frage stellen und die darüber hinaus einem Mainstream zuwider laufen. Eine wesentliche Frage ist etwa die nach der erlahmenden Attraktivität des Sozialen in der Medienkultur, was denn politisch dazu führt, jede soziale Kleinteiligkeit groß zu pumpen, um wenigstens ein bisschen Beachtung zu finden.

Den Faden verloren

Wenn ich diese Tendenz beobachte, so erscheint es mir manchmal, als hätte die Sozialpolitik in der modernen Gesellschaft irgendwie den Faden verloren. Ersetzt wird dann dieser Faden durch hymnische Broschürchen mit Texten aus sozialpädagogischen Proseminaren.

Kulturpessimisten fügen hinzu, dass wir ja eigentlich überhaupt keine klare Idee mehr von einem sinnvollen wirtschaftlichen Fortschritt haben.

Eine viel tiefer gehende Frage aber ist die nach dem Spannungsverhältnis von Freiheit und Sozialpolitik. Wir hören immer wieder von der träge machenden staatlichen Unterstützung, davon, dass das eigene Schicksal an die finanzielle Potenz der sozialen Sicherungssysteme gekoppelt wird, davon, dass der Missbrauch eine direkte Folge der staatlichen Bevormundung hilfebedürftiger Menschen sei und am Ende zeigt die Erfahrung, dass die Freiheit auf der Strecke bleibt, wenn die eigene Bedürftigkeit vor jedem deutschen Schalterbeamten nachgewiesen werden muss.

Jene also, die die Kontrolle über das eigene Dasein verloren haben, müssen fortwährend die Hosen runter lassen. Das ist kein Hinweis auf einen freien, unabhängigen und selbstbewussten Citoyen, wie er 1789 in die europäische Verfassungsgeschichte trat.

Die Missbrauchsdebatte

Interessanterweise kommt immer dann die Missbrauchsdebatte hoch, wenn die staatlichen Mittel wegen minderer wirtschaftlicher Prosperität knapper werden. Es ist vertrackt, dass ausgerechnet die Sozialpolitik an die Zyklen der Marktwirtschaft gekoppelt ist, um deren Defizite sie sich a priori kümmern soll.

Hier liegt ein Element verborgen, das zu untersuchen ein paar Gedanken wert ist.

Der Markt ist ein Ordnungssystem von relativ gut funktionierender Exzellenz. Dieses Ordnungssystem löst viele Probleme der Wirtschaft und des Fiskus auf einmal, es steuert und steuert nach, es richtet sich aus nach Angebot und Bedarf und sichert damit einem freiheitlichen Unternehmergeist die geeignete Plattform. Ziel, Koordination, Evaluation sind für den Markt keine Probleme. Jedenfalls ist das in der Theorie so. Natürlich gibt es auch hier Verwerfungen – aber das ist heute nicht unser Thema.

Sozialpolitik ist eher ein Reflex auf den Markt

Der Sozialstaat seinerseits verfügt keineswegs über ein entsprechendes einleuchtendes Ordnungssystem. Die Sozialpolitik ist eher ein Reflex auf den Markt. Sie korrigiert, verteilt und – inzwischen eine ihrer Hauptaufgaben: sie kontrolliert und das mit monströsen Datenmengen. Schon wegen dieses Umstandes wird die Politik methodisch als externer Störfaktor von der Wirtschaft verstanden.

Das, was der Markt als effizientes System in sich trägt, hat die Sozialpolitik erst schaffen müssen, um auf gleicher Augenhöhe zu agieren. Die Sozialpolitik hat die Effizienz ersetzt durch undurchschaubare Strukturen. Der Sozialstaat ist strukturell einfach nicht auf der Höhe der Idee, die ihn trägt. Wir brauchen heute eine Kommission, die viel Zeit damit verbringt, herauszufinden, wohin die 110 bis 150 Milliarden Euro eigentlich fließen, die wir jährlich für die Familienpolitik ausgeben. Eine kafkaeske Situation.

Inzwischen will es offenbar niemand mehr so genau wissen, denn es ist einfacher, Geld obendrauf zu packen. In der Sozialpolitik ist man weniger bemüht, strukturelle Fehler oder Verstöße aufzudecken. Die Energie wird vielmehr dafür verbraucht, immer wieder Leute zu finden, die zahlen können – selbst wenn sie am aktuellen Problem nicht beteiligt sind. Legitimiert wird dies mit dem auf den ersten Blick hin überzeugenden Satz, dass schwache Leute einen starken Staat brauchen. Die politischen Weichen, aus schwachen Menschen starke zu machen, sind aber keineswegs ausgeprägt. Viele führen auf tote Gleise unserer Wohlfahrt. Mir will scheinen, dass die sozialen Institutionen keine hinreichende Phantasie für dieses Thema aufbringen. Wollen sie vielleicht auch nicht.

Unübersichtlicher Wohlfahrtsstaat

Wir müssen heute einen Wohlfahrtsstaat konstatieren, der unsortiert und unübersichtlich einem globalen und liberalen Markt gegenübersteht. Er macht da eine schlechte Figur. Die Verschiebung von Kompetenzen, weil das operative Geschäft zu schwierig wird, dreht weiter an der Schraube der Unübersichtlichkeit.

Wer immer von Gerechtigkeit redet, hat anthropologisch nichts begriffen. Von denen, für die sie da ist, glaubt keiner, dass er sie hat. Wer fühlt sich heute schon gerecht behandelt? Der muss mindestens ein Philosoph, wenn nicht gar ein Eremit sein. Gleichzeitig pochen sie alle auf ihre Autonomie, ihre Freiheit, Unabhängigkeit. In diesem sozialen Gefüge haben wir es soweit gebracht, dass nicht mehr zählt, was man kann sondern eher was man will. Es findet sich immer eine Gruppe, die ins selbe Horn stößt, die lauthals „Hier“ ruft, wenn etwas zu verteilen möglich wird.

Die individuelle Seite des Sozialstaates ist auch nicht übersichtlich. Sie hat vielmehr widersprüchliche Facetten.

Die Freiheit der Wahl

Die Aufklärung hat dem Individuum seinen Stolz und seine Unabhängigkeit gegeben. Das hieß auch, für seine Probleme war er fortan selbst verantwortlich. Der Sieg des Individuums über die Gesellschaft hat die Schattenseiten der menschlichen Natur offen gelegt. Die Freiheit, die Meinungsfreiheit, die Gewissensfreiheit, die Freiheit der Wahl etc. katapultieren den Menschen aus der hierarchischen Ordnung. Er muss fortan seinen Lebenssinn selber finden. Die Verlagerung der Schwerkraft der Gesellschaft auf das einzelne Individuum beraubt ihn seines Halts. Sein Schicksal hängt nur noch von ihm selbst ab. Aber wer sein eigener Herr ist, ist ja auch sein eigenes Hindernis (Pascal Bruckner).

Während sich in der Religion das Leben zwischen Erlösung und Verdammnis abspielte, bewegt sich nun das Leben zwischen Erfolg und Niederlage. Allerdings ohne der Entlastung, die durch Vergebung möglich ist. Eine Gesellschaft, die zugleich ihren wirtschaftlichen Erfolg auf früher negativ besetzte Eigenschaften wie Gier, Geiz, Selbstsucht, Ungeduld oder Neid gründet, andererseits aber die Angleichung der Lebensbedingungen mit dem Pathos sozialer Gerechtigkeit verbindet, stolpert über die eigenen Füße.

Dort, wo alle gleich sind, liegen auch alle miteinander über Kreuz. Die Dressur des Wettbewerbs macht uns ganz kirre. Denn auch in einer demokratisch egalitären Gesellschaft gibt es obere und untere Plätze. In einer egalitären Gesellschaft sind der Erfolg der Minderheit und die Verbitterung der anderen unerträglich. Da wir alle gleich sind, ist jede Überlegenheit eigentlich skandalös.

Es bleibt aber nicht aus, dass der eine mehr Geld hat als sein Nachbar, dass der eine in einem niederen Level stecken bleibt und der andere kometenhaft aufsteigt. Wäre ein jeder in Deutschland Hausbesitzer, so könnten wir Wiesen und Wälder vergessen. Es bleibt auch nicht aus, dass dem einen gelingt, was dem anderen nie gelingen will. Auch im schönsten Theater können nicht alle in der ersten Reihe sitzen. Unweigerlich folgen Enttäuschung und Frustration, die sich den Druckausgleich im Infantilismus suchen oder in der Viktimisierung, also der Lust, sich als Opfer zu fühlen.

Projektionsfläche Sozialstaat

Die Projektionsfläche ist der Sozialstaat. Er hat im individuellen Fall versagt, weil er sein Versprechen nicht einlösen kann, für gerechten Ausgleich zu sorgen.

Muss nicht der Staat mein Schicksal korrigieren? Ein Schicksal, dass mich unglücklicherweise mit diesem Elternhaus, mit diesen Vermögensverhältnissen, in diesen Zeiten und in dieser tristen Gegend mit diesen minderen Fähigkeiten ausgestattet hat?

In Dostojewskis Roman „Der Idiot“  heißt es: „Hätte ich bestimmen können, ob ich geboren werde, gewiss hätte ich kein Leben unter solchen lächerlichen Bedingungen hingenommen.“

Heute kann der Staat nicht mehr so tun, als sei das alles ein Missverständnis. Noch immer schallt es aus allen Löchern der Parteien, für Gerechtigkeit zu sorgen, Nachteile auszugleichen und niemanden allein zu lassen. Zweifellos sitzt da die Sozialpolitik in der Klemme und ist so rat- und hilflos wie Goethes Zauberlehrling.

Das Schema scheint fast perfekt: hier der jahrhunderte alte obrigkeitsstaatliche Verteilungsmechanismus, der mehr oder weniger funktioniert (jedenfalls heute besser als früher) – dort das Objekt, dem er sich zuwendet.

Heilserwartung und Stimmzettel

Eine Folge unserer Sozialpolitik ist eine wachsende Masse von Menschen, die von ihr abhängig ist und abhängig gemacht wird. Es ist gerade der Politik anzulasten, ein Interesse daran zu haben, möglichst viele hilfebedürftige Menschen zu zählen, deren Heilserwartung man auf den eigenen Stimmzettel lenken kann. Den unweigerlichen Irrtum, den Wahlzettel mit ihrem eigenen Wunschzettel verwechselt zu haben, verzeihen sie keiner Partei. Die neue Linkspartei spielt schon sehr gekonnt auf dieser Klaviatur.

Unsere Skepsis ist gesund, wenn wir Menschen begegnen, deren Schicksal von staatlicher Zuwendung abhängig ist, sowie auch die Skepsis derer, die staatliche Zuwendungen empfangen, absolut erklärlich ist.

Diese Skepsis ist aber weit weg von der Demütigung, die die individuelle Ohnmacht bei Menschen verursacht, die unverschuldet ihr Leben als real freie Personen verloren haben.

Aber der Mensch bleibt in unserem Sozialstaat auch dann Objekt fremder Entscheidungen, wenn er dessen Hilfe beansprucht.

Staatliche Fürsorge hat heute immer noch den Beigeschmack eines modernisierten Obrigkeitsstaats, dem die republikanische Gleichheit nicht angemessen ist.

Es geht nicht um Geld. „Es geht um den Subjektstatus freier Bürger“, wie es der Schweizer Wirtschaftsethiker Peter Ulrich in seinem 2004 gehaltenen Berner Vortrag zur „Zivilisierten Marktwirtschaft“ nennt. So sehr sich die Wohlfahrt um die Menschen auch kümmert – wenn sie sie als Objekt sieht, ist alles verloren.

Wir haben es mit einem Phänomen zu tun, das dem marxistischen Satz vom Sein, das das Bewusstsein bestimmt, eine enorme politische Sprengkraft zuweist. Dort – und hier wieder Karl Marx – wo die Quantität über das anerkannte gesellschaftliche Normmaß hinausgeht, schlägt es um in eine neue Qualität. Wenn also der Sozialstaat die politische Sprengkraft nicht auflösen kann, die sich aus der Subjekt-Objekt-Beziehung von Zuwendung und Empfang ergibt, dann bleibt die Armut demokratiegefährdend.

Was heißt das für die Sozialpolitik?

Es heißt, dass wir einen Weg finden müssen, der die Verteilung ohne einen Subjekt-Objekt-Mechanismus organisiert. Das Bürgergeld ist eine solche Idee, das ohne würdeverletzender Kontrolle auskommen könnte und den freiheitlichen Status eines jeden Bürgers wahrt. Darum muss es gehen. Auch ein steuerfinanzierter Grundzuschuss für Minderjährige zielt in diese Richtung.

Wir müssen uns um das Auskommen aller Bürger genauso kümmern wie um deren Status als unabhängige freie Personen.

Bürger, die von Hartz IV abhängig sind, sind nicht frei. Das kann man mir nicht weismachen. Es würde auch an Lächerlichkeit grenzen, einem Obdachlosen auf die Schulter zu klopfen und fröhlich zu trösten, „Mensch, sei froh, wenigstens darfst Du wählen wen du willst und sagen was du denkst.“

Ich habe auch nichts dagegen, dass Führungspersonen in Unternehmen mit Millionen Abfindungen nach Hause gehen. Das würden Minister auch gerne mitnehmen.

Aber ich habe entschieden etwas dagegen, dass jene Leute ihre finanziellen Verhältnisse offen legen müssen, die gar keine haben. Das ist eben keine freiheitlich-demokratische Geste des Staates. Das ist Obrigkeitsdenken und würdelos.

Ist also der Sinn der Politik nicht doch die Freiheit und einzig sie? Wobei ein versöhnlicher Schluss möglich und nötig ist, weil Hannah Arendt in ihren „Übungen im politischen Denken“ auch die Freiheit von Not einbezieht.

Thomas Maess

Thomas Maess, geb. 1948, erlernte die Berufe Betonbauer und Schriftsetzer, Layouter und Schriftgrafiker, bevor er in Jena Theologie studierte. Nach dem Studium arbeitete er als Verlagslektor im Verlag Hermann Böhlaus Nachf. Weimar und später im Akademie-Verlag Berlin. 1983 siedelte er mit seiner Familie nach West-Berlin über, schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten und ersten Publikationen durch, gründete ein Redaktionsbüro für Managementliteratur und begann nebenbei Reden für Unternehmensvorstände und Politiker zu schreiben; u.a. war er Redenschreiber für Heide Simonis. Heute macht er wieder dies und das, reist durchs geliebte Europa, spielt mit Enkeln, doziert über Sprache und Rhetorik, fotografiert viel und schreibt Rezensionen sowie andere überflüssigen Texte.

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