Quo Vadis, Nobelpreis? Ey Nobel, wo du wolle?

Verlieh man Dylan den Preis? Oder leiht der Preis sich Dylan? Mindestens müsste die Entscheidung den Preis radikal verändern. Doch nichts wird sich tun.


Die Nobelpreiskolumne vom Donnerstag fand zahlreiche Leser, teils freundlichen Zuspruch, oft einsilbige Ablehnung. Ein paar meist witzige aber inhaltlich relativ belanglose Sparrings schlossen sich an. Später war großer Fallout zu beobachten. Menschen schrien sich virtuell an, entfreundeten sich gar. Über die Gründe, warum so ein Thema solche Wellen schlägt spekulieren wir dann vielleicht mal, wenn die Sache sich wieder halbwegs beruhigt hat.

Im allgemeinen Trubel um die Verleihung des Literaturpreises an den „Song and Dance Man“ (Dylan über Dylan) weigerte man sich zu realisieren, dass die Antwort auf die Frage „Warum?“ durchaus weitreichende Konsequenzen für die abgehalfterte Institution Nobelpreis haben könnte.

Vor allem PR?

Vielleicht etwa lautet die Antwort: aus PR Gründen. Dann wurde nicht der Nobelpreis Bob Dylan verliehen. Der Preis leiht sich Dlyan. In diesem Fall könnte nun erstmal wieder Busines as usual gefahren werden, bis Stockholm einmal mehr gesteigert nach Aufmerksamkeit gelüstet. Dann könnte man vielleicht im Sinne poststrukturalistischer Kultur-als-Text-Thesen den Preis 2050 an Jerusalem verleihen, für die wechselhafte und gewaltsame Geschichte, die sich in die Architektur der Stadt eingegraben hat. Oder an Dublin. Warum nicht?

Lautet die Antwort aber ernsthafter: „Weil Lieder ab jetzt auch zählen!“, so schließen sich nicht einfach vom Tisch zu wischende Fragen an. Vor allem: inwiefern?

Lied und Lyrik

Also: das Lied, auf den Text reduziert? Wenn ja, gelten für die Texte die gleichen literarischen Qualitätskriterien wie generell für Texte? Das wäre ja schon schwer genug zu beantworten, würden wir nicht seit langem die ja doch zu Grunde gelegten Qualitätskriterien (die sich natürlich in der Beschäftigung mit dem Material stets modifizieren) nur noch selten explizit machen und höchstens mal beiseite hinnuscheln. Ich behaupte: Ein gutes Lied verlangt nach ganz anderem als ein gutes Gedicht. Allerdings: die Sache ist vertrackt und vielleicht findet man die eine Antwort nie (für das Kunstlied lässt es sich mE noch relativ stringente klären, wenn wir von Pop sprechen müssten allerdings eigentlich auch noch künstlerische Elemente des darstellenden Spiels und der Selbstinszenierung eingeklammert werden – vgl. kayfabe im modernen Stadiontheater – ein Mammutprojekt).

Daraus folgt aber nicht, dass die Frage irrelevant sei.

Oder eben: Das Lied als Lied? Man lese einfach mal spaßeshalber im New Yorker vom 24. Oktover 1964 nach (Quelle The Essential Interviews S.14-28), was das selbst für musikalisch simple Produktionen wie „My Back Pages“ bedeutet. Ein Preis nur für Bob Dylan allein wäre unter der Prämisse „ Das Lied als Lied“ kaum zu rechtfertigen. Und die Auszeichnung müsste in Zukunft konsequenterweise auch ganzen Bands und gar Produktionsteams offen stehen. Dann wäre der Preis, ohnehin schon immer ein unsäglicher politischer Preis zu einer Art politischem Grammy verkommen. Very unsexy. Um aus den Simpsons (ebenfalls Nobelpreiskandidat?) zu zitieren:

Mr. Simpson’s opinions do not reflect those of the producers, who don’t consider the Grammy an award at all.

Der Ausweg… D’oh!

Am einfachsten wäre es wohl, die Auszeichnung allein auf Dylans musiklose literarische Produktion zu beschränken. Das vom Autor selbst verachtete Tarrantula, die Chronicles, ein paar Gedichte, vielleicht auch das Masked and Anonymous-Script. Dann wäre die Vergabe zwar schwer zu rechtfertigen, aber das hat beim Nobelpreis eine unglaublich lange Tradition. Dumm nur, dass sich das Komitee mit der Begründung „für seine poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Song-Tradition“ diesen Ausweg selbst verbaut hat und noch hinzufügte: „Sein Einfluss auf die zeitgenössische Musik ist tiefgreifend.“

Von allen Sym- oder Antipathien für Dylan mal abgesehen: Mindestens MÜSSTE diese Entscheidung den Preis radikal verändern. Man müsste sich ihrer Implikationen bewusst werden.

Also: Quo Vadis, Nobelpreis? Ey Nobel, wo du wolle?

The answer, my friend, is blowin‘ in the wind.
The answer is blowin‘ in the wind

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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