Hör mal, Nichtwähler

Die Wahlbeteiligung in Deutschland sinkt kontinuierlich. Grund für unseren Kolumnisten, einen offenen Brief an die Nichtwähler zu schreiben.


Liebe Nichtwählerin, Lieber Nichtwähler,

ich weiß nicht, aus welchem Grund Sie nicht von Ihrem Wahlrecht Gebrauch machen wollen, aber Sie werden schon Ihre Gründe haben.

Vielleicht denken Sie ähnlich wie Julia Klöckner twittert und meinen, wer nicht Wählen geht, stärke die Wahlbeteiligung? #twitternwieklöckner Falls ja, tun Sie einfach nichts. Mit solchen Denkstörungen sollte man in der Tat nicht wählen gehen.

Vielleicht sind Sie mit der Politik der jeweiligen Regierung völlig einverstanden, rundum zufrieden und möchten nichts geändert haben? Dann sollten Sie sich aber darüber im Klaren sein, dass Sie dann schon der ein oder anderen Regierungspartei Ihre Stimme geben sollten. Sie können sich ja nicht darauf verlassen, dass die Wähler das letzte Wahlergebnis nochmal Ihnen zu Liebe wiederholen. Manche sind in der Zwischenzeit in die endgültige Urne gewechselt und andere ins Wahlrechtsalter gekommen. Und mancher Nichtwähler vom letzten Mal will wieder mitwählen. Es sind also nicht mal mehr dieselben. Und wenn nun alle Zufriedenen auf ihr Wahlrecht verzichten, bestimmen nur noch die Unzufriedenen. Wären Sie dann noch zufrieden? Falls ja, tun Sie einfach nichts.

Vielleicht sind Sie auch mit der Politik der Regierung absolut unzufrieden und möchten das durch Ihr Nichtwählen demonstrieren als Protestnichtwähler? Oder Sie haben bei der letzten Wahl eine Partei gewählt, die in der Opposition gelandet ist und keines Ihrer politischen Ziele verwirklichen konnte? Auch da kann es Ihnen nun passieren, dass sie durch Ihr erneutes Nichtwählen genau diese Politik noch mal bekommen. Wollen Sie das? Falls ja, tun Sie einfach nichts.

Vielleicht ist Ihnen Politik auch völlig egal und Sie möchten von Politikern einfach nur in Ruhe gelassen werden? Sollen sich einfach andere darum kümmern, dass der Laden läuft. Ja, bisher hatten Sie da in Deutschland ziemliches Glück mit jeder Regierung der vergangenen 70 Jahre – jedenfalls im Westen. Da wurden Sie auch beim Wählen in Ruhe gelassen, nicht mit einer Wahlpflicht belästigt  und konnten sich am Wahlsonntag entspannt auf dem Sofa räkeln. Aber auch das muss ja nicht so bleiben. Ist Ihnen Wurscht? Wollen Sie das? Falls ja, tun Sie einfach nichts.

Vielleicht wählen Sie ja aus Prinzip nicht, z.B. um gegen das bestehende System zu protestieren? Können Sie natürlich auch machen. Allerdings nur innerhalb des bestehenden Systems. Schon etwas kurios, dass dieses System, dass Sie ja abgrundtief ablehnen, gerade Ihnen die Möglichkeit lässt, es abzulehnen. Spricht das nicht für das System und wäre das nicht doch ein Grund es zu erhalten? Dann müssten Sie eventuell doch mal wählen gehen.

Vielleicht ist Ihnen auch der Sonntag heilig, sie haben religiöse Gründe  oder Sie lehnen einfach es ab, sich vom Staat an einem bestimmten Tag an eine Urne „zwingen“ zu lassen? Im ersten Fall mögen sie damit selig werden, im letzten Fall könnten Sie sich natürlich auch per Briefwahl beteiligen. Geht ganz einfach und Sie haben viel mehr Muße sich den teilweise irre langen Wahlzettel anzusehen. Aber vielleicht wollen Sie überhaupt nichts mit dem Staat zu tun haben? Echt? Auch keine Leistungen vom Staat, mit Straßen angefangen? Keine Sozialeistungen? Hm? Okay, ich lasse Sie in Frieden.

Vielleicht sagen Sie aber auch, Sie würden ja gerne wählen, sehen sich aber von keiner Partei vertreten?
Ja, auch das mag sein. Obwohl, kennen Sie wirklich alle antretenden Parteien und deren Programme? Gucken Sie mal auf das Kolumnenfoto. Das sind die Parteien, die an diesem Sonntag antreten. Nicht alle in allen Ländern, aber immerhin die meisten.   Falls Sie die nicht alle kennen, checken Sie doch mal den jeweiligen Wahl-O-Maten für Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt oder Rheinland-Pfalz .  Da müsste für fast jeden was dabei sein. Nein, nicht für Sie?  Sie gehören also zu denjenigen, die absolut kompromisslos sind. Die lieber heroisch verhungern, als etwas zu essen, das nicht vollständig ihrem Geschmack entspricht. Die auch in der Wüste lieber verdursten, als ein etwas schales Wasser anzunehmen.  Gut, wenn Sie Meinungen haben, die außer Ihnen wirklich niemand vertritt, dann ist es vielleicht die einzige Wahl, die sie haben, nicht zu wählen. Das ist aber selten. Selbst die Aluhutträger sind nicht alleine. Ansonsten könnten Sie auch selbst als Einzelkandidat  kandidieren und versuchen für Ihr Solo-Programm eine Mehrheit zu finden. Das Phänomen, dass es auch ganz Irre schaffen können, andere für sich zu begeistern, ist unter der Bezeichnung Trumpeffekt bekannt geworden. Okay, nicht mehr an diesem Wochenende, aber bei der nächsten Wahl. Sie könnten auch eine Partei gründen. Der Lucke macht das dauernd mit mehr oder weniger Erfolg.

Wenn, wie bei der Kommunalwahl in Hessen letzter Woche, über 60% der Wähler nicht zur Wahl gehen, dann fragt man sich schon, ob der Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung und Volksabstimmungen wirklich ernst gemeint ist. Wenn nicht mal die demokratische Minmalbeteiligung durch Wählen genutzt wird, soll ich dann wirklch glauben, bei Abstimmungen wäre das viel anders? Wenn nur der kleinere Teil der Wahlberechtigten bei Wahlen seine Stimme abgibt, gibt der andere Teil seinen Machtanteil an der Staatsgewalt freiwillig auf.

In Art. 20 Abs. 2 GG heißt es:

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

Wenn das Volk aber einfach keinen Bock mehr hat, sich an Wahlen zu beteiligen, dann geht alle Staatsgewalt nicht mehr vom Volke aus, sondern sie geht dem Volke aus. Dann geht den Abgeordneten die Legitimation verloren, die sie für eine kraftvolle Interessenvertretung benötigen. Dann bestimmt nur noch ein kleiner Teil des Volkes. Und er bestimmt dann auch über den größeren Teil mit. Der Demokratie wird damit das Wasser abgegraben, sie trocknet aus und verödet. Ist Ihnen als Nichtwähler das wirklich alles egal? Oder wollen Sie gerne, dass andere über Ihr Wohl bestimmen? Sind Sie sonst auch so unterwürfig?

Sie als überzeugter Nichtwähler haben das doch sicherlich bei Ihrer Entscheidung alles genau bedacht. Sie sind ja kein Depp, sondern ein bewusster, mündiger Bürger, der durch die mutige Nichtwahlentscheidung ein politisches Zeichen setzen will. Der eben nicht einfach zu faul ist zur Wahl zu gehen, weil das Wetter wahlweise zu schön oder zu schlecht, zu heiß oder zu nass ist. Diese Art von Nichtwählern können Sie auch nicht verstehen und von diesen unterscheiden Sie sich doch vehement, nicht wahr. Sie sind politisch interessiert, sonst würden Sie doch auch gar nicht diese Kolumne lesen.

Ist Nichtwählen cool?

Schon vor der Bundestagswahl 2013 wurde das Nichtwählen von einigen Intellektuellen vehement verteidigt und geradezu philosophisch veredelt.

„Nicht zu wählen ist ein Akt der Aufkündigung eines Einverständnisses mit der Politik der Parteien“, schrieb Harald Welzer in einem Essay im „Spiegel“ Ende Mai 2013. Georg Diez legte im Juli nach, mit der Frage: „Denn was sollen Wahlen in einem System, das nur noch als Schrumpfform der Demokratie zu erkennen ist?“. Habermas, Sloterdijk, Precht und viele andere bliesen damals bereits ausdrücklich zum Wahlboykott. Und natürlich hat Hugo Müller-Vogg Recht, wenn er betont, dass man nicht wählen muss. Man muss auch die Demokratie nicht gut finden und man darf sich auch eine Frikadelle ans Knie nageln.

Die Kritik an der Kaumunterscheidbarkeit der im Bundestag vertretenen Parteien ist dabei durchaus nachzuvollziehen. Schließlich waren alle im Bundestag vertretenen Parteien, bis auf die Linke, in der Vergangenheit in wechselnden Besetzungen mal an der Regierungsarbeit beteiligt und haben die richtungsweisenden Entscheidungen mehr oder weniger gemeinsam getroffen. Eine echte Opposition im Sinne einer grundlegend anderen Politikidee ist – die Linke ausgenommen – im Bund jedenfalls für normale Menschen nicht mehr so einfach erkennbar. Manche meinen nun plötzlich doch eine Alternative zu sehen – und die gehen jetzt, wie man in Hessen sehen konnte, auch zur Wahl. Gut möglich, das viele von denen früher auch Nichtwähler waren. Jetzt nutzen die Ihre Nichtwahkentscheidung, um mit relativ wenig Stimmen recht viele Prozente einzufahren. Die sind clever.  Wenn Sie aber als Nichtwähler diese Alternative nicht wirklich für eine vertretbare Alternative halten, dann können Sie nun aber nicht mehr so tun, als gäbe es die nicht. Sie müssen sich darüber im klaren sein, dass die Stimmen für diese Alternative  umso schwerer wiegen, je weniger Stimmen insgesamt abgegeben werden. Wenn Sie das wollen oder es Ihnen auch nur egal ist, dann bleiben Sie getrost Zuhause. Wenn nicht, dann müssen Sie Ihr Verhältnis zum Wählen vielleicht noch einmal überprüfen.

Trotzreaktion

Die Option nicht zu wählen, ist bei aller intellektuellen und pseudointellektuellen Begründung letztlich eine beleidigte Kleinkind-Trotzreaktion. Die sind alle doof und wollen nicht mit mir spielen, also spiele ich auch nicht mehr mit denen.  Je geringer die Wahlbeteiligung, um so wahrscheinlicher wird es, dass auch verfassungsfeindliche Parteien eine Chance auf einen Parlamentsauftritt bekommen. Klar gibt es auch Bürger, die sich ein System wie in der DDR zurück wünschen, aber die dürften hoffentlich in der Minderheit sein. Obwohl, manchmal zweifle ich auch daran. Radikale Parteien muss ich auf Dauer nicht in den Parlamenten haben, auch wenn es für eine Legislaturperiode und in einem Landtag vielleicht mal den Unterhaltungswert von parlamentarischen Debatten erhöhen mag. Die heute-show wird es sicher freuen.

Es ist ein unerfüllbarer Traum, jemals eine hundertprozentige Wahlbeteiligung zu erleben. Aber stellen Sie sich mal vor, was das – ganz unabhängig vom Ergebnis – für eine Stärkung des Parlaments und der Demokratie bedeuten würde. Mit welchem Selbstbewusstsein Abgeordnete aus allen politischen Richtungen diskutieren könnten. Die könnten sich dann wirklich als Repräsentanten des ganzen Volkes fühlen und nicht nur als Repräsentaten einer wählenden Minderheit.

Natürlich haben Sie auch immer noch das Recht nicht zu wählen. Aber erzählen Sie mir doch bitte nicht, Sie würden das aus Sorge um die Demokratie, das Land oder den Staat machen. Je geringer die Wahlbeteiligung wird, umso weniger sind die Angeordneten legitimiert, für das Volk zu sprechen. Und durch wen soll das Volk dann sprechen? Durch diejenigen die einfach so lautstark behaupten sie seien das Volk? Durch beleidigte Intellektuelle, die zwar klug daherreden, aber gerade selbst nicht bereit sind, selbst in den Ring zu steigen und Verantwortung zu übernehmen? Durch Anarchie? Mag ja vielleicht ein paar Tage oder Wochen lang ganz lustig sein, aber auf Dauer?
Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen auf der Welt haben wir in Deutschland das Recht zu wählen. Das war nicht immer so, es musste erkämpft werden. Wenn Sie meinen, dass das bei der letzten Wahl nicht so richtig geklappt hat, dann ändern Sie es doch einfach. Das Ergebnis der Wahlen an diesem Wochenende wird sicher nicht jedem schmecken, aber es erhielte auf jeden Fall eine bessere Basis und eine höhere Legitimation, für wen oder was auch immer,  je mehr wirklich das Volk, also eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, sich an der Wahl beteiligt hat. Das Ergebnis muss man dann aushalten, auch wenn es nicht das erwünschte ist. So funktioniert Demokratie. Noch.
Machen Sie es gut, machen Sie es richtig.
Ihr Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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