Heiner Flassbeck: Kein Problem ist gelöst!

„Wenn sich nichts bessert, werden die anti-europäischen Parteien bald eine Mehrheit haben“, warnt Heiner Flassbeck im Interview. Setzt sich die Austeritätspolitik fort, prognostiziert der ehemalige UNCTAD-Chefökonom ein baldiges Ende des Europa, wie wir es kennen.


Heiner Flassbeck war 1998 bis 1999 Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, 2003 bis 2012 Chef-Volkswirt bei der UNO-Organisation für Welthandel und Entwicklung (UNCTAD). Seit knapp 20 Jahren warnt er vor dem Auseinanderlaufen der Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone und mahnt eine europäische Wirtschaftspolitik an, „in der alle Teilnehmer bereit und in der Lage sind, sich dem im System insgesamt akzeptierten Inflationsziel anzupassen“.

Sören Heim befragte Flassbeck zu seiner Einschätzung der derzeitigen wirtschaftlichen Lage.

Verschärft globale Rezession „Flüchtlingskrise“?

Sören Heim: Die „Flüchtlingskrise“ ist in aller Munde, es scheint fast, die andere große Krise, die seit sechs Jahren die Welt bewegt, die „Eurokrise“, sei überwunden. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?

Heiner Flassbeck: Es sieht wirtschaftlich weiter ganz schlecht aus. Es hat sich überhaupt nichts verbessert. Europaweit herrscht Stagnation, in einigen Ländern geht es abwärts. Die Weltwirtschaft hat Probleme, es könnte eine globale Rezession geben. China schwächt sich stark ab. Ebenso andere Schwellen- und Entwicklungsländer. Es ist überhaupt kein Problem gelöst in Europa und jetzt kommt eben das Flüchtlingsproblem noch dazu.

„Schäuble sitzt auf Geldsack“

SH: Und warum kommt die europäische Wirtschaft nicht auf die Beine?

HF: Wegen der falschen Wirtschaftspolitik. Weil Schäuble, sozusagen, auf dem Geldsack sitzt. Weil die Staaten trotz extrem niedriger Zinsen nichts tun, um die Wirtschaft anzuregen. Es zeigt sich jetzt eben, dass es eine große Illusion war zu glauben mit „Strukturreformen“ würde die Wirtschaft schon von alleine wachsen. Das tut sie nicht. Im Gegenteil. Die meisten dieser Reformen schwächen die Wirtschaft erstmal, und nun sitzen wir auf dem Boden.

SH: Aus der deutschen Presse kamen ja dieses Jahr vor allem positive Meldungen. Wie beurteilen Sie denn in diesem Zusammenhang die deutsche Wirtschaft?

HF: Die deutsche Presse jubelt immer, das ist eine regelrechte Jubelpresse bei diesem Thema. Die deutsche Wirtschaft stagniert seit 2011, in jedem normalen Pressebericht würde das so stehen. Deutschland ist mittlerweile offen deflationär. Wir hatten in den Sechziger-Jahren vier Stabilitäts- und Wachstumsziele: Preisstabilität, hoher Beschäftigungstand, angemessenes Wachstum und außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Davon wird heute kein einziges erreicht. Und trotzdem jubeln deutsche Medien und Ökonomen, dass alles gut sei.

Deutsche Jubelpresse?

Arbeitslosigkeit USA

SH: Stichworte „Wachstum“ und „Beschäftigung“. In den USA geht es den Daten nach spürbarer aufwärts als hier, oder? Woran liegt das?

HF: Dort läuft es besser, aber auch nicht gut. Aber wenn man die ökonomische Entwicklung direkt vergleicht, dann sieht man trotzdem: Da liegen Welten dazwischen! Der Grund ist eine andere Wirtschaftspolitik. In den USA hat man wesentlich aggressiver auf die Krise reagiert, man hat die Geldpolitik sehr viel früher gelockert. Und der Staat war sehr viel pragmatischer hinsichtlich der Fiskaldefizite. Man hat also investiert und keine „Strukturreformen“ gemacht, keine Lohnkürzungen, wie wir es in Europa in Massen gesehen haben.

SH: Es gibt nicht wenige Ökonomen, die einwenden werden mit mehr Schulden, also mit „Deficit Spending“ habe man es lange genug versucht, das habe auch nicht funktioniert. Darum sei der deutsche Weg schon richtig.

Wir leben von den Schulden der Andern

HF: „Deficit Spending“ – das macht Deutschland ja auch – nur eben immer mit Hilfe anderer Länder. Auch jetzt macht Deutschland Deficit Spending. Es lebt davon, dauerhaft Überschüsse im Außenhandel zu haben während andere Länder sich verschulden müssen. Deutschland braucht in diesem Jahr allein 250 Milliarden Euro neue Schulden – also Schulden der anderen Länder – um überhaupt vielleicht um 1,5 % zu wachsen. Das wird auch in der deutschen Presse nicht gesagt.

Auch beim BIP geht es in der Eurozone nur langsam aufwärts. Auch hier liege der Unterschied zur USA in der Austeritätspolitik begründet.

SH: Aber sind Spanien und Portugal nicht Beispiele für erfolgreiche Strukturreformen?

HF: Naja. Zu Spanien kann ich nur sagen: fantasievolle Buchführung. Da spricht nichts dafür, dass das Bruttoinlandsprodukt so stark steigt wie es vom statistischen Amt dort errechnet wird. Portugal hat sich ganz minimal aufwärts bewegt. Die Industrieproduktion ist ein wenig gestiegen, im Bausektor geht aber überhaupt nichts. Der Einzelhandel hat sich ein klein bisschen gebessert. Das sind so die wichtigsten Indikatoren, auf das Bruttoinlandsprodukt schaue ich da gar nicht mehr, weil das alles errechnete Fantasien sind.
Und Spanien hat übrigens ausgerechnet in diesem Jahr gar keine Kürzungen mehr durchgeführt.

Mindestlohn: Ohne Wirkung?

SH: In Deutschland kam der Mindestlohn. Keynesianer hatten die Hoffnung, dass das der Nachfrage Auftrieb verleiht. Andere Ökonomen warnten teils vor der Vernichtung von Millionen Arbeitsplätzen. Was ist passiert?

HF: Ja – nichts! Weder ist es durch den Mindestlohn aufwärts noch abwärts gegangen. Dieser Mindestlohn ist einfach völlig unproblematisch, die Unternehmen zahlen den, fertig aus. Die Horrormeldungen, die von Ifo und anderen Instituten an die Wand gemalt wurden, erweisen sich als völlig lächerlich. Bei der deutschen Arbeitslosigkeit sieht man noch nicht mal die Spur einer Auswirkung.

SH: In den USA, in Großbritannien, in Australien – alles Staaten, die gerne als Musterbeispiele des freien Marktes präsentiert werden – gibt es Mindestlöhne. Gerade von konservativen Politikern höre ich in Gesprächen öfter, dass man europaweiten Transferzahlungen im Stile des Solidaritätszuschlags den Vorzug vor landesspezifischen Mindestlöhne gibt. Was denken Sie, warum? Wäre Ersteres nicht ordnungspolitisch eleganter? Weniger Umverteilung?

„Kapitalisten verstehen Kapitalismus nicht“

HF: Ein Mindestlohn ist doch nicht die Lösung der europäischen Probleme. Mindestlohn reicht nicht aus. Das Problem ist das riesige Ungleichgewicht in den Außenhandelssalden und in der Wettbewerbsfähigkeit. Dazu müssen hier die Löhne über viele Jahre deutlich stärker steigen. Sie steigen übrigens dieses Jahr wieder nicht in einem ausreichenden Rahmen. Vielleicht zweieinhalb Prozent am Ende, aber das ist viel zu wenig.
Und Transfers? Das wird doch immer nur so dahingesagt. Das darf man nicht ernst nehmen. Am Ende würde doch niemand diese Transfers bezahlen wollen. Wie zwischen West- und Ostdeutschland.

SH: Eine Anekdote, die ich auf Facebook aufgeschnappt habe: Eine Autohändlerin beschwert sich über das hohe Lohnniveau. Jemand fragt sie, wer bei niedrigerem Lohnniveau eigentlich noch ihre Autos kauft. Die Händlerin guckt verständnislos. Muss die Linke den Kapitalismus vor sich selbst retten?

HF: Sieht so aus. Kapitalisten begreifen den Kapitalismus nicht. Deswegen machen sie auch dauernd eine Politik, die sie in den Abgrund führt. Wenn sie ein paar Jahre Gewinne machen ist alles gut. Und dann nach mir die Sinnflut. Henry Fords „Autos kaufen keine Autos“ gehört wohl nicht zum vermittelten Wissen für Autohändler. Da bräuchte es schon eine Politik, die einen Horizont jenseits des Autohändlers hat. Aber das ist ja auch nicht der Fall.

Finstere Aussichten für Europa?

SH: Kommen wir nochmal zurück zur „Flüchtlingskrise“. Was bedeutet die denn ökonomisch?

HF: Das kommt ganz darauf an, was man jetzt tut. Wenn Herr Schäuble weiter auf dem Geldsack sitzt, nicht bereit ist Geld auszugeben – „sparen für Flüchtlinge“, das ist ja jetzt gerade die Parole – dann ist das ziemlich katastrophal. Dann wird sich vor allem die Arbeitslosigkeit erhöhen. Dann wird der Konflikt sehr viel größer als es sein müsste, wenn man jetzt massiv investieren würde. Also direkt Geld ausgeben, um zu integrieren. Und dazu die Investitionen die es sowieso bräuchte, um die Konjunktur anzuregen. Macht man das, gäbe es keine großen Probleme. Dann würde die Integration wahrscheinlich relativ reibungslos über die Bühne gehen.

SH: Zum Abschluss: 2017 sind Wahlen in Frankreich, es sieht aus als könnte Marine Le Pen die Mehrheit erringen. Hat der Euro, hat Europa eine Zukunft?

HF: Das kann sich schon in den nächsten Monaten entscheiden. Wenn es nochmal eine globale Abschwächung gibt, Europa nochmal in die Rezession rutscht, dann ist alles möglich. Dann ist auch möglich, dass Le Pen die Präsidentschaftswahlen gewinnt. Aber vorher sind noch Wahlen zur Nationalversammlung. Und wenn da der Front National wieder stärkste Partei wird wie bei den Europawahlen, dann ist sowieso das Klima ein ganz anderes. Dann werden wir erleben, dass in Frankreich alle Parteien nach rechts rücken. Wie es dann weitergeht ist eine offene Frage. Zunächst kann man ja noch versuchen im Rahmen Europas zu verhandeln. Aber wenn Le Pen wirklich an die Macht käme, könnte man nicht mehr verhandeln. Sie will ja gar nicht verhandeln. Sie will raus aus Europa. Das gilt auch für Italien. Wenn sich da nichts bessert, werden die anti-europäischen Parteien Anfang 2018 eine Mehrheit haben und dann ist es auch von dieser Seite vorbei.

SH: Finstere Aussichten. Vielen Dank für das Interview.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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