Ist „Stalin erst gestern gestorben“?

Eine Konferenz, die Ende Oktober unter der Überschrift „Kultur und Macht in der UdSSR in den 1920er-1950er Jahren“ in Sankt Petersburg stattfand, befasste sich auch mit dem Stalin-Kult im heutigen Russland und mit seinen Widersachern.


 

Wie lässt sich der bizarre Stalin-Kult, der die politische Kultur des heutigen Russland so belastet, eindämmen? Warum sind solche Einrichtungen, wie z.B. „Memorial“, die sich seit Jahren mit der Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit befassen, nicht imstande, breitere Bevölkerungsschichten zu beeinflussen und der historischen Wahrheit entscheidend zum Durchbruch zu verhelfen? Auch mit diesen Fragen befasste sich die neunte Konferenz aus dem Zyklus „Geschichte des Stalinismus“, die Ende Oktober in Sankt Petersburg stattfand. Zwar werden diese Konferenzen von zahlreichen Einrichtungen, auch von „Memorial“, mitorganisiert, eine federführende Rolle spielt hier indes der Moskauer Verlag ROSSPEN (Russische Politische Enzyklopädie), der vor acht Jahren diesen Konferenz-Zyklus ins Leben gerufen hatte. Auch die Buchreihe des Verlages, die ebenfalls den Titel „Geschichte des Stalinismus“ trägt und inzwischen etwa 160 Bände zählt, setzt sich mit der stalinistischen Vergangenheit schonungslos auseinander.

Schriftsteller als „Stellvertreter Stalins“

Den thematischen Schwerpunkt der Petersburger Konferenz stellte die ambivalente Einstellung Stalins und der Stalinisten zur Kultur bzw. zu den Kulturschaffenden, insbesondere zu den Schriftstellern, dar. Einige Referenten wiesen darauf hin, dass Stalin sich im Gegensatz zu Lenin, der die Intelligenz äußerst misstrauisch beobachtet hatte, unentwegt um die Einbindung der Schriftsteller und Künstler in sein Herrschaftssystem bemühte. Er sei sich darüber im Klaren gewesen, dass vor allem die Schriftsteller, die „Ingenieure der menschlichen Seelen“, die herrschende Ideologie mit einer besonderen Effizienz propagieren konnten. Und die Rechnung Stalins, so der Historiker Oleg Leibowitsch (Perm), ging auf. Viele Schriftsteller hätten sich in gewisser Weise als „Stellvertreter Stalins“ empfunden und hätten versucht, die geheimsten Wünsche des Kreml-Herrschers zu erraten und sie in die Wirklichkeit umzusetzen. Der Referent sprach sogar von einer Art „mystischer Verbindung“ mancher Autoren mit dem Diktator.

Beinahe alle großen Schriftsteller der damaligen Zeit hätten eine Art „Liebesbeziehung mit Stalin“ gehabt, fügte der Literaturhistoriker Konstantin Asadowski hinzu. Sie hätten wiederholt Gespräche mit dem Tyrannen geführt (oft waren es Telefonate), der sich als Literaturkenner gebärdete und manchen namhaften Autoren Ratschläge unterschiedlichster Art erteilte. Sogar solche regimekritische Schriftsteller wie Michail Bulgakow oder Boris Pasternak ließen sich auf dieses Stalinsche Spiel ein, so Asadowski. Er fügte aber sogleich hinzu, dass zu den Opfern der Stalinschen Verführungskünste nicht nur sowjetische, sondern auch viele westliche Autoren zählten und nannte stellvertretend für viele Romain Rolland.

Besonders lebhaft wurde auf der Konferenz die Frage diskutiert, warum der vor 63 Jahren verstorbene Diktator immer noch im Zentrum vieler politischer Debatten im Lande stehe, und zwar so, als ob er erst gestern gestorben wäre? Die Beschäftigung mit der Geschichte des Stalinismus habe eine außerordentlich aktuelle politische Relevanz, bemerkte in diesem Zusammenhang zu Beginn der Konferenz der Leiter des Verlags ROSSPEN, Andrej Sorokin: „Ein innergesellschaftlicher Konsens lässt sich nur dann  finden, wenn es gelingt, die Vergangenheit wissenschaftlich aufzuarbeiten“.

Die „Generation des XX. Parteitages“ während der Perestroika oder der zweite Anlauf im Kampf gegen das Stalinsche Erbe

Sorokins Thesen weisen große Ähnlichkeiten mit Äußerungen auf, die man bereits vor etwa dreißig Jahren – auf dem Höhepunkt der Gorbatschowschen Perestroika – gehört hatte. Auch damals ging man davon aus, dass eine Befreiung von dem immer noch nicht aufgearbeiteten Stalinschen Erbe die wohl wichtigste Voraussetzung für eine „Gesundung“ der Gesellschaft darstelle.

Zu den entschiedensten Verfechtern der Perestrojka zählten diejenigen Politiker und Publizisten, die sich seinerzeit an dem vom XX. Parteitag der KPdSU, also in erster Linie von Nikita Chruschtschow, eingeleiteten Reformprozess aktiv beteiligt hatten und die im Zuge der Breschnewschen Restauration kaltgestellt worden waren.

Nun bekam die damals entmachtete Gruppe eine neue Chance. Ihre ideologischen und politischen Vorstellungen prägten die erste Phase der Perestroika sehr stark. Die Leichtigkeit, mit der es der regierenden Bürokratie nach dem Sturz Chruschtschows im Jahre 1964 gelungen war, den Erneuerungsprozess im Lande abzuwürgen und verlorenes Terrain wiederzugewinnen, wurde für die „Generation des XX. Parteitages“ zum Trauma. Sie sahen darin die verspätete Rache Stalins und führten den Sieg der Parteibürokraten vor allem darauf zurück, dass Chruschtschow es nicht gewagt hatte, die in den 1930er Jahren entstandenen stalinistischen Strukturen, das sog. „Stalinsche Kommandosystem“ gründlich zu erschüttern. Sie sehnten sich nach der leninistischen Vergangenheit zurück, nach der Frühzeit des Bolschewismus, in der die Partei aus ihrer Sicht noch kein willfähriges Organ in den Händen der Führung, sondern eine offen diskutierende Gemeinschaft von Gleichgesinnten gewesen war. Auch Gorbatschow selbst verfiel bei der Erwähnung Lenins in der Regel in einen schwärmerischen Ton: „Die Hinwendung zu Lenin … hat eine äußerst stimulierende Rolle bei der Suche nach Erklärungen und Antworten auf die anfallenden Fragen gespielt“, sagte er z.B. im November 1987.

Lenin vs. Stalin?

Lenin, vor allem in seinen letzten Jahren (nach der Einführung der NEP – der Neuen Ökonomischen Politik – im Jahre 1921) symbolisierte für die „Generation des XX. Parteitages“ die innerparteiliche Demokratie, den Kampf gegen bürokratische Auswüchse – all das, was der von Stalin entwickelte Apparat später abwürgte. Die Befreiung der Gesellschaft von der erstickenden Umarmung dieses Apparats galt den Reformern als eine der wichtigsten Aufgaben der Perestroika.

Die Verfechter der alten Ordnung sahen sehr früh voraus, sicherlich früher als Gorbatschow, welch katastrophale Folgen für das Regime die Lockerung der bestehenden Machtstrukturen, das Abrücken vom kommunistischen Unfehlbarkeitsdogma oder die Förderung der gesellschaftlichen Eigeninitiative haben könnten. Ihr Widerstand gegen den Kurs Gorbatschows nahm deshalb kontinuierlich zu. Die Reformer führten diesen Widerstand auf das immer noch lebendige Stalinsche Erbe zurück: „Stalin ist erst gestern gestorben…“, schrieb der Moskauer Historiker Michail Gefter Mitte 1988 in dem vielzitierten Sammelband „Es gibt keine Alternative zu Perestroika…“. Aber nicht nur der bürokratische Apparat stand nach Ansicht der Reformer der Perestroika im Wege. Viele Stalinsche Verhaltens- und Denkmuster seien nicht nur von Vertretern der Machtelite, sondern auch von breiten Bevölkerungsschichten verinnerlicht worden. Einige Autoren sprachen in diesem Zusammenhang vom naiven „Volksstalinismus“. Der Publizist Len Karpinski führte Mitte 1988 das Phänomen des „Volksstalinismus“ auf folgende Ursachen zurück: „Dazu gehört die aufrichtige Identifizierung Stalins mit den Idealen des Sozialismus, … die Nostalgie nach der eigenen kämpferischen Jugend und …(auch) das Bedürfnis nach Schutz, nach einer väterlich übergeordneten Kraft, die das Laster bestraft, die Tugend belohnt und alles auf den rechten Platz rückt.“

Nach Ansicht der Reformer gab es ein Mittel, das besonders gut dazu geeignet war, die Stalin-Mythologie zu bekämpfen, nämlich die Wahrheit über die damaligen Verbrechen, und zwar die ganze Wahrheit und nicht eine vorsichtig dosierte. Mit diesem Wahrheitspostulat gerieten allerdings diejenigen Verfechter der Perestroika, die den Stalinismus mit Hilfe der Leninschen Ideen bekämpfen wollten, in ein großes Dilemma. Denn der Wahrheitsrausch, in dem sich das Land befand, begann auch mächtig am Lenin-Denkmal zu rütteln. Es stellte sich allmählich heraus, dass eine pluralistische und offene Gesellschaft mit Lenins Prinzipien kaum zu vereinbaren war, denn die Missachtung gegenüber den elementarsten demokratischen Spielregeln gehörte auch zum Wesen des Leninschen Systems. Die Rückkehr zu Lenin wäre also kaum mit dem erhofften emanzipatorischen Effekt verbunden gewesen. Die Lenin-Euphorie ließ in der Publizistik der Perestroika allmählich nach. Immer häufiger wurde das von Lenin während des russischen Bürgerkrieges geschaffene System des Kriegskommunismus als der unmittelbare Vorläufer des Stalinschen Kommandosystems angesehen.

Als Gorbatschow während der Perestroika verkündete: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“, läutete er damit im Grunde das Ende des kommunistischen Systems ein. Denn das demokratische Prinzip, das die Bolschewiki aus ihren Staatsstrukturen verbannt hatten, musste zwangsläufig das auf lückenlose Kontrolle programmierte kommunistische System aus den Angeln heben.

Der Mythos von einem „guten Tyrannen“

Nun aber zurück zur Petersburger Konferenz. Das Phänomen des „Volksstalinismus“, das der bereits erwähnte Len Karpinski im Jahre 1988 so anschaulich geschildert hatte, wurde auch in Petersburg mehrmals angesprochen. In erster Linie tat dies der wissenschaftliche Leiter des Russischen Staatsarchivs (GARF) Sergej Mironenko. Die Tatsache, dass Stalins politisches Handeln von vielen Russen positiv bewertet wird, führt Mironenko auf die im Lande tief verankerte Sehnsucht nach politischen Mythen zurück, nicht zuletzt auch nach dem Mythos von einem „guten Tyrannen“, der das Land mit einer strenger Hand regiere und den Staat vor inneren und äußeren Gefahren schütze. Damit meinte Mironenko nicht nur Stalin, sondern z. B. auch den Zaren Iwan den Schrecklichen, dem zu Ehren vor kurzem ein Denkmal in der Stadt Orjol errichtet worden war. Den Kampf gegen solche Mythen hält Mironenko für eine der wichtigsten Aufgaben der Zeit. Darum hat sich Mironenko auch schon selbst bemüht, als er den sogenannten „Panfilowzy“-Mythos zu entzaubern suchte. Es handelte sich dabei um die vielfach gepriesene Heldentat der Soldaten der Panfilow-Division, die im November 1941 angeblich durch ihre beispiellose Aufopferungsbereitschaft den Vormarsch der Deutschen in Richtung Moskau verzögert hatten. Mironenko konnte indes nachweisen, dass diese Heldentat im Wesentlichen von den Journalisten der Zeitung „Krasnaja Swesda“ (Roter Stern) erfunden worden war und hatte damit entrüstete Reaktionen mancher national gesinnter Kreise hervorgerufen. Zu den Kritikern Mironenkos gehörte auch der Kulturminister Wladimir Medinskij. Nicht zuletzt deshalb musste Mironenko als Direktor des Staatsarchivs, das er seit 1992 geleitet hatte, zurücktreten. Nach seiner Entlassung wurde Mironenko zum wissenschaftlichen Leiter des Archivs ernannt – es war also eine recht „weiche Landung“.

Stalin vs. Stolypin 

Und wie verhält es sich mit der Einstellung der Kreml-Führung selbst zu der im Lande verbreiteten Stalin-Mythologie? Sie zeichnet sich durch eine Ambivalenz aus. So haben sowohl Wladimir Putin als auch sein Nachfolger und Vorgänger Dmitrij Medwedew das Stalinsche Terrorsystem in den letzten Jahren mehrmals scharf verurteilt. Symbolisch hierfür war z.B. die Teilnahme Putins an einer Gedenkveranstaltung auf dem Erschießungsplatz im Moskauer Vorort Butowo, wo in den Jahren 1937-38 (zur Zeit des sogenannten „Großen Terrors) Tausende von Menschen erschossen wurden. Diese Veranstaltung fand am 30. Oktober 2007 – am Gedenktag für die Opfer der politischen Repressalien – statt. Zwei Jahre später sagte Putin in einer Fernsehsendung Folgendes: Alles Positive, was es unter Stalin gegeben habe (Putin meinte hier in erster Linie den sowjetischen Sieg über das Dritte Reich) sei mit einem unannehmbaren Preis bezahlt worden. Eine solche Methode den Staat zu regieren sei unannehmbar: „Ohne Zweifel hatten wir es in dieser Epoche mit Massenverbrechen gegen das eigene Volk zu tun“.

In ähnlichem Sinne äußerte sich wiederholt auch Dmitrij Medwedew.

Auf der anderen Seite kritisiert Putin unentwegt eine allzu negative Darstellung der russischen Geschichte, und meint, dass „Schulbücher Stolz erwecken (müssen)“.

Die Einstellung der heutigen Führung zu Stalin und zum Stalinismus wurde auch während der Konferenz thematisiert. Die Regierung distanziere sich  von Stalin, sagte Andrej Sorokin. Nicht Stalin stelle ihr politisches Vorbild dar, sondern eher Pjotr Stolypin. Damit meinte der Verlagsleiter den zarischen Ministerpräsidenten aus den Jahren 1906-1911, der mit Hilfe umfassender Reformen, vor allem im Agrarbereich, und einer repressiven Politik die revolutionäre bzw. terroristische Gefahr im Lande einzudämmen versucht hatte. Im September 1911 fiel Stolypin einem Attentat zum Opfer. Obwohl es sich bei Stolypin um einen autoritären Staatsmann gehandelt habe, lägen zwischen seinem politischen Stil und demjenigen Stalins Welten, so Sorokin.

Warum hat die Sowjetunion den Krieg gegen das Dritte Reich gewonnen?

Den eigentlichen Höhepunkt der Tagung stellte dann der Auftritt des 97-jährigen Petersburger Schriftstellers und Kriegsteilnehmers Daniil Granin dar. Was Granin am Stalinismus besonders verwerflich fand, war dessen Streben, die individuelle Persönlichkeit mit all ihren hellen und dunklen Seiten zu zerstören: „Ich hatte kein Recht zu irren, kein Recht traurig zu sein. Der Mensch war im Stalinismus zu einem kollektivistischen Dasein verurteilt. Wir leiden bis heute darunter“.

Wie konnte dann diese Gesellschaft, der der Stalinismus ihre Spontaneität und Authentizität geraubt hatte, den Krieg dennoch gewinnen? Granin kann dies bis heute nicht verstehen. Der Sieg über das Hitler-Deutschland stellt für den Schriftsteller eine Art Wunder dar. Stalin und seine Gehilfen, die vor dem Krieg geprahlt hätten, dass die Rote Armee unbesiegbar sei, hätten derart katastrophale Fehler gemacht, dass die Niederlage des Landes im Grunde vorprogrammiert gewesen sei. Warum sei es der UdSSR letztendlich doch gelungen, diesem beinahe unvermeidlichen Schicksal zu entgehen und letztendlich, trotz verheerender Verluste, Deutschland zu besiegen? Nicht die politische Führung, sondern in erster Linie die einfachen Soldaten hätten aus der Sicht Granins dieses „Wunder“ ermöglicht – sowohl die Gefallenen als auch diejenigen, die den Krieg überlebt hatten.

Granin berichtete über ein Gespräch, das er mit Helmut Schmidt geführt hatte, bei dem er den deutschen Kanzler fragte, warum Deutschland den Zweiten Weltkrieg verloren habe. Schmidt erklärte die deutsche Niederlage vor allem durch den Eintritt der USA in den Krieg. Granin fühlte sich durch diese Antwort seines Gesprächspartners überrascht. Er war nämlich davon ausgegangen, dass das Schicksal des Krieges sich in erster Linie an der Ostfront entschieden hatte. Und damit war er bekanntlich nicht allein. Ähnlich dachten bereits während des Krieges einige der wichtigsten Akteure der damaligen Ereignisse, nicht zuletzt Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill, die sich seit dem Beginn des deutsch-sowjetischen Kriegs darüber im Klaren waren, dass die Sowjetunion die Hauptlast des Krieges trug. Im April 1942 schrieb Churchill z. B. Folgendes in diesem Zusammenhang: „(Von) der Entwicklung des gigantischen russisch-deutschen Ringens (hängt alles ab)“.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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